Edinburgh

von Alexander Chee

Aus dem Englischen übersetzt von Nicola Heine und Timm Stafe

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 270 Seiten#
Veröffentlichung: März 2020

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Edinburgh

Phi ist zwölf Jahre alt, schüchtern und singt im Knabenchor einer Kleinstadt in Maine. Als es während eines Sommercamps zu sexuellen Übergriffen durch den Chorleiter kommt, schweigt er aus Scham – selbst dann noch, als sein bester Freund das nächste Opfer zu werden droht. Der Chorleiter wird schließlich verhaftet, doch Phi kann sich sein Schweigen nicht verzeihen. Jahre später, inzwischen Schwimmlehrer an einem Internat, wird er erneut mit den schmerzhaften Erlebnissen seiner Vergangenheit konfrontiert.

„Edinburgh“ erzählt ergreifend von der Suche nach Selbstbestimmung im Schatten traumatischer Erfahrungen. Zugleich ist der Roman eine einfühlsame Coming-of-Age-Geschichte, anspielungsreich, voller mythologischer Verweise – verfasst in einer poetischen Sprache, die einen gleichsam hypnotischen Sog entwickelt.

BIOGRAFIE

ALEXANDER CHEE gehört zu den wichtigen neueren Stimmen der amerikanischen Literatur. Edinburgh ist sein Debütroman aus dem Jahr 2001. Sein zweiter Roman, The Queen of the Night erschien 2016. Seine Essays und Literaturkritiken wurden unter anderem in The New Republic, The Los Angeles Times und Slate veröffentlicht. Sein erster Essayband liegt in deutscher Übersetzung unter dem Titel Wie man einen autobiografischen Roman schreibt vor. Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth College und lebt in New York.

LESEPROBE

Prolog

Immer wenn ich Peter nach seinem Tod vermisse, fühlt es sich an, als würde ich beim Baden im See plötzlich ins Kalte geraten, während alle anderen im warmen Wasser herumtollen, unter einer viel zu nahen Sommersonne. Das ist die Antwort auf die Frage, die mir keiner stellt.
Was meine letzte Begegnung mit Peter hätte sein müssen, ist dann doch nicht die letzte. Es sollte noch eine weitere folgen.

Mein Großvater hat im Zweiten Weltkrieg seine sechs älteren Schwestern an die Japaner verloren. Fort, und niemand hat je wieder von ihnen gehört. Trostfrauen, wie die Japaner alle Frauen nannten, die sie für ihre Soldaten stahlen. Nur dass seine Schwestern noch Mädchen waren.

Mein Großvater erzählt mir die ersten Geschichten über Füchse und was für fantastische Tiere sie sind, als ich noch ein Kind bin. Füchse, die Kinder aus höchster Not retten, Füchse mit Zauberringen. Koreanischer Name: Yowu. Als ich viele Jahre später am College davon lese, dass Füchse in Japan als Dämonen gelten, muss ich an ihn denken. Ich frage ihn danach, als ich das nächste Mal zu Hause bin und wir uns sehen.

Alles, was Japaner tötet, mein Freund, sagt er. Fuchs, Bombe, Chinese, alles mein Freund. Inzwischen ist er hager, ausgehöhlt, ein silbergrauer Hutständer und schön wie alles, an dem etwas fehlt. In seinem Zimmer hängt ein Foto von seiner Mutter und seinen Schwestern, schöne Frauen, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen, wie oft bei alten Familien. Von seinen Schwestern ist meinem Großvater nur eine einzige geblieben, geboren, nachdem man die anderen gestohlen hatte. Bis zu seinem Tod wird er diese Schwestern vermissen, die ihn immer zwischen sich hin- und hergeworfen hatten, wenn sie zusammen den Strand entlangliefen.

Nach der Verschleppung seiner Schwestern schickte die japanische Besatzungsmacht meinen Großvater auf die Kaiserliche Schule. Meine erste Sprache ist Japanisch, sagt er mir. Englisch weit weg. Aber okay. Sei wie der Fuchs, sagt er. Okay.Manchmal, unmittelbar nachdem er mir das sagt, sehe ich ihn an und frage mich, wie es wohl ist, den Abdruck seines Feindes so tief in sich zu tragen, bis in die Form hinein, die man seinen Gedanken gibt. Inzwischen weiß ich es.

Fuchsdämonen nehmen häufig die Gestalt wunderschöner Mädchen an. Du verliebst dich in sie, wirst verlassen und stirbst nach dreißig Tagen, weil du ohne sie nicht leben kannst. Sie können Feuerkugeln spucken, Irrlichter geladener Luft. Wenn zwei Füchse heiraten, gibt es einen Tag lang Sonnenschein und Regen zugleich. Das sind Glückstage, denn für diesen einen Tag hat man von Füchsen nichts zu befürchten. Fuchsdämonen sind Gestaltwandler und können auch die Gestalt verflossener, längst verstorbener Geliebter annehmen. Geschichten aus dem alten Japan erzählen von adligen Paaren, die zu einem Picknick im Grünen aufbrechen und hinter einem Hügel auf Füchse stoßen, die fließend die Gestalt wechseln und sich in rituellen Schaukämpfen von Armeen in Burgen und wieder zurück verwandeln. Wenn ein Fuchsdämon von dir Besitz ergreift, kannst du fliegen und durch Wände gehen. Du hörst den Dämon mit einer zweiten Stimme durch dich sprechen.

Die Hofdame Tamamo war eine Füchsin, die sich in einen Mann verliebte und die Gestalt einer Frau annahm, um ihn
heiraten zu können. Da ihre Haare rot blieben, fürchtete man sie, denn im alten Korea galten alle Rothaarigen als Dämonen. Wie alle Fuchsdämonen war sie sehr schön, und ihr Ehemann liebte sie und sie liebte ihn.

Sie schenkte ihrem Mann viele Kinder, ausnahmslos Söhne. Als es in ihrem Dorf zu einer Reihe von Unglücksfällen kam, an denen man ihr die Schuld gab, flohen sie auf eine kleine Insel zwischen Korea und Japan; die Fischer nahmen sie bei sich auf, denn sie hatten schon vieles gesehen und fürchteten sich nicht vor ihr. Hier bin ich sicher, sagte sie zu ihrem Mann, und so war es. Bald hieß es, sie stamme aus der Mongolei, doch als man sie nach der Heimat ihrer Familie fragte, sagte sie, sie käme von dort, wo der Himmel die Erde krümmt.

Als ihr Mann starb und seine Verwandten kamen, um den Leichnam aufzubahren und einzuäschern, war sie es, die das Feuer unter ihm schürte. Die Verwandten sahen ihr ängstlich dabei zu. Würde sie sich in einen Fuchs zurückverwandeln, jetzt, da ihr Mann nicht mehr war, und sie allesamt töten? Würde sie aus ihren Schädeln Helme machen und die Fischer Zu Tode hetzen? Sie lächelte in die Runde, legte die Hand auf das kühle Gesicht ihres Mannes und stieg in die Flammen, die so stark aufloderten, dass sie nicht mehr zu sehen war. Wenn sie wollen, können Füchse Feuerkugeln spucken, und genau das tat sie, und Ehemann wie Ehefrau verbrannten zu Asche.

Ihre Kinder, die jetzt ohne Mutter waren, hatten nie gelernt, Füchse zu sein, und so lebten ihre Nachkommen als gewöhnliche Männer und Frauen unter den Menschen. Die Dorfbewohner fragten sich manchmal, warum die Hofdame Tamamo ins Feuer geflohen war, wo Fuchsdämonen doch Hunderte von Jahren leben können. Einige meinten, sich womöglich geirrt zu haben, vielleicht sei sie gar kein Dämon gewesen. Die Kinder, die man jetzt zuweilen auf dem Markt ihren Fisch verkaufen sah, waren so schön und immer freundlich zu allen. In ihrem Haar war kein Rot zu entdecken, außer im hellsten Sonnenschein, dann sah man sie, rote Fäden zwischen den schwarzen.

Mein Vater erzählt mir ihre Geschichte, als ich auf seinem Kopf, an seiner linken Schläfe eine rote Strähne entdecke. Das ist alles, was von ihr geblieben ist, sagt mein Vater, als er mir die Geschichte erzählt. Und dann zupft er sich das rote Haar aus und gibt es mir.

Als ich meiner blonden Mutter das rote Haar zeige, lacht sie. Die reißt er sich immer aus, sagt sie. Mein Urgroßvater war auch rothaarig, wusstest du das?

Ich habe braunes Haar. Doch in meinem Bart zeigen sich rote Fäden. Ich rasiere sie ab. Ich heiße Aphias Zhe. Aphias war der Name eines Lehrers in Schottland, ein Urahn meiner Mutter vor fünf Generationen. Zhe ist der Name jedes Mannes in der Familie meines Vaters, seit wir vor fünfhundert Jahren im Meer zwischen Korea und Japan zu Fischern wurden. Im Mund meines Freundes Peter wurde aus Aphias Phi, und aus Phi auf dem College Fidschi. Den Namen Phi behielt ich, weil Peter ihn mir gab.

Dies ist eine Fuchsgeschichte. Über einen Fuchs in Gestalt eines Jungen. Und damit die Geschichte eines Feuers.