Einer sucht den Freund

von Hugo Marcus

Hardcover, 480 Seiten
Veröffentlichung: September 2022

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Einer sucht den Freund

Mit Magnus Hirschfeld spazierte er durch den Tiergarten; mit Kurt Hiller war er über Jahrzehnte befreundet: der Schriftsteller Hugo Marcus (1880 –1966), dessen facettenreiche Persönlichkeit der Historiker Marc David Baer 2020 treffend unter den Stichworten „German, Jew, Muslim, Gay“ nachzeichnete.

Das Lesebuch „Einer sucht den Freund & andere Texte“ zollt Marcus’ reicher schriftstellerischer Tätigkeit Tribut. Die Texte „Goethe und die Freundesliebe“ (1949) und „Erinnerung an Magnus Hirschfeld“ (1965) sind ebenso vertreten wie der Versuch einer Harmonisierung des Islams mit der europäischen Geistesgeschichte. So gut wie vollständig ist Marcus’ literarisches Werk versammelt: Von dem frühen Roman „Das Frühlingsglück“ (1900) bis zu „Einer sucht den Freund“ (1961) kreist seine Arbeit um ein zentrales Thema: die Sehnsucht nach dem Freund und die (Un)möglichkeit, wahre Freundschaft zu leben.

BIOGRAFIE

HUGO MARCUS (1880 –1966) stammt aus einer jüdischen Industriellenfamilie in Posen. Er studierte in Berlin Philosophie, konvertierte Anfang der 1920er Jahre zum Islam und wirkte an der ersten Koran-Übersetzung ins Deutsche von muslimischer Seite mit. Von den Nazis als Jude abgestempelt, gelang ihm 1939 die Ausreise in die Schweiz, wo er nach 1945 häufig als Autor in der Zeitschrift „Der Kreis“ vertreten war.

EDITOR'S NOTE
Ein Kommentar von Herausgeber Wolfram Setz

Die Idee zu diesem Lesebuch entstand nach der Lektüre der Biographie über Hugo Marcus (1880–1966), die Marc David Baer im Jahre 2020 vorgelegt hat: „German, Jew, Muslim,Gay. The Life and Times of Hugo Marcus“ (New York: Columbia University Press). Baer gelingt es, die unterschiedlichen Facetten im langen Leben des Hugo Marcus detailreich zu schildern und in das allgemeine Zeitgeschehen einzuordnen. Seine Belege fand er nicht nur in Akten und Briefen, sondern auch in dem vielfältigen Werk des Schriftstellers, Philosophen und Journalisten Hugo Marcus.

Das vorliegende Lesebuch versteht sich als Ergänzung zu dem Buch von Baer, indem es ausgewählte Texte von Hugo Marcus vollständig oder in Auszügen bietet und so einen Eindruck von seiner Sprache und Argumentationsweise vermitteln kann. Aus der Überfülle seiner in vielen Zeitschriften erschienenen journalistischen Arbeiten sowie seinen zahlreichen philosophischen Büchern und Aufsätzen können aus Platzgründen nur wenige Beispiele geboten werden. Das gilt auch für seine Beiträge in der Moslemischen Revue in den 1920er und 30er Jahren. So gut wie vollständig ist dagegen sein literarisches Werk versammelt, von dem frühen Roman „Das Frühlingsglück“ des Zwanzigjährigen bis hin zu „Einer sucht den Freund“ des Achtzigjährigen, der als „Greis“ ausdrücklich „Im Auftrag des Jünglings von einst“ noch einmal seine „Gedanken zum Thema „Das Ewige und der Freund‘“ zusammenfasste und damit das zentrale Thema seines literarischen Schaffens unterstrich: die Sehnsucht nach dem Freund und die (Un)möglichkeit, wahre Freundschaft zu finden und zu leben.

Bei der Beschaffung der Texte stand mir Florian Mildenberger mit Tatkraft und Erfolg zur Seite. Ich danke ihm für sein Interesse an diesem Buch, das er mit so manchem Hinweis gefördert hat.

Wolfram Setz, Sommer 2022

LESEPROBE
Erinnerung an Magnus Hirschfeld

Um die Jahrhundertwende fielen in die Stille damaliger Zeit hintereinander eine Reihe blendender Fanale. Da gab es in England den Prozess zwischen Lord Douglas (Vater) und Oscar Wilde, der letzteren ins Gefängnis brachte. Da starb Excellenz Alfred Krupp, ein nächster Freund des Kaisers, am Abend desjenigen Tages, wo der sozialdemokratische „Vorwärts“ einen verleumderischen Artikel „Krupp auf Capri“ gebracht hatte. Man kann gegen den Paragraphen sein und ihn doch benutzen, um vermeintliche Gegner in den Tod zu treiben. Da gab es den Prozess zwischen dem Fürsten Eulenburg, der dem Kaiser besonders in seiner ersten Regierungsperiode nahe stand, und zwischen Maximilian Harden. Harden, dieser ehrgeizige Gefolgsmann Bismarcks nahm Rache dafür, dass die Entlassung des Fürsten Bismarck von Liebenberg aus erfolgt war, dem Besitz Eulenburgs, wo der Kaiser gerade auf Besuch war.

Ich lernte Magnus Hirschfeld näher kennen, als sein äusserer Erfolg und sein Ruhm auf höchster Höhe stand. Sein Auftreten im Eulenburgprozess hatte ihn damals in aller Welt bekannt gemacht. Nun denn: er sass mir gegenüber wie abwesend. Sprach man ihn an, so dauerte es sehr lange, bis er in das Gespräch zurückkehrte, von weiss Gott was für aufregenden Szenen der grossen Prozesse verfolgt. Nach zwei Stunden war es endlich so weit, dass mein Monolog zum Dialog wurde. In der Folge beschied mich dann Hirschfeld häufig zu sich. Trat ich früh um neun Uhr nach einem Gang durch den wundervoll blühenden Tiergarten bei ihm ein, so hatte er bereits von ½ 6 bis 8 Uhr an seinen Büchern gearbeitet und war frei für die am Paragraphen Gescheiterten aus aller Welt. Gegen Mittag konnte es geschehen, dass er mir vorschlug, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten. Wohin ging dieser Spaziergang? Nun, zur Galerie unter den Linden, die in dem Rufe stand, Treffpunkt der männlichen Prostitution zu sein. Dort sah ich ihn alsbald mit einem in dürftige Eleganz gekleideten jungen Mann verhandeln. Es gab da offenbar eine Erpressersache, und es schien ein Erfolg für Hirschfeld zu werden. Nach 15 Minuten war er wieder bei mir und wir wendeten uns dem eben erschienenen Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch zu, dem wir einen Gegenentwurf gegenüberstellen wollten. Damals begannen wir auch mit den Briefen an hervorragende Männer des gegnerischen Lagers, denen später Besuche geeigneter Personen folgten. Da war Professor Kahl, der Präsident der wichtigsten Partei des damaligen Reichstages. Ihn gelang es in jahrelangen Bemühungen radikal umzustimmen. Hirschfeld fand Gehör beim Staatssekretär der Justiz, der ihm schliesslich riet: „Klären Sie die Massen auf, damit sie uns verstehen, wenn wir den Paragraphen streichen!“

Ich habe von den grossen Sensationsprozessen gesprochen, bei denen Hirschfeld massgeblich als Gutachter beteiligt war und davon, dass sein Ruhm ihm eher Depressionen bereitete. Ich möchte doch erwähnen, dass auch ich Hirschfeld einmal vor Gericht erlebt habe, da ich mit ihm und Professor Karsch-Haack zusammen als Sachverständiger geladen war im Prozess gegen die Zeitschrift „Die Freundschaft“. Die Verhandlung fand an dem Tage statt, wo schon morgens ab 6 Uhr Extrablätter den Mord an Walter Rathenau in die Welt riefen, der beiläufig gesagt, auch dazu verurteilt war, ein Grosser im Felde der Freundschaft zu sein. Die Atmosphäre damals in den menschenleeren Strassen lässt sich nicht schildern. Vor Gericht war es nun so, dass der Vorsitzende sich zwischen den vielen Fachausdrücken der damaligen Sexualmedizin nicht zurecht fand. Man kann sich nicht denken, mit wie behutsamer Klugheit Hirschfeld da eingriff. Er beantwortete nicht nur die Fragen des Gerichtsdirektors völlig durchsichtig, sondern liess auch den ganzen Gehalt an altgriechischen Vorstellungen unmittelbar aus den Vokabeln selbst erstehen, wie kein Philologe es besser vermöchte. Es ist wahr: wir alle fühlten plötzlich unsere Unwissenheit, aber nicht schmerzlich, sondern als schöne Scham. Und dieses Gefühl umfasste gleichermassen Richter, Verteidiger, Sachverständige und den Angeklagten, ja auch den Staatsanwalt, wie wohl zu merken war; es schloss uns alle für Augenblicke zusammen zu einer seltenen Gemütsgemeinde. Hirschfeld aber ging nach einer halben Stunde, ohne es gewollt zu haben, als der unbekränzte Sieger aus dem Verhandlungsraum. Denn die Atmosphäre daselbst war jetzt eine andere geworden als vorher; nachdem der Weg über die grossen ewigen Götter Griechenlands uns gewiesen war.

Lernte man Hirschfeld bei jener Verhandlung als einen Gelehrten kennen, der viel mehr bei sich verschloss, wie er für üblich verriet, so zeigte sich die Frische seiner Aufnahmefähigkeit bei einer anderen, mir unvergesslichen Gelegenheit. Ich muss davon sprechen, dass auf der grossen Kunstausstellung ein Portrait zu sehen war, das die bekannte Malerin Julie Wolf-Thorn von mir machen zu sollen geglaubt hatte. Hirschfeld erinnerte sich ihrer aus irgend einer Begegnung und verlangte das Bild in meiner Begleitung zu sehen. Ich veranstaltete nun stillschweigend für ihn eine Führung durch die Ausstellungssäle, wie ich sie sonst nur einem grösseren Publikum darbot. Ich zeigte ihm alle jene Bilder, die eine mir vorbildlich und zukunftsträchtig erscheinende Kunstgesinnung verrieten. Mein Zeigen war ein Bekennen. Am Abend fand ich zu meinem Staunen einen Brief unter meiner Post von dem Manne, den ich doch erst mittags nach ausführlichem Gespräch verlassen hatte. Hirschfeld war bei grösstem Postempfang notgedrungen seinerseits sehr sparsam mit Briefen. Nun aber hielt ich acht eng gedrängte und eigenhändig geschriebene Seiten von ihm in der Hand. Seinem Dank „für so vieles ihm erschlossene Neue“ fügte er persönliche Kunstbekenntnisse bei, die durch die Ungunst der Umstände eingebüsst zu haben, mir heute noch ein bitterer Schmerz ist. Aber noch mehr. Er bedankte sich auch dadurch, dass er mich mit dem grossartigen Liedergestalter Ludwig Wüllner bekannt machte, weil er gefühlt haben mochte, dass ich mir diese Bekanntschaft wünschte. Wie sollte ich auch nicht, da schon dem Sechzehnjährigen Ludwig Wüllners Meisterschaft etliche der schönsten Schubert- und Schumannlieder zu lebenslangem Besitz ins Gedächtnis gesungen hatte.

Magnus Hirschfeld erlag am 14. Mai 1935 in Nizza einem Schlaganfall – in der Emigration, wohin ihn das schmachvolle Unrecht verwiesen hatte. Es wird die schönste Aufgabe bleiben, sein grosses Werk der Befreiung international und wirksamer noch, als es ihm damals gelingen konnte, fortzusetzen.

Diesen Text veröffentlichte Hugo Marcus 1965 unter dem Pseudonym Hans Alienus in der Zeitschrift „Der Kreis“ (Ausgabe 33, Heft 5, S. 6–7) anlässlich des 30. Todestages von Magnus Hirschfeld