
Broschur, 192 Seiten
Veröffentlichung: September 2025
In der 26. Ausgabe des Jahrbuchs der Homosexualitäten setzen sich vierzehn Autorinnen und Autoren mit aktuellen Debatten, Forschungsprojekten und Publikationen rund um das Thema Homosexualität und dessen Geschichtsschreibung auseinander. Die Schwerpunktbeiträge des Bandes stammen in diesem Jahr von Historikerin Anja Menger, Kulturwissenschaftlerin Ewelina Woźniak-Wrzesińska und Marcus Velke-Schmidt, Vorsitzendet im Centrum Schwule Geschichte Köln. Ihre Texte nehmen öffentliche Diffamierung, soziale Stigmatisierung und strukturelle Gewalt gegen queere Menschen an Hochschulen in den Blick. „Invertito“ ist das Jahrbuch des Fachverbands Homosexualität und Geschichte e. V.
Aus dem Inhalt:
Anja Menger: Visualisierungen-wider-Willen: Die mediale Konstruktion von bodies in doubt in Virchows Archiv (1847–1960)
Ewelina Woźniak-Wrzesińska: Zwischen Öffentlichkeit und Medizinwissenschaft: Die Entkriminalisierung von Homosexualität im polnischen Strafrecht von 1932
Marcus Velke-Schmidt: „Die Gültigkeit des Gesetzes über die Führung akademischer Grade […] wird heute von niemandem bezweifelt.“ Zur Aberkennung akademischer Titel bei Verurteilung wegen §§ 175/175a StGB an der Universität Bonn in der frühen Bundesrepublik Deutschland
Manfred Herzer-Wigglesworth: Angst, Sex und Gewalt. Über einige Motive bei Schernikau, Helfer und l’Horizon
Weitere Beiträge:
Karl-Heinz Steinle: Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG): Jahrestagung 2022: Aspekte der queeren Geschichte Osteuropas am 1. Oktober 2022 und weiterer Austausch
Karl-Heinz Steinle: „100 Jahre geschlechterdivers in Baden-Württemberg?! Lebenswelten und Verfolgungsschicksale von transgender, trans- und intersexuellen Menschen im deutschen Südwesten von 1920 bis 2020“: Ein Werkstattbericht
Karl-Heinz Steinle: Nachruf. Zum Wirken und Weiterwirken von Jens Dobler (1965–2024) Heike Schader: Zum Tod von Gigi Martin
Liebe Leser:innen,
öffentliche Diffamierung, soziale Stigmatisierung und strukturelle Gewalt an Hochschulen, teils in Verbindung mit juristischer Verfolgung – unter diesen Schlagworten steht das vorliegende Jahrbuch „Invertito 26“.
In ihrem Beitrag zur medialen Konstruktion von „bodies in doubt“ in der medizinischen Zeitschrift „Virchows Archiv“ erörtert Anja Menger Formen der Gewalt im methodischen Vorgehen von Ärzten. Im Fokus stehen 55 Aufnahmen geschlechtlich nonkonformer Körper, die zwischen 1847 und 1950 im Magazin veröffentlicht wurden. Anhand dieser untersucht Menger die gewaltsame Praxis ärztlicher Untersuchung und Beweisführung an Menschen, deren „Körper“ – von wissenschaftlicher wie gesellschaftlicher Seite – in „Zweifel“ gezogen wurden. Dabei setzt die Autorin die im Untersuchungszeitraum geführten medizinischen Diskurse über Geschlecht in Verbindung mit visuellen Praktiken, die maßgeblich durch die Entwicklung der Fotografie geprägt waren. In diesem Zusammenhang verweist Menger auf die Entstehung eines facheigenen Genres, das sich an Elementen eines breiten Spektrums an Bildtraditionen von der bürgerlichen Portraitfotografie über den Akt bis zur ethnografischen und Kriminalfotografie bediente. Oftmals, so Mengers Befund, entstanden die Bilder ohne Einwilligung der Betroffenen und reproduzieren einen eindeutig patriarchalen Blick auf geschlechtlich nonkonforme Körper als ‚abnorm‘ und ‚korrekturbedürftig‘. Da diese Bilder – aufgrund ihrer ebenfalls von Menger aufgezeigten Nähe zur Tradition von ‚Freakshows‘ – überdies neben dem Erkenntnisinteresse immer auch die Sensationslust der Betrachtenden befriedigten, widmet sich Menger der ethischen Frage eines angemessenen wissenschaftlichen Umgangs mit dem Bildbestand. Ob derartige Bilder gezeigt werden sollen, hänge nicht zuletzt von der Frage des Handlungsspielraums und der Selbstbestimmung der Abgebildeten ab.
Diese zu bestimmen, ist indes kein einfaches Unterfangen, können Betroffene vor allem bei älteren Bildbeständen – wie dem vorliegenden – nicht mehr befragt werden. In der Untersuchung von Bildern sind also spezielle methodische Herangehensweisen gefragt, deren Weiterentwicklung Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist. Mengers Artikel gibt hierzu wichtige Impulse.
Ewelina Woźniak-Wrzesińska stellt in ihrem Beitrag den komplexen Zusammenhang von politischer Diffamierung, gesellschaftlicher Ächtung und rechtlicher Reform heraus. Konkret untersucht sie den politischen Diskurs über die Entkriminalisierung homosexueller Handlungen im polnischen Strafrecht von 1932. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rechtstraditionen infolge der dritten polnischen Teilung sah sich die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Zweite polnische Republik mit der Herausforderung der Vereinheitlichung ihrer Gesetzgebung konfrontiert. Zur Harmonisierung des Strafrechts, das je nach Region deutsch, österreichisch oder russisch geprägt war, richtete die polnische Regierung 1919 eigens zu diesem Zweck eine Kodifizierungskommission ein, deren Ergebnis das 1932 in Kraft getretene polnische Strafgesetzbuch war. Darin wurden homosexuelle Handlungen erstmals nicht mehr als Straftatbestand kriminalisiert. Wie Woźniak-Wrzesińska aufzeigt, war der langwierige Entscheidungsprozess der Kommission in dieser Frage nicht allein von juristischen und medizinischen, sondern im Wesentlichen auch von moralischen Erwägungen durchzogen. Angesichts aufsehenerregender Prozesse um prominente Persönlichkeiten bezweckte die Kommission, so die These der Autorin, mit der Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen vor allem die Vermeidung öffentlicher Skandale. Eine grundsätzlich liberalere Einstellung gegenüber homosexuellen Lebensweisen sei in der polnischen Öffentlichkeit damit jedoch nicht einhergegangen.
Mit ihrer Untersuchung leistet Woźniak-Wrzesińska indirekt auch einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der juristischen Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in Polen, die aufgrund der Hartnäckigkeit nationaler Mythen zum Teil auch heute immer noch erschwert wird. Deutlich wird dies nicht zuletzt anhand der von der Autorin aufgezeigten Bedienung homosexuellenfeindlicher Vorurteile in der polnischen Medienöffentlichkeit zum Zwecke der eigenen Abgrenzung gegenüber den Besatzungsmächten bis zur Unabhängigkeit 1918 und zur (Wieder-)Herstellung eines patriotischen Selbstbewusstseins in der Zwischenkriegszeit.
Mit seinem Beitrag zur Aberkennung akademischer Titel aufgrund der §§ 175/175a StGB a.F. an der Universität Bonn in der Zeit des Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik schließt Marcus Velke-Schmidt eine Lücke in der Aufarbeitung der juristischen Verfolgung homosexueller Männer in der deutschen Geschichte. Gleichzeitig bietet er ein weiteres eindringliches Beispiel für die Fortschreibung struktureller Gewalt, die öffentliche Einrichtungen und Behörden auch noch nach 1945 gegen homosexuelle Männer ausübten. Anknüpfend an Fallstudien zu den Universitäten Hamburg, Hannover, Heidelberg und Tübingen verweist Velke-Schmidt auch für den Hochschulstandort Bonn auf eine Kontinuität juristischer Verfahren zur Aberkennung akademischer Titel – wie des Doktortitels –, zur Exmatrikulation von Studenten oder zur Kündigung von Mitarbeitern. Für die Verfahren verantwortlich zeichnete das universitätseigene Ehrengericht, das in der NS-Zeit auch durch die Verfolgung politischer Gegner:innen des Nationalsozialismus auf sich aufmerksam machte. Für internationale Empörung sorgte etwa die Aberkennung der 1919 an Thomas Mann verliehenen Ehrendoktorwürde im Jahre 1936.
Während die Universität im Falle Manns nach 1945 alsbald um Wiederherstellung des eigenen Ansehens bemüht war, indem sie die Ehrendoktorwürde Manns erneuerte, mussten homosexuelle Universitätsangehörige und Absolventen lange weiterhin den Verlust von Titeln und Anstellung befürchten und noch viel länger auf eine Rehabilitation warten. Neben den strafrechtlichen Konsequenzen – Geldstrafe oder Haft – verdeutlichen die bis mindestens in die 1960er Jahre einberufenen Verfahren der universitären Ehrgerichtsbarkeit, dass eine Verurteilung aufgrund des §175 alle Lebensbereiche betraf und in nicht wenigen Fällen zum Verlust der bürgerlichen Existenz führte. Die in der NS-Zeit geschaffenen Rechtsnormen, die für die Durchführung solcher Verfahren angewendet wurden, galten dabei auf Landesebene bis in die 1980er Jahre fort. Auch wenn die Universität Bonn ab den 1990er Jahren Maßnahmen zur nachträglichen Rehabilitierung von NS Opfern einleitete, stellt Marcus Velke-Schmidt die Frage nach einer moralischen wie juristischen Aufarbeitung der Aberkennungspraxis bei homosexuellen Männern. Dabei scheut er sich mit Blick auf andere Straftatbestände – wie auf den § 174 (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) – auch nicht, die Komplexität dieser Aufgabe aufzuzeigen.
In den weiteren Beiträgen bespricht Manfred Herzer-Wigglesworth anhand dreier ausgewählter Romane – Kim de l’Horizons „Blutbuch“ aus dem Jahr 2022, Joachim Helfers 1994 erschienenes Werk „Du Idiot“ und Ronald Schernikaus „Kleinstadtnovelle“ von 1980 Fragen zum Zusammenhang von Angst, Sex und Gewalt als Motive in der zeitgenössischen LSBTIQ-Literatur.
Karl-Heinz Steinle stellt in einem Werkstattbericht das aktuelle Modul III des seit 2016 an der Universität Stuttgart laufenden Forschungsprojektes „Lebenswelten, Repression und Verfolgung von LSBTTIQ* in Baden und Württemberg im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik“ vor. Standen bisher die Lebenswelten homo- und bisexueller Männer in Form von Subkultur und Netzwerken (Modul I) sowie die antihomosexuellen Repressions- und Verfolgungsstrukturen (Modul II) im Fokus, sind es im aktuellen Modul die Lebensgeschichten und Erfahrungen von Inter*, Trans* und non binären Personen. Nachgeliefert wird zudem Steinles Bericht zur FHG-Tagung über die Geschichte der Homosexualitäten in Osteuropa in Berlin 2021, über die die Autor:innen des vorigen Jahrbuches gewonnen werden konnten. Der geografische Fokus liegt im aktuellen Heft wieder auf dem Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik Deutschland. Anknüpfend an das vorige Heft mit Schwerpunkt Osteuropa konnte „Invertito“ jedoch auch einen Beitrag zur Geschichte der Homosexualitäten in Polen gewinnen.
Mehr oder minder gemein ist allen Hauptbeiträgen die zeitliche Verortung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um das breite Spektrum an Themen, Regionen und Epochen in der Forschung zur Geschichte von LSBTIQ* noch besser abzudecken, sind wir stets bestrebt, neue innovative Beiträge zu veröffentlichen. Wie auch in den vorigen Jahren laden wir daher alle Interessent:innen herzlich dazu ein, Vorschläge für Schwerpunktbeiträge einzureichen. Ebenso willkommen sind kleine Beiträge – etwa in Form von Tagungs- und Ausstellungsberichten, Vorstellungen anstehender oder laufender Forschungsprojekte, Quellenbesprechungen etc. – sowie auch Rezensionen zu aktuellen Veröffentlichungen im Bereich der LSBTIQ*-Geschichte. Besonders ermutigen möchten wir im Sinne einer größeren inhaltlichen Vielfalt zur Einreichung von Beiträgen zu bisher unterrepräsentierten Themen, Epochen und Regionen.
Wir wünschen eine spannende und erkenntnisreiche Lektüre!
Die Redaktion