Tiepolo Blau
TIEPOLO BLAU
Tiepolo Blau

Tiepolo Blau

von James Cahill

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 440 Seiten

Veröffentlichung: Oktober 2024

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Tiepolo Blau

Cambridge, 1994. Nachdem er zu Studienzeiten von einem Kommilitonen zurückgewiesen wurde, hat der Kunsthistoriker Don Lamb der Liebe abgeschworen und sich ganz seiner Karriere verschrieben. Mit Anfang 40 führt er ein asketisches Professorenleben zwischen Hörsaal, Bibliothek und dem High Table, wo am Abend die Intrigen des Lehrkörpers gesponnen werden. Außerdem arbeitet er wie besessen an einem Buch über das Blau des Himmels in den monumentalen Fresken von Barock-Maler Giovanni Battista Tiepolo. Doch dann kommt der Knacks. Als im Peterhouse eine moderne Kunstinstallation aus Müll errichtet wird, ist Don dermaßen empört darüber, dass er seinem Gelehrten-Reservat den Rücken kehrt und stattdessen die Leitung eines Museums in London übernimmt. Damit bricht das wahre Leben über ihn herein – in Gestalt des jungen Künstlers Ben, der ihn in die anarchische Künstlerszene der Hauptstadt und das Nachtleben von Soho einführt. Der Perspektivwechsel lässt den sonst beherrschten Professor zunächst aufblühen, erschüttert aber auch seine bisherige Existenz in ihren Grundfesten. Dons Schwärmerei für Ben wird zum Drahtseilakt und sein Neuanfang zu einer immer verworreneren Reise ins Ungewisse.

James Cahill war selbst einige Jahre Dozent in Cambridge und kennt die Welt, von der sein Debütroman erzählt, sehr genau. So ist Tiepolo Blau nicht nur die augenzwinkernde Coming-of-Age-Geschichte eines kauzigen Intellektuellen in der Midlife-Crisis, sondern auch ein liebevolles Porträt der Elfenbeinturm-Existenz eines Stubengelehrten. Mit viel Feingefühl, Witz und Ironie erzählt Cahill, wie sein stoischer Protagonist sich selbst neu kennenlernt und dabei zunehmend den Halt verliert. „Tiepolo Blau“ ist ein großer Roman über die Kunst, den Sex und das wahre Leben – düster wie ein Herbsttag in Cambridge, rätselhaft wie das Labyrinth der Bars von Soho, erhebend wie das Blau des Himmels bei Tiepolo.

Tiepolo Blau
TIEPOLO BLAU

BIOGRAFIE

JAMES CAHILL brachte fünfzehn Jahre Wissenschaft und Kunst unter einen Hut, indem er neben dem Forschen und Schreiben bei einer Galerie für zeitgenössische Kunst arbeitete. Seine Artikel erschienen u. a. im Daily Telegraph, dem Times Literary Supplement und der Los Angeles Review of Books. „Tiepolo Blau“ ist sein erster Roman. Die englische Originalausgabe erschien 2022 und war für den Author’s Club Best First Novel Award nominiert. Cahill lebt in London und Los Angeles.

LESEPROBE
AUSZUG AUS „TIEPOLO BLAU“ VON JAMES CAHILL

Stockrosen wuchern an den Torpfosten der Brockwell Collection, ihre schweren Knospen sehen aus wie Satellitenschüsseln. Ein Gewirr von Stimmen und klingenden Gläsern entflieht in die Abendluft.

Don und Val gehen die Auffahrt hinauf und betreten die Lobby. Verärgert stellt Don fest, dass Ben nicht da ist. Das Publikum ist wohlhabend, mittelalt und – wie er bei einem schnellen Rundblick feststellt – mittelklug. Die Gespräche haben einen wissenden und humorvollen Ton. Es ist die Art polierter Gesellschaft, wie Val sie mag. Tabletts voller Champagnerflöten schweben vorbei und verbreiten ein blasses Leuchten. Don schafft es, ein Glas zu ergattern. Vals Augen leuchten auf und seine Lippen teilen sich – die Anzeichen des Erkennens.

„Don, darf ich dich vorstellen …“

Von Val vorgestellt zu werden, ist wie eine Serie von Attentaten – mit präzisem Timing und ohne Erbarmen. Sobald Don ein Gespräch beginnt, schiebt Val ihn weiter.

„Und dies ist …“
„Ich möchte dich unbedingt …“
„Und bestimmt kennst du …“

Vals Munition ist unerschöpflich: Das Oktogon und die angrenzenden Säle quellen über von bedeutenden Menschen. Don treibt auf Wellen lächelnder Schlagfertigkeit dahin. Jemand macht einen Witz, und er weiß nicht, worum es geht, oder begreift es zu spät. Immer wieder durchquert Maud sein Blickfeld. Sie gleitet mit Leichtigkeit zwischen den Gruppen hin und her, ihr silberner Schmuck funkelt im selben Takt wie ihre Brillengläser, ihre Intonation hebt oder senkt sich angemessen.

Val wirbelt Don herum und auf ein junges Paar zu. Sie umarmen Val freundschaftlich, während Don sich zurückhält. Die Frau hat dunkle braune Augen und ihr ebenfalls dunkles Haar fällt in lockeren Wellen. Ihr Kleid ist eine tief ausgeschnittene Säule aus silbrigem Blau und lässt ihre schlanken Arme frei. Sie fängt Dons Blick ein und hält ihn unerbittlich, bis er sich abwendet.

Der Mann bestrickt Val mit irgendeiner putzigen Geschichte. Er sieht vertraut aus – groß, athletisch, mit breitem Lächeln und dunkelblondem Haar, das er dynamisch zurückgekämmt trägt. Er ist von einer Aura leichtfüßiger Tugend umgeben – jemand, der vom Leben noch nicht gebeutelt wurde und weder Zynismus noch Berechnung kennt.

„Don, dies ist Michael Ross“, sagt Val.

„Sehr erfreut“, sagt Michael. Seine Zähne sind fast makellos. Er trägt einen marineblauen Blazer. Seine Hose ist von tollkühnem Weiß. Don schaut ihm in die Augen und spürt, dass er einem Phantom von kontrollierter Kraft gegenübersteht.

„Und Anna Ross“, sagt Val mit einer schwungvollen Handbewegung.

Don schüttelt ihnen nacheinander die Hände und ist erfreut, geehrt und natürlich begierig, sie näher kennenzulernen. Dies ist also Michael Ross, der bald sein fähiger Assistent sein wird. Jetzt kann Don dem Namen ein Gesicht zuordnen. Aber das Gesicht selbst ist ihm mehr als nur ein wenig vertraut. Es ist von handfester, apollinischer Attraktivität.

„Sind wir uns früher schon begegnet, vielleicht in Cambridge?“

„Unwahrscheinlich“, sagt Michael gut gelaunt. „Ich habe in Kalifornien studiert, in Berkeley, und bin von dort direkt zum Frick.“

Das erklärt das amerikanische Näseln in seinem britischen Akzent – ein gebildeter Akzent wie Dons, aber weniger penibel und weniger hochnäsig.

„Ach, tatsächlich“, sagt Don, hochnäsig.

„Aber ich bin Ihnen viele Male sozusagen auf dem Papier begegnet. Ihre Arbeit über Palladio …“

„Oh, Sie sind zu freundlich“, unterbricht ihn Don, ohne zu warten, bis Michael seinen Gedanken zu Ende führt. Die Augen der Frau ruhen noch immer auf ihm. Ohne zurückzublicken spürt Don ihre Aufmerksamkeit.

„Und Anna ist Cellistin!“, ruft Val dazwischen, als wäre das die wirklich bedeutende Tatsache, die fundamentale Wahrheit, um die sie die ganze Zeit drumherum geredet hätten.

„Nun – ja. Zurzeit trete ich nur gelegentlich auf“, sagt sie mit zögerndem Lächeln.

„Soweit ich weiß, waren Sie bei den New Yorker Philharmonikern?“, fragt Don.

„Richtig.“ Ihre Augen weiten sich. „Das war ich.“

„Du findest neue Aufgaben“, sagt Michael. Die Bemerkung kommt etwas schnell, ein wenig zu selbstbewusst. Die Unsicherheit kehrt in Annas Augen zurück.

„Kommen Sie häufig ins Brockwell, Mrs Ross?“, fragt Don.

Anna lacht und lässt ihre Zurückhaltung fallen. „Das kann ich nicht behaupten. Wir sind erst seit drei Wochen in London. Warum, Sie etwa?“

Don staunt über diese eigenartige Frage. Ihm ist klar, dass sie ihn auf den Arm nimmt, und doch hat ihre Unfähigkeit, ernst zu bleiben, etwas Reizendes.

„Wir möchten Sie gern zum Essen einladen, Professor Lamb“, sagt Michael. „Vielleicht nach meinem Vorstellungsgespräch.“

„Eine reine Formsache!“, flötet Val.

„Sagen Sie Don zu mir. Es wäre mir eine große Freude. Wo wohnen Sie?“

„Wir sind gerade in die Craxton Road gezogen“, sagt Anna.

„Dann sind wir Nachbarn.“

Ihm brummt der Kopf. Die Rosses sind ganz eindeutig nach London gezogen, weil Michael davon ausgeht, diese Stelle zu bekommen. Anna musste ihre opfern. Und sie sind schon drei Wochen hier. Er erkennt Vals ordnende Hand. Bevor er weiter darüber nachdenken kann, wird es plötzlich still im Saal.

Er hört ein rhythmisches Pochen und Knarren. Durch einen Spalt in der Menge erblickt er die greise Gestalt von Maurice Forster, der sein Pflegeheim verlassen hat und mit wackliger Entschlossenheit ein Gehgestell über den Marmor des Oktogons voranschiebt. Forster scheint auf die Größe eines Kindes geschrumpft zu sein: Der Filzanzug schlottert um seine Gestalt wie ein geliehenes Kostüm. Zu beiden Seiten stützend, führen ihn Maud und eine Frau in Schwesterntracht – knarrend und pochend – in die Mitte des Raums. Ein irres Grinsen liegt auf Mauds Gesicht.

Es wurde beschlossen, dass der alte Mann – zu vergesslich, um eine Rede zu halten – als Begrüßungsansprache seine Lieblingsstelle von Shakespeare lesen wird. Forster zieht ein zerknittertes Blatt Papier aus dem Jackett. Er beginnt mit schwacher Stimme zu rezitieren. Don bahnt sich den Weg nach vorn und versteht nun die Worte.

Der König will sein Wesen nachts hier treiben.
Warnt nur die Königin, entfernt zu bleiben,
Weil Oberon vor wildem Grimme schnaubt,
Dass sie ein indisch Fürstenkind geraubt,
Als Edelknabe künftig ihr zu dienen;
Kein schöners Bübchen hat der Tag beschienen.

Forster liest mit qualvoller, stockender Mühe. Während Zeile auf Zeile folgt, erlebt Don ein schleichendes, umfassendes Déjà-vu. Nicht nur, dass er die Stelle wiedererkennt. Die Worte sind hoch aufgeladen und dringen wie ein Menetekel in sein Bewusstsein.

Und eifersüchtig fordert Ob’ron ihn,
Den rauen Forst als Knappe zu durchziehn;
Doch sie versagt durchaus den holden Knaben,
Bekränzt mit Blumen ihn, will nur an ihm sich laben.

In Gedanken sieht er wieder die schreckliche Gestalt im weißen Anzug vor sich, die sich ihm im Bus aufdrängt und ins Museum folgt. Er hört kaum zu, als Maud dem zitternden Forster gegenübertritt und Worte des Dankes und des Lobes an ihn richtet. Sie schließt mit dem Ausdruck tief empfundener Dankbarkeit dem Hauptsponsor der Ausstellung gegenüber, Sir Ronald Braun, bedauerlicherweise indisponiert und nicht in der Lage, anwesend zu sein. Applaus brandet auf und Maurice Forster wird aus dem Saal geführt.

Das Publikum verteilt sich wieder und das Stimmengewirr steigert sich zu einem begeisterten Geplapper. Kaum jemand beachtet die Ausstellung – zu viele Gespräche müssen geführt werden. Don findet sich ohne Vals führende Hand wieder, endlich allein, vor Junge, von einer Eidechse gebissen. Er beugt sich vor, um die Spitzen der gekrümmten Finger des Jungen zu betrachten, und schafft sich so seine eigene Oase – eine schützende Blase, in der ihn niemand stört, zumindest für eine Minute.

Doch im selben Moment dringt eine Stimme an sein Ohr, nicht viel mehr als ein Flüstern.

„Sieht echt wie ’n Flittchen aus.“

Er schreckt vom Gemälde zurück.

„’n echtes Flittchen“, wiederholt Ben, lauter.

Don runzelt die Stirn, merkt aber, dass er lächeln muss: „Bitte nicht so laut – das ist die feierliche Eröffnung. Die Leute … Ich dachte, du wärst nicht da.“

„Kommt mir nicht sehr feierlich vor.“ Ben wendet sich wieder dem Bild zu. „Ich glaube, er war mehr als nur eine Muse. Schau dir die Augen an. Wie das Hemd die Schulter entblößt. Das sieht man doch.“ Er schaut Don lustig an. „Oder nicht?“

Don tritt näher an ihn heran. „Ich glaube schon. Hör zu, ich muss dir was sagen. Es geht darum, dass du heute Nacht nicht im Haus …“

Bens Aufmerksamkeit ist zur Seite gewandert und das lustige Funkeln aus seinen Augen verschwunden. Don dreht sich um und sieht mit panischem Schrecken, dass Val vor ihnen steht.

„Kennen wir uns?“, fragt Val mit eisigem Lächeln.

Don spürt, wie sein eigenes Lächeln zur Grimasse erstarrt. Hat Val die letzten Worte gehört? Er fragt sich, ob er gleich hier, in dieser Sekunde, enthüllen soll, dass Ben bei ihm übernachtet. Ein ersticktes Lachen bricht sich Bahn.

Vals Frage – kennen wir uns? – steht noch in seinem Blick geschrieben, als er erst Don, dann wieder Ben anschaut. Er verarbeitet die Situation – Spekulation, Vermutung, Ablehnung, alles im Bruchteil einer Sekunde. Vom Schrecken gelähmt, ist Don doch verblüfft vom Anblick der beiden: um Generationen voneinander entfernt, instinktiv verfeindet und einander dennoch unwahrscheinlich ähnlich. Es ist, als würde der ältere Mann misstrauisch sein agiles jüngeres Selbst betrachten. Ben wendet den Blick von Val ab, ohne zu antworten.

„Ihr hättet die Ausstellung Caravaggios Betthäschen nennen sollen“, sagt er zu Don. „Das waren sie schließlich.“

Er zuckt die Schultern und verschwindet in der Menge. Val schaut Ben nach.

„Wer auch immer das war, ich vermute, hier sind Gäste, die deine Aufmerksamkeit mehr verdienen.“ Er sieht Don von der Seite an. „Was ist los? Geht es dir gut?“

„Er hätte nicht hier sein sollen“, brummt Don. „Er ist eine der Hilfskräfte.“

„Du liebe Güte. Reiß dich zusammen, Don.“ Val sieht sich um. „Ah, Laetitia!“ Er rauscht davon, die Hände ausgestreckt wie juwelengeschmückte Rammböcke.

Don folgt ihm. Seine Verlegenheit ist zu Wut geworden, aber er kann nicht entscheiden, ob sie sich gegen Ben, gegen Val oder gegen ihn selbst richtet. Als er sich umschaut, sieht er, dass Ben ein Gespräch mit Michael Ross begonnen hat. Sie lachen. Sein Herz schrumpft ein kaum wahrnehmbares bisschen. Anna Ross steht bei ihnen, aber ihre Augen suchen den Saal ab und treffen seine, während sie ihnen zuhört (oder so tut). Er nimmt an, sie ist Mitte dreißig. Vielleicht älter. Das Blau ihres Kleides verleiht auch ihrem dunklen Haar einen leichten Blauton.
Val zieht ihn in einen Kreis strahlender Gäste. Es klingt schrill, wie sie ihn Professor nennen. Heute Abend kommt er sich wie das Gegenstück seines alten Selbst vor. Das Gespräch verebbt. Don blickt in die Gesichter um sich herum. Ihm geht auf, dass alle eine Ansprache von ihm erwarten. Er verkrampft sich vor Verlegenheit.

„Ich spreche morgen früh im Radio“, sagt Val schließlich, an die Gruppe gewandt.

„Wirklich?“, fragt Don.

„Ja, bei ‚Perspektivwechsel‘ mit Robin Hands. Bist du da nicht auch schon gewesen? Wir diskutieren britische Nachkriegsarchitektur. Die Betonrevolution, um genau zu sein. Die Festival Hall, die Hayward Gallery, das Barbican Centre. Wann ist Modernismus ein Zeitstil geworden? Faszinierendes Thema!“

„Oh, wie wunderbar“, näselt jemand.

„Karbunkel“, sagt ein Mann im dreiteiligen Anzug.

„Ich nehme an, du wirst dich skeptisch äußern“, sagt Don.

„Warum skeptisch, Don?“ Val erlaubt seinen Augen einen kleinen Tanz entlang ihres Publikums.

„Schließlich bist du einer der großen Verteidiger der klassischen Tradition.“ Don versucht zu lachen.

„Du glaubst, weil ich Palladio bewundere, muss ich den Beton automatisch verachten?“

Val gibt sich den Anschein vollständiger Unschuld. Don räuspert sich. Er wird rot. Val hat bisher alle genannten Gebäude kritisiert, da ist er sich sicher. Val streckt einen Finger aus und streicht über Dons Revers.

„Man findet so viel klassische Schönheit an Orten, wo man es am wenigsten erwartet – an Gebäuden, vor denen wir instinktiv zurückschrecken. Zum Beispiel ist das Barbican Centre in meinen Augen eine antike griechische Zitadelle – ein mykenischer Palast, reduziert auf eine brutalistische Hülle. Geh in seinen Höfen spazieren, und du befindest dich im Heim Agamemnons – Megaron, Propylon, alles da.“

Man hört ein Durcheinander von Gelächter und Zustimmung.

„Totale Karbunkel“, sagt der Mann im Anzug.

Don geht weiter, perplex und wütend. Valentine Black, der Erz-Neoklassizist, verteidigt Betonscheußlichkeiten: Das ergibt keinen Sinn. Val lügt. Entweder das, oder die Wirklichkeit hat ein neues Gesicht. Er leert sein Champagnerglas mit einem letzten Schluck.

Als sich die Menge verläuft, betritt er durch eine schmale Tür die runde Kammer, in der Montague Brockwell beigesetzt wurde. Ben steht allein neben dem Marmor-Sarkophag.

„Hör zu, Ben. Val kommt heute Abend zurück – es ist sein Haus. Du kannst nicht bleiben.“

Ben blickt auf, aus seinen Träumen gerissen. Er wirkt dünn und geisterhaft in der dunklen Gruft.

„Val … Dein Freund? Ich glaube nicht, dass er mich mag.“

„Na, das ist wohl kaum überraschend. Warum zum Teufel hast du das gesagt?“

„Was gesagt?“

„Was du Professor Black ins Gesicht gesagt hast. Über Caravaggios Jungen.“

„Oh, das. Um zu sehen, wie du reagierst, nehme ich an.“ Bens Ernst schwindet. Er lehnt sich an den Sarkophag und spreizt die Finger auf dem Marmordeckel. „Komm schon, Don. Tu nicht so, als wärst du wütend. Das Haus gehört also ihm. Gehört ihm auch der rote Schlafanzug?“

Don macht einen Schritt nach vorn. Also hat Ben ihn in der ersten Nacht tatsächlich ausspioniert. Ben steht ihm aufrecht gegenüber. Don kann Wein in seinem Atem riechen. Eine Sekunde lang sind sie sich so nah, dass sich ihre Gesichter beinahe berühren. Dann neigt sich Ben ein wenig zurück und lächelt.

„Tu nicht so, als würde es dir was ausmachen“, flüstert er. Don tritt zurück, sein Kopf schwimmt.

„Ich schlafe unten auf dem Sofa“, sagt Ben.

„Nein, ich glaube nicht …“

Aber Ben hat sich umgedreht und das Mausoleum verlassen; Don bleibt mit den Überresten Montague Brockwells allein. Bedrückt kehrt er ins hellere Licht des nächsten Saals zurück. Gäste sind zu verabschieden. Und dann …

Die Menge bröckelt. Val steht am Eingang und spendet den Gästen letzte Worte.

„Ich weiß, Mrs Penrose, war es nicht ergreifend ? Und können Sie glauben, dass Maurice im nächsten Frühling neunzig wird?“

Don kommt dazu und stellt sich zu ihm.

„Ich nehme an, du übernachtest heute im Haus?“

„Oh nein“, erwidert Val, während er dem Strom der Gehenden zuwinkt. „Ich übernachte vor Rundfunkauftritten immer im Albany – in John Richardsons Räumen. Das ist viel bequemer.“

Er beugt sich vor, um eine Dame zu küssen.

„Hör zu, Don“, er senkt die Stimme und legt einen Arm um Dons Rücken. „Ich wollte es heute Abend nicht ansprechen, aber es beschäftigt mich. Es hat hier letzte Woche wohl einen Störfall gegeben. Die Polizei musste gerufen werden.“

„Ja – ein Penner kam herein und machte eine Szene. Die Venus-Statuen haben Schaden genommen, aber sie werden von Mr Price restauriert. Sehr unschön, aber nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“

„Nicht gerade nichts. Sir Ronald Braun war empört. Ich musste mich einschalten und ihn überreden, seine Spende nicht zurückzuziehen.“

„Du kennst Braun?“

„Er ist ein alter Freund.“ Val zögert – er scheint noch mehr sagen zu wollen. Er seufzt und senkt die Stimme noch weiter. „Man scheint zu glauben, der … Eindringling hatte irgendwas mit dir zu tun.“

„Das ist doch Unsinn. Ich hatte ihn im Leben noch nicht gesehen. Er fing im Bus an, mich zu belästigen, und ist mir hierher gefolgt.“

„Natürlich, Don. Ich zweifle nicht daran.“ Val blickt sich im Saal um. „Aber du bist jetzt für diesen Ort verantwortlich. Sein Ruf liegt auf deinen Schultern.“

„Um Himmels willen, Val, ich habe doch gesagt …“

Doch genau in dem Moment muss Don abbrechen, um ein Gästepaar zu verabschieden, und Val schlüpft davon wie eine Figur, die ihre Rolle gespielt hat…