Grönland

Grönland

von David Santos Donaldson

Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Bartholomae

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 416 Seiten
Veröffentlichung: 15. Mai 2023

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Grönland

Der junge Autor Kip Starling hat sich mit einer Pistole und einem Langzeitvorrat Mineralwasser im Keller seines Hauses in Brooklyn verbarrikadiert, um ungestört zu arbeiten. In nur drei Wochen soll Kip seinen ersten Roman abliefern – ein ambitioniertes Werk über das Schicksal des jungen Ägypters Mohammed el Adl, der von 1917 bis 1922 der Liebhaber der britischen Schriftstellerlegende E. M. Forster war. Mohammed erscheint Kip gleichzeitig rätselhaft und seltsam vertraut. Sie sind beide schwarz und queer, sie führen beide prägende Beziehungen zu weißen Männern, sie sind jeder auf seine Weise mit Vorurteilen, Rassismus und Homophobie konfrontiert. Während Kip sich wie im Rausch in die Arbeit stürzt, beginnen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Literatur und Leben, Gestern und Heute zu verschwimmen. Mohammeds Geschichte (und schließlich Mohammed selbst) beginnt zu Kip zu sprechen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird zu einem Proust’schen Portal in die eigene Erinnerungswelt.

David Santos Donaldson beleuchtet den Traum von der Assimilation in einer weiß dominierten Mehrheitsgesellschaft sowie die Fallstricke und Missverständnisse in interkulturellen Beziehungen. Zudem spürt er in dringlicher, irisierender Prosa dem Erbe des Schriftstellergiganten E. M. Forster nach, um gleichzeitig die erlösende Kraft der Literatur als solcher zu beschwören. Die Originalausgabe von „Grönland“ wurde von der amerikanischen Presse begeistert aufgenommen und u. a. für die Canregie Medal of Excellence im Bereich Fiction nominiert. „Grönland“ ist ein eindrücklicher Debütroman, der auf meisterhafte Weise die Vergangenheit an der Gegenwart spiegelt und die Suche nach der Wahrheit als Motor künstlerischer Schaffensprozesse nicht nur greifbar werden lässt, sondern auch als das sinnliche Abenteuer offenbart, das große Literatur ausmacht.

BIOGRAFIE

DAVID SANTOS DONALDSON ist in Nassau auf den Bahamas aufgewachsen und hat in Indien, Spanien und den Vereinigten Staaten gelebt. Er besuchte die Wesleyan University und studierte Theater an der Juilliard School in New York. Seine Theaterstücke wurden im Public Theater in New York aufgeführt. Donaldson war Künstlerischer Leiter am Dundas Center for the Performing Arts in Nassau und arbeitet heute als Psychotherapeut. Er lebt in Brooklyn, New York, und Sevilla. „Grönland“ ist sein erster Roman.

LESEPROBE
AUSZUG AUS „GRÖNLAND“ VON DAVID SANTOS DONALDSON

VERLOREN IM NIRGENDWO

Im ersten Jahr meines Literaturstudiums an der Columbia University, ich kam frisch aus England, stellte ich fest, dass die amerikanische Rassentrennung nirgends deutlicher wahrzunehmen war als im zentralen Speisesaal. Das erste Mal betrat ich den Speisesaal des John Jay College zusammen mit Sarah Weiss – einer klugen, lustigen Jüdin mit Long-Island-Akzent und den krausesten Haaren, die ich je bei einem weißen Menschen erlebt habe. Ich war beeindruckt von den altmodisch holzgetäfelten Wänden, den langen Holztischen und den Kronleuchtern an der Decke, doch sofort wurde mir klar, dass ich eine schreckliche Entscheidung treffen musste: Entweder trennte ich mich von Sarah und ging zu den Tischen der schwarzen Studenten, oder ich blieb bei Sarah und nahm die Konsequenzen in Kauf.

Ich brachte es nicht übers Herz, Sarah stehenzulassen. Wir waren in den ersten Tagen seit unserer Ankunft schnell Freunde geworden. In unseren Schreibkursen war uns derselbe Mentor zugewiesen worden – ein anspruchsvoller weißer Brite, der die nervtötende Angewohnheit besaß, permanent seine Seidenkrawatte zurechtzurücken, wenn er redete. Sarah und ich wurden eine verschworene Gemeinschaft, als wir feststellten, dass wir die Einzigen waren, die angesichts dieser lächerlichen Gewohnheit ein Lachen unterdrücken mussten.

Also blieb ich an diesem ersten Tag bei Sarah und ertrug die tadelnden Blicke vom anderen Ende des Saals. Die schwarzen Studenten übermittelten ihre Anklagen mit Augen, die laut und deutlich sprachen: Verräter! Selbsthasser! Oreo!

Am nächsten Tag schlich ich mich nach einer lahmen Entschuldigung, weshalb ich nicht mit ihr essen konnte, ohne Sarah in den Speisesaal. Ich schaffte es irgendwie bis zur Abteilung der schwarzen Studenten, setzte ein nervöses Lächeln auf und wartete auf eine freundliche Begrüßung. Aber ich blickte nur in harte, militante Augen.
Mein Fehler, mich zu Sarah zu setzen, hatte eine gründliche Überprüfung durch die schwarze Studentenmafia zur Folge gehabt, und nun glaubten sie zu wissen, was sie von mir zu halten hatten.

All das erfuhr ich von Gerald Andrews, einem meiner drei schwarzen Verbündeten an der Columbia. „Sie sagen, dass du mit einem affektierten, falschen britischen Akzent redest“, sagte Gerald. Er war schwul, trug schwarzen Nagellack und Springerstiefel. Er sprach mich im Flur von Dodge Hall an, mit in die Taille gestemmten Händen. „Außerdem sagen sie, dass du offensichtlich die Gesellschaft weißer Menschen vorziehst. Sie halten dich insgesamt für einen huchnäsigen Oreo.“

Zuerst glaubte ich, „huchnäsig“ hieße Tunte, aber Gerald klärte mich auf. „Es bedeutet ganz einfach arrogant“, sagte er. Von ihm erfuhr ich, dass die schwarzen Jungs an der Columbia nicht generell etwas gegen Schwule hatten – es gab verschiedene kämpferische schwarze Tunten vom Typ James Baldwins und dieser Kirchenchorleiter-Gilde, und sie waren bei den schwarzen Studenten gut angesehen. Aber bei huchnäsigen Briten wie mir lagen die Dinge anders. Ich war ganz einfach „nicht schwarz genug“, so hatten sie beschlossen. Als ausländischer Student hatte ich (mit nicht ganz koscheren Methoden) dafür gesorgt, dass ich im Panafrikanischen Haus auf dem East Campus wohnte – einer schwarzen Sparten-Community für Bachelor-Studenten. Alle Bewohner hatten sich mit separaten Veranstaltungen, Partys, Studiengruppen und Klubs nur für Schwarze sehr schnell zu einer homogenen Clique zusammengefunden. Doch ich war von all dem ausgeschlossen. Und zwar nicht, weil ich mit vierundzwanzig älter war als die meisten Bachelor-Studenten (und selbst älter als der schwarze nigerianische Master-Student), sondern weil es sich schnell herumgesprochen hatte: Ich war ein Paria.

Den ersten Monat aß ich allein im John Jay. Wenn ich versuchte, mich zu den Schwarzen zu setzen, wechselten sie unauffällig den Platz, einer nach dem anderen, und erzeugten so einen Sicherheitsabstand. Ich kam mir vor wie ein Aussätziger. Ich aß kaum etwas, mein Magen ballte sich zusammen wie eine Faust. (In weniger als drei Wochen nahm ich fünf Kilo ab.) Aber wenigstens fing ich nicht vor allen Leuten an zu weinen – ich riss mich zusammen. Und doch, innerlich kam es mir vor, als fiele ich in einen Abgrund.

Wenn Sarah oder ein anderer weißer Kommilitone sich zu mir setzen wollte, sagte ich, der Platz sei besetzt oder dass ich gerade gehen wollte. Ich ertrug den Gedanken nicht, von den Schwarzen mit einer Gruppe von Weißen gesehen zu werden. Es hätte nur ihre dummen Unterstellungen bestätigt.

Meine weißen Freunde und Freundinnen verstanden die Botschaft, begannen selbst auf Distanz zu gehen und den Umgang mit mir zu vermeiden. Ich muss ihnen wie das allerunhöflichste Arschloch vorgekommen sein. Am Ende wollte keiner etwas mit mir zu tun haben. Ich saß allein an einem langen Holztisch wie auf einer einsamen Insel. Verloren im Nirgendwo.

Eines Tages lief ich Gerald auf dem südlichen Rasen über den Weg. Er war mit einer Gruppe von vier oder fünf anderen Schwarzen zusammen. Alle waren irgendwie nett. Ein Typ im roten T-Shirt war umwerfend. Er hatte kurze Dreadlocks und lächelte mich ständig an. Gerald stellte mich der Gruppe vor und sagte dann, sie müssten jetzt zu einer Versammlung.

„Eine Versammlung?“, fragte ich. Gerald sagte, es sei eigentlich mehr ein geselliges Klubtreffen. Und dann platzte er damit heraus: „Es ist eine schwarze Schwulengruppe – nichts für dich!“ Alle lachten. Ich lachte auch, dann fragte ich, ob ich mich anschließen könne. Geralds Unterkiefer sackte hinunter.

„Wirklich? Du hast aber schon verstanden, dass es eine schwule Gruppe ist?“ Als ich sagte, ich hätte das verstanden, wirkte er schockiert. „Du hast nicht gewusst, dass ich schwul bin?“, fragte ich. „Nein“, sagte er. „Im Ernst, Süße, ich hab gedacht, du bist eben Europäer.“

Ich ging mit ihnen zum Treffen, aber jedes Mal, wenn ich etwas sagte, schienen mich alle anzuschauen, als ob ich vom Mond käme. Sie lachten schallend, wenn ich für Ficken und Küssen statt „fuck“ und „make out“ „shag“ und „snogging“ sagte, und es machte ihnen großen Spaß, die Wörter ständig zu wiederholen. Und sie waren erstaunt, wenn ich von bestimmten Wörtern oder Begriffen verwirrt war. „Kipling, du weißt wirklich nicht, was ein Gummi ist?“ (Ich erklärte ihnen, in England sei ein Gummi ein Radiergummi.) Schließlich sagte der Typ mit den Dreadlocks: „Ich weiß ja nicht, was die anderen Brüder darüber denken, aber ich wette, die weißen Tunten hier in Amerika werden dich lieben. Bei dem Akzent drehen die garantiert durch. Und weil du nicht so klingst wie wir einheimischen Nigger, werden sie wahrscheinlich gar nicht merken, dass du schwarz bist.“ Alle lachten. Ich entschuldigte mich schon früh, rannte zurück zum Wohnheim – ich lief tatsächlich den ganzen Morningside Drive – und fiel schluchzend auf mein Bett. Selbst bei meinen schwarzen schwulen Brüdern war ich der Paria. Würde ich jemals irgendwo dazugehören?

Während dieser ersten paar Wochen an der Columbia weinte ich mich die meisten Nächte in den Schlaf, verwirrt und mit gebrochenem Herzen, und fragte mich, ob es ein großer Fehler gewesen war, nach Amerika zu kommen. Vielleicht hätte ich in England bleiben und mir dort eine schwarze Schwulengruppe suchen sollen. Wie sollte ich dem Beispiel James Baldwins folgen und ein großer Schriftsteller werden, wenn ich in Amerika von jedermann kategorisch zurückgewiesen wurde? Einen Monat nach Semesterbeginn beschloss ich, die Uni zu verlassen und nach England zurückzukehren. Es war Gerald, der mich zum Bleiben überredete. „Scheiß auf die Arschlöcher!“, sagte er. „Schließlich bist du hier, um Schriftsteller zu werden!“

Ich hatte nur drei schwarze Verbündete, die mich unterstützten: Lorna-Lee aus meinem Schreibkurs, die ein bisschen in mich verliebt war, sowie Gerald und Carlia Corby, beides in Brooklyn geborene Jamaikaner und schon einen Jahrgang über mir. Da sie Jamaikaner waren, nahm ich an, sie hatten Cousins oder entfernte Verwandte, die in England lebten. In ihren Augen entsprach ich dem Typ des Schwarzen aus den Kolonien. Sie verteidigten mich gegenüber ihren afroamerikanischen Freunden. Aber die Mehrheit der schwarzen Studenten und Studentinnen hatte noch nie einen schwarzen Briten reden hören. Sie kamen einfach nicht darüber hinweg, wie „weiß“ ich redete.

Als wäre mein Start in Amerika nicht schon holprig genug verlaufen, ereigneten sich noch ein paar Dinge, die das Fass zum Überlaufen brachten. Im Winter meldete ich mich zu einer Studentenexkursion zu den Hunter Mountains in den Catskills an, um einen Tag lang Ski zu laufen; als die schwarze Studentenmafia davon Wind bekam, nahm sie es als ultimative Bestätigung, dass ich weiß war.

„Süße, du tust dir damit keinen Gefallen“, sagte Gerald – er redete jeden als Süße an, selbst die heterosexuellen Professoren.

Wir standen vor Kursbeginn auf den Stufen vor der Dodge Hall, beide in Schals und Wollmützen verpackt. Um seinem Blick auszuweichen, beobachtete ich die wenigen Passanten auf dem College Walk oder starrte hinüber zum schneebedeckten Springbrunnen. „Welcher Schwarze geht schon Skifahren?“, fragte Gerald.

„Ich!“, sagte ich. „Skifahren ist verdammt großartig. Was hat schwarz zu sein mit Skifahren zu tun?“

Ich war mehr als frustriert. „Wieso macht mich das weniger schwarz? Ich bin schwarz – das ist eine Tatsache –, also ist alles, was ich tue, das, was ein Schwarzer tut, stimmt’s?“

„Nein, Süße“, sagte Gerald. „Alles, was mit Schnee und Eis und Scheißkälte zu tun hat, ist nichts für Schwarze. Dafür sind wir nicht gemacht. Genauso wenig wie für Camping, Wasserpolo, Reiten und all den anderen Weißen-Scheiß. Wir sind genetisch buchstäblich nicht dafür beschaffen, Kälte und Schnee zu ertragen.“ „Ach, und was ist mit Matthew Henderson?“, sagte ich.

„Der erste Mensch, der den geografischen Nordpol erreicht hat? Er hat die Peary-Expedition geleitet. Ein Schwarzer!“

„Süße, Matthew Henderson hin oder her, aber ich sage dir, wenn du an diesem Skiausflug teilnimmst, beweist du ihnen, dass du so weiß bist, wie sie glauben.“

Die Krönung des Ganzen verschaffte mir eine sehr triviale Hausarbeit. Eines Tages hatte ich in der Waschküche des Wohnheims meine Socken vergessen. Ich fragte herum, ob sie jemand gefunden hatte. Daraufhin verpasste mir die schwarze Mafia einen Spitznamen, „Mr. Socks“. – „Ach, du liebe Güte, er hat seine Socken verloren!“ Meine Art, den Vokal auszusprechen, war ganz einfach zu britisch für sie. Von da an wurde bei jeder Gelegenheit über Mr. Socks gekichert.

Ich war verzweifelt wegen dieser kategorischen Zurückweisung durch meine schwarzen amerikanischen Brüder. Jeder feindselige Blick eines schwarzen Studenten – im Speisesaal oder auf den Grünflächen – fühlte sich an wie ein Dolchstoß ins Herz.

Das Schlimmste war, dass sie irgendwann gar nicht mehr auf mich reagierten. Sie sahen durch mich hindurch. Ich wurde ein unsichtbarer Mensch, selbst unter anderen unsichtbaren Menschen. Die Zurückweisung war quälend. Schließlich war ich damit aufgewachsen, die Entschlossenheit und Kraft der Afroamerikaner zu respektieren, ich hatte mich mit ihnen identifiziert, mit ihrem siegreichen Kampf für Bürgerrechte und Würde angesichts der unvorstellbarsten Traumata. Aber im schwarzamerikanischen Paradigma sah man in mir nur den Onkel Tom, ein arroganten und fehlgeleiteten Hausnigger.

Auch die weißen Studenten, die mit gutgemeinten rassistischen Bemerkungen zu mir Kontakt aufnehmen wollten, hatten mich nicht verstanden. Ein weißer Schwuler, Brian, ein schlanker sommersprossiger Rotschopf aus Georgia, meinte, wir wären Freunde, und versicherte mir: „Kip, damit du’s weißt, für mich bist du kein Schwarzer, sondern ein Mensch wie ich. Nur Kip.“

„Schön und gut“, sagte ich, „aber ich bin schwarz, und wenn du das nicht wahrnimmst, dann nimmst du mich nicht wahr.“

Ich wusste nicht, was ich anstellen musste, um wahrgenommen und akzeptiert zu werden. In Amerika – oder vielleicht auf der ganzen Welt – war kein Platz für einen Schwarzen wie mich. Nachdem ich mich mit dreizehn Jahren zuhause im Schrank versteckt hatte, war dies nun das zweite Mal, dass ich darüber nachdachte, wie es wäre zu sterben. Eine Flasche Aspirin? Oder vom Dach des Speisesaals springen? Oder von der George-Washington-Brücke, wie Rufus in James Baldwins Ein anderes Land ? Ich glaubte, ich gehörte nicht in diese Welt.
Wozu weiterleben? Würde es überhaupt jemand merken, wenn ich für immer verschwand? Nein – es nahm mich ja ohnehin niemand wahr.

Ich war verloren im Nirgendwo – wahrlich ein einsames, kaltes Willkommen in Amerika.