Den Schwulen lass hier mal weg!

Von Detlef Grumbach

Klappenbroschur, 125 × 197 mm, 272 Seiten

Veröffentlichung: 15. Mai 2023

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Den Schwulen lass hier mal weg!

Literatur, Zeitgeschehen, Politik – diesen Themen nähert sich der Publizist und Männerschwarm-Verlagsgründer Detlef Grumbach in diesem Band aus schwuler Perspektive. Der Buchtitel ist einem Aufsatz entlehnt, den Grumbach über „Blinde Flecken einer heteronormativen Walser-Lektüre“ verfasst hat. Denn in Analysen von Martin Walsers frühen Werken wurden dessen schwule Charaktere – wie Edmund Gabriel in der Anselm-Kristlein-Trilogie – so lange übergangen, bis sie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr auftauchten. Grumbach nimmt sie erstmals in den Fokus und fragt nach ihrer Bedeutung.

In den weiteren Beiträgen geht es um Werke homosexueller Autoren wie Friedo Lampe, Wolfgang Koeppen, Walter Vogt oder Christoph Geiser, aber auch um die „Schamlosigkeit“ im Werk von Ralf König. Einen Schwerpunkt bildet die Beschäftigung mit Klaus Mann, dessen „Der fromme Tanz“ wohl der erste selbstverständlich-schwule deutsche Roman war und der im Widerstand gegen die Nazis auch noch gegen die Schwulenfeindlichkeit der Linken kämpfen musste. So versammelt Detlef Grumbach in Den Schwulen lass hier mal weg zur eigenen Lektüre anregende Beiträge aus vier Schaffensjahrzehnten. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei vor allem Schriftstellern, die mit ihren Arbeiten sensibel auf gesellschaftliche und politische Strömungen reagiert haben.

BIOGRAFIE

DETLEF GRUMBACH studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, war Buchhändler und arbeitete seit den 1980er Jahren für diverse Zeitungen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. 1992 gehörte er zu den Gründern des Männerschwarm Verlags. Er ist Herausgeber/Autor zahlreicher Publikationen. Bei Männerschwarm brachte er u. a. das Sachbuch „Demo.Für.Alle“ und den Klaus-Mann-Band „Treffpunkt im Unendlichen“. Außerdem ist Grumbach Vorsitzender der Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

LESEPROBE
VORWORT DES AUTORS ZU „DEN SCHWULEN LASS HIER MAL WEG“

Ich bin bereit, von schwuler oder homosexueller Literatur dann zu sprechen, wenn ich in der nächsten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der Zeit lese, dass ein neues Werk der heterosexuellen Literatur erschienen ist.

So formulierte Detlev Meyer seine Ablehnung des Begriffs ‚schwule Literatur’ oder auch ‚Schwulen-Literatur’ im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse im Herbst 1995. Meyer, dessen zwischen 1985 und 1989 erschienene „Biographie der Bestürzung“ das Feuilleton und die Leser:innen begeistert hat – Helmut Schödel nannte den Autor in Die Zeit einen „Glücksfall“ für die Literatur (1986) und einen „Virtuosen des Leichtsinns“ (1987) – gehörte zu den sehr wenigen schwulen Autoren, die über das schwule Leben schrieben und in den Feuilletons der Mainstream-Presse besprochen wurden. Sein Statement weiter:

Dann will ich gerne sagen: Dies gibt es, aber es gibt auch das andere, und beide finden im Haus des Seins, der Sprache ihren Platz. Aber zurzeit ist das wirklich nur dieser Literatur zugeordnet, dieser Begriff schwul, um sie in die Ecke zu drängen, an den Rand zu drängen, sie exotisch zu machen.

Eine solche Abwertung, mit der die Literatur von oben herab auf den (Binde-)Strich geführt und zu einem Produkt des Dienstleistungsgewerbes für Bewegungen erklärt wird, erfuhr nicht nur die ‚Schwulen-Literatur’. Dabei finden solche Zuschreibungen ihren Ursprung meist bei den Autor:innen und Leser:innen. Sie entstehen in Phasen, in denen die Literatur eng verbunden ist mit einer sozialen Bewegung, die aus der gesellschaftspolitischen Marginalisierung heraus um die Anerkennung ihrer bloßen Existenz oder politischen Ziele kämpft und dabei für sich selbst die Spielräume erweitern muss. Mit der Arbeiterbewegung entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeiter-Literatur, mit der Frauenbewegung die Frauen-Literatur, mit der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre die Friedens-Literatur. Damit verbunden war und ist, diese Literatur überhaupt erst einmal gegen die Macht und das Naserümpfen des Literaturbetriebs und seiner Protagonist:innenen (Verleger, Lektoren, Kritiker) durchzusetzen, die einen universellen Anspruch und die Entscheidungsgewalt darüber, was diesem Anspruch Genüge tut, für sich beanspruchen. Sie wollen entscheiden, welche Stoffe und Figurenkonstellationen literaturfähig sind und welche nicht. Detlev Meyer zur Übernahme des Begriffs ‚Schwulen-Literatur’ durch die Bewegung:

Ich akzeptiere es im Rückblick. Es hat also in der Sozial- und der Geistesgeschichte seine Funktion gehabt, es hatte seinen emanzipatorischen Pfiff. Man hat das Wort übernommen, mit dem man beleidigt wurde. Man hat sich also diesen Handschuh einfach übergezogen und die Faust gestreckt und gesagt, also okay, also wenn wir schwul genannt werden, dann wollen wir das auch laut sagen. Aber das war in der Phase der schwulen Emanzipation wichtig, mittlerweile müssten wir darüber hinaus sein. Und es gibt auch Frauen, die sagen: Ich bin Frau. Punkt. Ich bin Autorin. Punkt. Ich bin keine Frauenautorin. Wie der berühmte Satz von Yves Navarre: „Ich bin schwul, ich bin Schriftsteller, ich bin kein schwuler Schriftsteller.“

Für die Frauen-Literatur mag das zum Zeitpunkt von Meyers Statement gegolten haben. Viele Veränderungen auf dem Weg zur Gleichstellung stehen zwar noch heute aus, doch der Horizont des gesellschaftlichen Diskurses und damit der Literatur insgesamt hat sich deutlich erweitert. Was als ‚Frauen-Literatur’ dabei trotz der Abwertung ‚von oben’ seinen Dienst geleistet hat, hat längst Eingang in die ‚eine’ Literatur gefunden, ist anerkannt und hat deren Spektrum erweitert und dafür gesorgt, dass ihre Themen, Stoffe und entsprechende Protagonistinnen nicht mehr nur in Büchern von Autorinnen präsent sind.

SCHWULE NACHBARN

Ob Meyers Intervention, die Bezeichnung ‚schwule Literatur’ nur im Rückblich akzeptieren zu wollen, 1995 schon zutreffend war, darf angezweifelt werden. Zwölf Jahre nach dem Gespräch, dass ich für eine Sendung des NDR-Bildungsfunks mit ihm geführt habe, sind die Verleger des Männerschwarm Verlags noch immer zu einem anderen Befund gekommen. Wir hatten zwar unseren Beitrag zur Entwicklung einer deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet, aus dem sozialen Umfeld der Schwulenbewegung hatten wir unsere Autoren noch immer nicht herausgeführt. Wer sich aus der Perspektive schwuler Figuren mit Liebe, Beziehungen, Arbeitsleben oder Tod beschäftigt, wird diese – ob ausgesprochen oder nicht – stets mit heteronormativen Verhältnissen konfrontieren müssen, die nicht für sie eingerichtet sind, an denen sie sich reiben.

Das macht einen besonderen Reiz aus und ist gleichsam eine Versicherung dagegen, die Figuren nicht in den Käfig eines apologetischen Verhältnisses zur Realität zu sperren, führte aber immer noch dazu, im Literaturmarkt marginalisiert zu werden. Heterosexuelle Leser:innen, so durften wir zu Recht noch verallgemeinern, interessierte das nicht. Dem entsprach es, das der Seitenblick auf schwule Lebensrealitäten aus der Perspektive der heterosexuellen Autor:innen und ihrer Figuren noch immer ausblieb. Schwule als Figuren und die Auseinandersetzung mit ihren Lebensformen kamen in der aktuellen Gegenwartsliteratur nicht vor, sofern diese Literatur nicht von Schwulen selbst geschrieben wurde. Zumindest nur selten. Ausnahmen bestätigen die Regel. „Schwule Nachbarn“ lautete zunächst nur der Arbeitstitel einer Anthologie, mit der wir deshalb aus Anlass des fünfzehnten Verlags-Geburtstags Abhilfe schaffen wollten. Der Männerschwarm Verlag bat also Autorinnen und Autoren, die wir für heterosexuell hielten, um Geschichten, in denen sie ihre heterosexuellen Figuren mit schwulen Lebensrealitäten konfrontieren.

„Keine Idee. Ich kann nicht“1, so begründet einer der angeschriebenen Autoren, der in der Textsammlung, die dann unter dem Titel „Schwule Nachbarn. 22 Erlebnisse“ (2007) erschienen ist, nicht vertreten ist, kurz und knapp seine Absage. Ein anderer nimmt den Arbeitstitel über die Maße wörtlich: Er könne „nicht mitmachen, weil mir kein schwuler Nachbar erinnerlich ist“. – „Ich fühle mich nicht zuständig“, so schreibt ein weiterer Autor und repräsentiert mit dieser Aussage keine Minderheit. Aber sind die Blicke über den eigenen Tellerrand, auf die „schwulen Nachbarn“ im weitesten Sinne (ein turtelndes schwules Paar in der U-Bahn, der Bürgermeister, Talkmaster oder Komödiant, der Lehrer, Mitschüler oder Bademeister, der Buchhändler, Friseur oder Sparkassenfilialleiter), sind Konfrontationen mit schwulen Figuren, die im wirklichen Leben zumindest im städtischen Raum zum Alltag gehören, in der Literatur eine Frage der Zuständigkeit? Ist der Begriff der ‚Zuständigkeit’ überhaupt tauglich, wenn es um eine literarische Fragestellung geht? Ein Reiz der Literatur liegt doch im Konjunktiv, in der Möglichkeit, die anders ist als die erlebte Realität, die etwas ausprobiert. Wer sich mit literarischen Mitteln auf die Wirklichkeit einlässt und von vornherein die Möglichkeit ausschließt, einen Blick auf den schwulen Nachbarn zu riskieren, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht das betreibt, was als ‚Bindestrich-Literatur’ tituliert wird – in diesem Fall ‚Heterosexuellen-Literatur’.

„Ein Roman über New Orleans ohne Schwule“, so beantwortete die amerikanische Autorin Tony Fennelly bei einer Lesung die Frage, warum in ihren Romanen schwule Figuren immer eine wichtige Rolle spielen, „das wäre wie ein Buch über Alaska ohne Schnee.“ Doch seine „Berührungen mit der schwulen Welt sind nahe null“, erklärt ein weiterer der zur „Schwule Nachbarn“-Anthologie eingeladenen Autoren, ein anderer meint, er sei sich „einfach sicher, dass bei dem, woran ich im nächsten halben Jahr arbeiten will, homosexuelles Leben in keiner Weise vorkommen wird. Tut mir leid“. Gerade hatte er, Thomas Hettche, den Roman „Woraus wir gemacht sind“ (2006) abgeschlossen, in dem sein Held an zwei verschiedenen Orten schwulen Paaren begegnet: „Verwundert betrachtet er das schwule Paar Ende Vierzig“ (78), heißt es, als sein Protagonist ein Hotelrestaurant betritt. Gegen Ende des Romans erzählt er von einem Moment „am Ocean Boulevard in Santa Monica“. An der Steilküste „stehen dann schon das Pärchen in Flip-Flops, […] und das schwule Paar“ (259). Woran sein Held die Schwulen erkennt, was ihn verwundert und warum er sie gesondert erwähnt, bleibt genauso offen wie alles, was diese konkrete Wahrnehmung in der konkreten Situation bedeutet. Ich hätte mir gewünscht, der Autor hätte uns für unsere Anthologie einen Augenblick in seine Figur hineinhorchen lassen.

Allein die Tatsache aber, dass wir etliche Autorinnen und Autoren gerade deshalb zu dieser Anthologie eingeladen haben, weil wir wussten, dass sie das Thema interessieren würde, dass einige uns bereits veröffentlichte Texte zum Abdruck in diesem Kontext überlassen haben, zeigt jedoch: Seitdem die Vorkämpfer der sexuellen Emanzipation Begriffe wie den des ‚Urnings’, des ‚Homosexuellen’ oder ihre Theorien vom ‚dritten Geschlecht’ in die Öffentlichkeit brachten, seit Strafrecht und Psychiatrie die Diskurse über ‚Sodomie’, ‚Geschlechtswahnsinn’ und die ‚Psychopathia sexualis’ bestimmten, ist einiges geschehen. Das erkennt man auch an literarischen Ausnahmeerscheinungen wie Hubert Fichte, der in aller Selbstverständlichkeit als schwuler Autor von vornherein zu der einen Literatur gehört hat, während sein Kollege Felix Rexhausen, der schon ‚Schwulen-Literatur’ geschrieben hat, als vom Aufbruch der neuen Schwulenbewegung Anfang der 1970er Jahre noch nichts zu spüren war, mit der Begründung „Schlicht: Zum Kotzen“ (zit. n. Wolf 2022) abgelehnt wurde.

VOM ‚SCHWULEN NAZIZUM ‚SCHWULEN AUSSENSEITER

Ein deutlicher Bremsklotz für die Anerkennung schwuler Alltagsfiguren und -themen im Literaturbetrieb ist das gerade innerhalb der politischen Linken tief verwurzelte Stereotyp des ‚homosexuellen Nazis’: die Charakterisierung von führenden oder besonders grausamen Funktionsträgern des NSRegimes als homosexuell. Es wurzelt in der Tradition einer spießigen und puritanischen Arbeiterbewegung, die sich im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung durch die Bourgeoisie mangels realer Stärke dem Klassenfeind wenigstens moralisch überlegen fühlte und alle Formen der von ihm offen praktizierten Libertinage, der Völlerei und eines freien sexuellen Genusses als bourgeois ablehnte. Zu dieser Libertinage gehörte auch Homosexualität, die als Ausdruck bürgerlicher Dekadenz gewertet wurde und – so die ‚revolutionäre’ Hoffnung – mit Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung verschwinden würde.

Obwohl sie den § 175 StGB als Instrument der Klassenjustiz ablehnten (der schwule Kapitalist Krupp vergnügte sich auf Capri, während der schwule Arbeiter ins Gefängnis gesteckt wurde), verbanden SPD und KPD den politischen Kampf, wann immer es sich anbot, mit einer antihomosexuellen Kampagne. Als Beispiele seien hier nur die Krupp-Affäre 1902, die Eulenburg-Affäre 1907 und die Röhm-Affäre 1931 / 1932 genannt. Spätestens mit der Ermordung Röhms im Juni 1934 verfestigte sich das Stereotyp vom homosexuellen Nazi in einer Art und Weise, dass die NSDAP aus dem Exil heraus – dies ist nur ein Beispiel – in der sozialdemokratischen Volksstimme als „Bewegung der Homosexuellen“ tituliert wurde (zit. n. Zinn 1995, 70) und es auch Eingang in die Literatur fand (vgl. Meve 1990). Als Beispiel seien hier nur zwei Pole genannt: Bert Brechts aus Anlass des sogenannten Röhm-Putschs 1934 verfasste „Ballade vom 30. Juni“ und Ludwig Renns 1936 erschienener Roman „Vor großen Wandlungen“. Brecht inszeniert sowohl das Verhältnis Hitlers zu Großkapital (Thyssen) als auch das zu Röhm vor ihrem politischen Zerwürfnis als homosexuelle Bettgeschichten: „Adolf schlief bei seinem Neuvermählten / Jenem reichen Thyssen an dem Rhein“ heißt es zu Beginn der Ballade. Später erscheint Röhm Hitler im Traum und erinnert ihn an jene Zeiten, in denen sie politisch noch verbunden waren: „Du brauchst gar nicht heftig aufzufahren / Kam ich doch auch früher manche Nacht …“ (Brecht 1967, 520 f.). In ähnlicher Weise ist im Roman Ludwig Renns von führenden Nazi-Funktionären die Rede, „die es durch das Bett von Stabschef Röhm zu etwas gebracht hatten oder hofften, es zu etwas zu bringen“ (Renn 1989, 34). Renns Tragik liegt darin, dass er selbst homosexuell war. So findet sich im Rittmeister von Herb auch eine homosexuelle Gegenfigur zum Nazi. Ein Arbeiter durfte diese Rolle sicher nicht übernehmen, doch auch von Herb – konservativ, aber kein NSDAP-Mann, adlig von seiner Herkunft wie auch der Autor – nennt sich selbst einen „verkommenen Menschen“ (61).

Die hier nur skizzierte Verknüpfung von Homosexualität und Nationalsozialismus war so mächtig (und so bequem in der Argumentation), dass sie über die Nachkriegszeit hinaus bis in die 1960er / 1970er Jahre wirkte. Als Beispiele aus der westdeutschen Nachkriegsliteratur seien hier der schwule Wachtmeister in Heinrich Bölls „Der Zug war pünktlich“ (1949), der Nazi-Lehrer Wakiera in „Billard um halbzehn“ (1960) oder der Gemüsehändler Greff in Günter Grass’ „Blechtrommel“ (1959) genannt (vgl. Schmidt 2001). Nur Wolfgang Koeppen, über den Uwe Timm für unsere Anthologie „Schwule Nachbarn“ geschrieben hat, hat in den 1950er Jahren eine Gegenposition bezogen (siehe den Beitrag über Koeppen in diesem Band). Der Sonderfall der Anselm-Kristlein-Trilogie Martin Walsers wird ebenfalls in diesem Buch behandelt. In der vom Aufbruch der 1968er geprägten Literatur der 1970er und 1980er Jahre tauchen schwule Figuren dann gelegentlich am Rande auf – in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR. Sie werden nicht wirklich in ihrem schwulen Leben gezeigt; es reichte den Autoren, sie als Opfer von Verfolgung und Diskriminierung zu zeigen. So erzählt Gerd Fuchs in seinem Roman „Stunde Null“ (1981), wie sich 1945 in einem Dorf langsam aber sicher die alten Verhältnisse wiederherstellen.

Ein Kriegsheimkehrer erinnert sich, wie sein Unteroffizier verächtlich über eine „schwule Sau“ gesprochen hat (280). Im Rückblick auf die Geschichte des Orts erzählt er von einem schwulen Legionär, der wusste, „daß er sich nicht verraten durfte“ (286–293). Peter O. Chotjewitz’ „Saumlos“ (1980) sticht aus seinem Umfeld heraus, weil hier der Protagonist des Buchs selbst von schwulen Affekten übermannt wird. Chotjewitz erzählt in dem Roman von einer verschworenen Dorfgemeinschaft, die von ihren Verbrechen in der Nazi-Zeit eingeholt wird. Die schwulen Anwandlungen der Hauptfigur markieren die Distanz, die sie der Gemeinschaft gegenüber einnimmt.

Franz-Josef Degenhardt geht darüber hinaus und schließt den Bogen vom Schwulen als Opfer oder bloßem Außenseiter zum politisch handelnden Subjekt und zur Schwulenbewegung. In seiner „Ballade vom Edelweißpiraten“ (1982) erzählt er die Geschichte eines schwulen Widerstandskämpfers, in seinem Roman „Der Liedermacher“ (1982) lässt er ganz selbstverständlich ein schwules Paar auftreten. Gisela Elsner, die sich für eine Einordnung in die ‚Frauen-Literatur’ auf ihre Weise bedankt hat (vgl. Elsner 2011), nimmt in ihren Gesellschaftssatiren die Geschlechterrollen aufs Korn. Dabei kommt sie nicht ohne die Karikatur von schwulen Figuren aus, die sie den aufs Korn genommenen ‚richtigen’ Männern gegenüberstellt – wie Alfred Brusius als Gegenüber des Dichters Alfred Giggenbacher in „Die Zähmung“ (1984).

In der DDR führt Dieter Noll 1979 in seinen Roman „Kippenberg“ eine wichtige schwule Figur ein. Dies ist bemerkenswert, weil er an die beiden für die DDR-Jugend identitätsbildenden Bände „Die Abenteuer des Werner Holt“ anschließt und sich offen mit Opportunismus, Anpassung und Duckmäusertum im Wissenschaftsbetrieb, in Partei und Wirtschaft beschäftigt. In der Entwicklung des angepassten Karrieristen Kippenberg zurück zu den Idealen seiner Jugend und einer gehörigen Portion Konfliktbereitschaft spielt sein schwuler Kollege Harra eine wichtige Rolle. Dabei transportiert der Roman zwar die gängigen Klischees („exzentrisches Wesen“ u.a., Noll 1979, 64) und erklärt Harra zum Ausnahmeschwulen („zeigte aber nichts von den Verhaltensstereotypen einer homosexuellen Subkultur“, 65), moniert aber auch, dass die sozialistische Gesellschaft den Homosexuellen noch immer nicht „ein Ende unwürdiger und unberechtigter Diskriminierung gebracht“ (ebd.) habe. Genauso deutlich rückt Noll eine schwulenfeindliche Figur, die sich bei Harra „vor Ekel“ schütteln muß“, in die Nähe zum „gesunden Volksempfinden“, „in dessen Namen man Millionen in die Gaskammern geschickt hatte“ (66).

Helga Königsdorf geht zehn Jahre später noch weiter, wenn sie einen schwulen Wissenschaftler auf dem Weg zur Professur ins Zentrum ihres in Briefform gefassten Romans „Ungelegener Befund“ (1990) rückt. Stephan Hermlin, der Grandseigneur der DDR-Literatur, lässt seinen Erzähler in „Abendlicht“ (1979) mit großem Wohlwollen von seinem – in den 1920er Jahren – heiß geliebten Onkel Herbert schwärmen. Auch Ludwig Renns „Vor großen Wandlungen“ (1936) ist innerhalb einer Werkausgabe im Aufbau Verlag erschienen, aber erst 1989. Eine ‚Schwulen-Literatur’ schwuler Autoren entwickelte sich in der DDR erst ab Mitte der 1980er Jahre.

Wo immer schwule Figuren in der Literatur eine Rolle spielen, so können wir nur geringfügig verallgemeinert feststellen, werden sie innerhalb des Literaturbetriebs nicht wahrgenommen. Der heterosexuelle Mainstream interessiert sich nicht für sie, so wie er sich auch nicht für die Literatur schwuler Autoren interessiert. Er lässt sie einfach weg. Gerade die Beiträge über Wolfgang Koeppen und Martin Walsers frühe Romane in diesem Sammelband zeigen jedoch deutlich: Schwule Figuren verirren sich nicht zufällig in die Texte. Wenn sie in Erscheinung treten, haben sie eine Bedeutung. Wer sich diesem Bereich der Literatur verschließt, verbaut sich den Zugang zu einem interessanten Aspekt unserer Wirklichkeit.

SCHWULE IN DER LITERATUR

Schwule in westlichen Demokratien wie der Bundesrepublik genießen heute große Freiheiten und erleben neue Bedrohungen, sie nehmen die sozialen Verhältnisse, in denen sie leben, noch immer in besonderer Weise wahr. Sie sind durch die Erfahrung gegangen, dass diese Verhältnisse nicht für sie eingerichtet sind. Ihr Coming-of-Age ist, anders als das Drama jeder Pubertät, auch ein Coming-out: Das macht sie sensibel für Verhaltensmuster, Rollenerwartungen und Machtstrukturen. Als Angehörige einer Gruppe, die in ihrer Lebensplanung nur in Ausnahmen mit den Freuden, der Verantwortung und den Belastungen der Kindererziehung konfrontiert ist, die ihr Leben in dieser Hinsicht ein bisschen freier und ichbezogener gestalten kann, konnten sie aber auch zu ‚Vorreitern’ einer neuen ‚Single-Generation’ werden – in ironischer Distanz zum familiären Beziehungsdschungel mit seinen Geborgenheiten und Beschädigungen.

Volker Woltersdorff erinnert in seinem Essay „Zwischen Homotoleranz und Homophobie“ (2017) daran, dass diese Freiheiten ihren Preis haben und nicht für alle gleichermaßen gelten. Gesellschaftspolitisch gehen sie einher mit den neoliberalen Entwicklungen dieser Jahre. In einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft stehen jene Schwule, die es jenseits der Kriminalstatistik in die öffentliche, auch mediale Wahrnehmung bringen, auf der Sonnenseite des Patriarchats und können von der Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitswelt profitieren. „So konnte es dazu kommen“, schreibt Woltersdorff, „dass Homotoleranz als ein Projekt westlicher Eliten wahrgenommen werden kann“ (80) und auf entsprechende Gegenbewegungen stößt.

Zu Männern erzogen, haben Schwule dennoch in ihren Beziehungen ‚unter Männern’ die Chance, sich auf einer Ebene zu begegnen, die frei ist vom Machtgefälle zwischen den Geschlechtern – mit allen willkommenen und unangenehmen Folgen: Machtverhältnisse und Machtspielchen, auch in der Sexualität, werden umkehrbar. Egal, was sie sexuell treiben, es geschieht unter der Prämisse einer ‚freien’ Sexualität, während die Befreiung der Frau zunächst damit einhergeht, männlich-heterosexuelle Möglichkeiten der Machtausübung einzuschränken oder zumindest unter Verdacht zu stellen. „Ich werd dich gleich ficken, wie dich noch nie ein Mann durchgefickt hat“, droht, nein, verspricht eine Figur Ralf Königs ihrem Freund in „…und das mit links!“ (1993): „Ich weiß, was du brauchst, du geile Sau! Ich stoß ihn dir bis zum Anschlag rein. […] Ich nagel dich in die Matratze“ (90). Von Mann zu Mann ausgesprochen fehlt dieser Ankündigung das Machohafte, das Bedrohliche, das Gewalttätige, sie klingt mit der in sie hineingelegten Omnipotenz vielleicht sogar ein bisschen lächerlich, auf jeden Fall aber komisch. Von Mann zu Frau gesprochen wäre sie wohl justiziabel. Wahrscheinlich liegt darin der Grund dafür, dass Ralf König auch viele Fans unter heterosexuellen Frauen hat: König beschreibt lustvollen und tabulosen Sex jenseits von Geschlechterhierarchien und Machtverhältnissen. Nehmen wir noch ein paar Klischees wie das der ‚Kultiviertheit’, der ‚Promiskuität’ und das der Neid und Angst auslösenden ‚sexuellen Unersättlichkeit’ hinzu, wird offenkundig, was für ein Potenzial darin steckt, die Lebenswelten heterosexueller und homosexueller Figuren in der Literatur aus unterschiedlichen Perspektiven zu gestalten und zu konfrontieren – und diese Bücher, auch die von schwulen Autoren, auch zu lesen.

Es gibt also – ganz im Sinne Detlev Meyers – heute vielleicht keine ‚Schwulen-Literatur’ mehr, aber schwule Autoren sehen immer noch vieles anders. Eine vielfältige literarische Produktion von Autoren wie Christoph Geiser, Walter Foelske oder Joachim Helfer, Gunther Geltinger, Kristof Magnusson, Detlev Meyer oder Hendrik Otremba, Michael Roes, Jean Claude Sulzer oder Michael Sollorz, oder oder oder, belegt dies.