Die Schönheitslinie

Die Schönheitslinie

von Alan Hollinghurst

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Stegers

Klappenbroschur, 576 Seiten

Veröffentlichung: März 2025

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Die Schönheitslinie

Sommer 1983: Als der zwanzigjährige Nick Guest in den wohlhabenden Londoner Stadtteil Notting Hill zieht, eröffnet sich ihm eine ganz neue Welt. Er bewohnt die Dachkammer des Elternhauses seines Kommilitonen Toby Fedden, in den er heimlich verliebt ist. Doch statt Toby sind es vor allem die anderen Mitglieder der Familie, die Nick in ihr Leben integrieren: der konservative Tory-Abgeordnete Gerald, seine Frau Rachel und die manisch-depressive Tochter Catherine. Schon bald oszilliert Nicks Alltag zwischen den abgründig-existenziellen Gesprächen mit Catherine und glamourösen Festen und Empfängen. Gebildet und attraktiv wie er ist, kommt er gut an bei den Reichen und Mächtigen, die sich im Haus der Feddens die Ehre geben. Doch die Tuchfühlungen mit der Londoner High Society sind nur eine Seite von Nicks neuem Großstadtleben. Die andere sind seine ausgiebigen Erkundungen schwuler Sinnesfreuden. Hier wie dort stürzt er sich rückhaltlos hinein in den Strom der schnellen Genüsse und flüchtigen Reize. Dabei ist ihm das Streben nach Eleganz und Schönheit wichtiger als ethische Überzeugungen. Doch die schönen Fassaden bekommen Risse, als die Aids-Epidemie London erreicht.

Mit „Die Schönheitslinie“ schuf Alan Hollinghurst ein kunstvoll komponiertes Sittenporträt der Londoner Upper Class der Achtzigerjahre und einen zeitlosen Roman über die Suche nach Liebe und Schönheit. Als das englische Original 2004 erschien, wurde es von der Kritik für seine James’schen Qualitäten gelobt und im selben Jahr mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet

BIOGRAFIE

Alan Hollinghurst (* 1954 in Stroud, England) ist einer der bekanntesten britischen Schriftsteller der Gegenwart. Er arbeitete lange Zeit als Literaturkritiker für das renommierte Times Literary Supplement und ist Autor von sieben Romanen, u. a. „Die Schwimmbadbibliothek“ („The Swimming-Pool Library“) und „Der Hirtenstern“ („The Folding Star“). Sein neuer Roman „Our Evenings“ wird im Herbst 2025 bei Albino in deutscher Übersetzung erscheinen. Hollinghurst erhielt den Somerset Maugham Award und den James Tait Black Memorial Prize for Fiction. Für „Die Schönheitslinie“ wurde er 2004 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Er lebt in London.

LESEPROBE
Auszug aus „Die Schönheitslinie“, Kapitel 6

In der Eingangshalle brannte immer Licht, was ihr heute Abend eine unheimliche Atmosphäre der Wachsamkeit verlieh. Nick schloss hinter sich ab und steckte die Schlüssel wieder ein; diesmal hatten sie sich nach zwei Schritten durch sein Hosenbein gebimmelt und waren auf dem schachbrettartig gemusterten Marmorboden gelandet. Leo warf einen Blick in den Garderobenspiegel, runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Auf dem Konsoltischchen lagen Ersatzschlüssel, ein Opernglas, einer von Geralds grauen Filzhüten, ein Brief „Aus der Feder von“, adressiert an den Right Honourable Mr. und die Honourable Mrs. Gerald Fedden – und als Ensemble, als zufälliges Stillleben, im Spiegel wiederholt, erschienen sie Nick schön und gleichzeitig peinlich.

Er hielt einen Moment inne und lauschte. Das Licht der Messinglampe, die im Treppenschacht hing, erzeugte lange Schatten, die bis weit über die Türschwelle zum Speisezimmer reichten, legte aber nur das schwarze Seidenmieder einer Kessler aus dem neunzehnten Jahrhundert frei. Die Honourable und der Right Honourable hielten sich beide in Barwick für eine Besprechung der Angelegenheiten des Wahlbezirks auf, und während Nick sich diesen Umstand ins Gedächtnis rief, legte er sich noch einmal die Worte zurecht, mit denen er ihnen, sollten sie unerwartet doch hereingeplatzt kommen, die Anwesenheit von Leo erklären wollte. Es war ihm durchaus bewusst, dass die Feddens hier die Hausherren waren, mit allem Drum und Dran, der steinernen Treppe, dem Geländer, das erbarmungslos bis unters Dach reichte. Flüchtig küsste er Leo auf die Wange und zerrte ihn in die Küche, und die indirekte Beleuchtung der Einbauschränke erwachte flackernd zum Leben.

„Darf ich dir einen Whiskey anbieten?“

Und zum ersten Mal nahm Leo an. „Ja, gerne! Sehr schön! Vielen Dank, Nick.“

Er strolchte durch den Raum, als würde er ihn gar nicht richtig bemerken, blieb dann stehen und überflog die Wand mit den Fotos. Man hatte eines der Bilder von Tobys Geburtstagsfest aus dem Tatler gekauft und es vergrößern und rahmen lassen: ein Foto der Familie, alle mit einem irren Lachen, dazu der Innenminister, dem anscheinend im selben Moment bewusst wurde, dass er wie ein Eindringling wirken musste. Gleich darüber Gerald als Student im Frack, Hände schüttelnd mit Harold Macmillan in der Oxford Union. Wieder ersparte sich Leo einen Kommentar, und als Nick ihm das eisgekühlte Glas gab, sah er in seinen Augen und in seinem matten Lächeln, dass er aufmerksam beobachtete und sich alles merkte. Vielleicht veranschlagte er den Grad an Kränkung, den dieses ganze Tory-Gepränge enthielt. Nick spürte, dass sein eigener Status als Freund der Familie, als jemand, der einen Schlüssel zu Haus und Garten besaß, eine höchst unsichere Größe war.

„Komm“, sagte er, „gehen wir nach oben.“

Er nahm je zwei Stufen auf einmal, viel zu sehr in Eile, und als er sich auf dem Treppenabsatz umdrehte, sah er, dass Leo in dem Maße bummelte wie er, Nick, sich beeilte. Er ging zum Salon und drückte einige Schalter, worauf Lampen auf Wandtischen und über Bilderrahmen angingen – sodass Leo, als er in den Raum geschlendert kam, diesen mit den gleichen Augen wahrnahm wie Nick zwei Jahre zuvor: Schatten und Spiegelungen und schimmerndes Blattgold. Nick stellte sich vor dem Kamin auf, sehnte einen Erfolg herbei, aber sah in Leos Gesicht unterdrückte Neugier.

„Ich bin das nicht gewohnt“, sagte Leo.

„Oh…“

„Ich trinke keinen Whiskey.“

„Ach so, ja…“

„Wer weiß, was der in mir auslöst. Ich könnte gefährlich werden.“

Nick grinste angespannt und sagte: „Ist das eine Drohung oder ein Versprechen?“

Er trat vor ihn hin und berührte Leo an der Hüfte – seine Hand blieb einige Sekunden dort liegen. Wären sie allein, für sich, hätten sie normalerweise geknutscht, sich eng umarmt, obwohl Leo gelegentlich schon über Nicks Drängen lachen musste und gesagt hatte: „Keine Panik, Babe! Ich laufe dir nicht davon! Ich gehöre dir!“

Leo stellte sein Glas auf dem Sims ab und betrachtete Guardis San Giorgio Maggiore, das einem nach dem Schatten des Todes wie ein ziemlich nichts sagendes Bild vorkam – schwer vorstellbar, dass sich Rachel vor ihren Gästen über „das Raffinierte“ darin ausließ. Unter dem Bild, auf dem Sims, standen die Einladungen aufgereiht, teils ineinander gesteckt, bildeten sie geradezu eine lange, verschnörkelte gesellschaftliche Sentenz: „Mr. und Mrs. Geoffrey & Gräfin von Hexham…“, „Lady Carbury zu Hause zum…“,

„Michael und Jean…“, „Der Minister des Äußeren…“ und andere erstaunlich dicke Karten, mit abgeschrägten Rändern wie „Lord Chamberlain wird von Ihrer Majestät aufgefordert…“ Sie alle blieben dort auch lange nach dem eigentlichen Ereignis stehen, für Nick hatten sie den nachhaltigen Kitzel des Pompösen. Allerdings sah er jetzt auch sehr rasch, dass dieses besondere Vergnügen daran eine bereitwillige Komplizenschaft mit Geralds Hang zur Angeberei voraussetzte. Er wandte sich ab, tat so, als wären die Einladungen nicht da, und Leo spöttelte: „Meine Güte, was sind das für Snobs.“

Nick lachte. „Eigentlich sind sie keine Snobs“, sagte er. „Das heißt, er vielleicht schon. Sie sind eher…“

Es war schwer zu erklären, dem festen Pakt ihrer Ehe kaum zu entnehmen, wer jeweils was sanktionierte. Der eine bildete das Alibi für den anderen. Nick sah, dass Leo das Wort Snob in einem freieren Sinn verwendete, für reiche Leute, die in schönen Häusern wohnten, aber auch für feine Pinkel. Plötzlich hatte er den Gedanken, er könnte diese Einladung, in die Kensington Park Gardens zu kommen und oben im Bett zusammen zu schlafen, als ausgefeilte und vernichtende Zurückweisung auffassen. Er beobachtete ihn, wie er noch einen Schluck trank, absichtlich, und dann ans Fenster trat, das nach vorne ging. Nick versuchte, sich an den Rat zu halten, den er ihm vor einer Viertelstunde gegeben hatte, seinem Onkel Leo zu vertrauen. Der Raum war für Gesellschaften in größerem Stil geschaffen und eingerichtet, und als hätte sich eine dicke Tür aufgetan, hörte er für einen Moment das wie aufgestaute Gerede und Gelächter, das einmütige gesellschaftliche Dröhnen statt des Tickens der Uhr und des Moussierens der Stille.

„Das ist ein hübsches Austernmuster“, sagte Leo und zeigte dabei auf eine Kommode aus Walnussholz. „Und das da, mit so einem Blau, kann nur Sèvres-Porzellan sein, wenn mich nicht alles täuscht.“

„Ich glaube, ja“, sagte Nick, für den diese Verbeugung vor einem gemeinsamen Interesse auch den alten Pete missbilligend ins Zimmer rief. Der alte Pete hätte so eine Verlegenheitssituation mit irgendeiner schwulen Schlagfertigkeit bewältigt.

„Ja, ja, es gibt hier einige ganz hübsche Stücke“, sagte Leo trocken und ein bisschen schwerfällig, schüchtern vielleicht. Er wandte sich Nick zu. „Du hast dich gemausert.“

„Darling. Mir gehört kein bisschen davon…“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Leo, setzte sich an den Flügel und stellte nach kurzer Überlegung sein Glas auf einem Buch ab, das auf dem Deckel lag. „Was haben wir denn hier… Mozart. Na ja, nicht schlecht“, sagte er mit einem prüfenden Blick auf das Deckblatt des Notenheftes im Ständer und blätterte zurück bis zu der immerzu aufgeschlagenen Seite mit dem Andante-Satz. „In welcher Tonart steht es denn?“ Als verlangte die Tonart eine spezielle Taktik wie das Golfspiel. „F-Dur…“

„Ein komischer alter Flügel“, sagte Nick.

Wenn Leo jetzt spielte, vor allem, wenn er schlecht spielte, dachte er, würde er die leblosen Geister des Hauses wecken, und gähnend und schimpfend kämen sie herein.

„Ach, das geht schon“, murmelte Leo, sah mit einem zerstreuten misstrauischen Blick auf die Noten und fing an zu spielen. Es war der große zweite Satz von KV 533, zurückhaltend, tastend, an Bach angelehnt, den Nick an dem Abend, als das Treffen mit Leo geplatzt war, aufgeschlagen vorgefunden und zu spielen versucht hatte – bis Catherine sich beklagte und er sich entschuldigte und Waldorf-Musik klimperte. Sich für etwas zu entschuldigen, das man sich am meisten wünschte, zuzugestehen, dass es abscheulich und langweilig, „abstoßend und gefährlich“ war – das war das Schlimmste. Das schien die Musik zu ahnen, jenen unwiderstehlichen Bogen der Hoffnung und seine hohle Inversion. Leo spielte ziemlich sicher, und Nick stand hinter ihm, geleitete ihn durch das Stück hindurch, schubste ihn durch die sogleich korrigierten Stellen und die zermürbenden Unschlüssigkeiten, die eine Tortur für jeden sind, der vom Blatt spielt, aber auch den Lohn erhöhen, wenn alles glatt läuft. Als Leo sich dann auf einmal doch heftig vertat, stöhnte er entmutigt auf, haute wahllos in die Tasten und griff nach seinem Glas.

„Ich bin wohl zu abgefüllt zum Spielen“, sagte er, nicht unbedingt im Scherz.

Nick lachte. „Du bist ja richtig gut. So gut kann ich nicht spielen. Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt spielen kannst.“

Er war sehr gerührt, verspürte aber dann einen Dämpfer, als er sich seiner Unterstellungen bewusst wurde. Leo in Jeans, Sweatshirt und Baseballschuhen, der einen Mozart aus dem sonoren alten Bösendorfer hervorzauberte, dieser Anblick eröffnete neue Perspektiven. Anscheinend hatte das Spiel auch ihn entspannt, denn er wirkte jetzt wie ein schüchterner Gast, der einen geistreichen Witz erzählt hatte, durch das Hinausgezögerte und Ausschnitthafte noch erhöht, und der plötzlich feststellte, dass er Vergnügen daran fand. Nick packte ihn von hinten und pflanzte einen Kuss auf seine Wange.
Leo kicherte und sagte: „Ist ja schon gut, Babe…“

Nick gestand: „Ich liebe dich“, schüttelte ihn eng umschlungen und stöhnte lustvoll über die harte muskelstrenge Körperwärme, die von ihm ausging. Leo hob seine freie rechte Hand und fasste Nick am Arm. Nach einer Weile sagte er: „Was für ein scheußliches Bild.“

Er meinte Norman Kents Porträt von Toby im Alter von sechzehn Jahren, und es war dieses Konterfei – abgesehen von der einschüchternden Bronzebüste von Liszt –, auf das der Blick desjenigen, der gerade auf dem Klavier klimperte, unweigerlich fiel. Während Leos Spiel hatte es Nicks Gedanken eine grelle Tönung verliehen.

„Ich weiß… Armer Toby.“

„Eigentlich ist er nämlich ganz schnuckelig.“

„Oh, ja.“

„Du hast mir nie gesagt, ob du mal etwas mit ihm gehabt hast, als ihr beide in Oxford wart.“

Nick hatte Leo noch nicht verraten, dass er vor ihrem gemeinsamen Gebalze im Gebüsch noch nie „etwas“ mit jemandem gehabt hatte. „Nein. Er ist total hetero.“

„Ach ja?“, fragte Leo skeptisch. „Du hast es doch bestimmt mal bei ihm probiert.“

„Nein, eigentlich nicht“, sagte Nick. Er stellte sich aufrecht hin, die Hände noch immer auf Leos Schultern, und lachte den Jungen im Blazer mit dem rosa Gesichtchen an. Das schlummernde Bedauern über Verpasstes konnte jederzeit zum Leben erweckt werden, und für einen Moment schien ihm selbst Leo, der warme Körper unter seinen Händen, verglichen mit der unerreichbaren Blüte Toby, billig und provinziell.

„Ich fand nur die Art, wie er dich angeguckt und geküsst hat, irgendwie schwuchtelig.“

„Ach was!“, murmelte Nick, lachte daraufhin und zerrte an Leo, damit er aufstand und ihm die echten Küsse gab, die Toby ihm niemals gewähren würde.

Leo zögerte den Moment noch etwas hinaus. „Ihre Lordschaften sehen das also ganz locker, wenn Homos im Haus sind?“

„Natürlich“, sagte Nick. „Die gehen ganz normal damit um.“

Im Geist hörte er Catherine sagen: „Solange man nicht darüber spricht.“ Leicht exaltiert fuhr er fort: „Sie haben viele schwule Bekannte. Sie haben mir sogar gesagt, ich soll dich ruhig mal mitbringen, Darling.“

„Oh“, sagte Leo in einer feinen Tonlage, die Rachel in nichts nachstand.

***

Nick lag nackt auf dem Federbett, verwundert und mit rasendem Puls. Leo hatte seine Mutter angerufen, ihr gesagt, er würde über Nacht bleiben; es war ein Risiko, ein Nachgeben und daher eine Verpflichtung. Nick lauschte dem Rauschen der Dusche im Badezimmer auf dem Flur gegenüber. Er sah sich selbst im Garderobenspiegel und schlüpfte wieder unter die Bettdecke. So lag er da, eine Hand unterm Kopf, in einem fast schmerzlichen Zustand des Glücks und der Angst. Die Tür unten im Erdgeschoss war dreifach verschlossen, die Lichter im Salon und in der Küche waren aus, nur eine einzelne Laterne warf ihr kaltes Licht in die Eingangshalle. Die Tür zu Catherines Schlafzimmer war zu, aber er war sich sicher, dass sie ohnehin nicht da war. Sie hatten das Haus für sich allein. Das Fenster war einen Spaltbreit geöffnet, und er hörte die halsbrecherischen Läufe und Triller eines Rotkehlchens, das seit einiger Zeit abends im Garten sang und das er zuerst trotzig für eine Nachtigall gehalten hatte; eine alte Dame, die auf dem Bürgersteig stehen geblieben war, um zu lauschen, hatte ihn aufgeklärt. Somit also hatte er noch immer keine Nachtigall in seinem Leben gehört, aber es war kaum vorstellbar, dass sie noch schöner singen sollte als sein Rotkehlchen. Die Frage war, wann Gerald und Rachel nach Hause kommen würden. Wahrscheinlich erst spät, morgens hatte Gerald seine „Sprechstunde“, dann noch die zweistündige Fahrt. Nick musste über ihre unbewusst gewährte Großzügigkeit lachen.

Die Dusche rauschte nicht mehr, das Rotkehlchen trällerte weiter, schmollte kurz und setzte dann unnachgiebig wieder ein. Noch besser hätte Nick es gefallen, wenn Leo ins Bett gekrochen wäre, ohne sich vorher zu duschen; Nick liebte den schwach säuerlichen Geruch seiner Haut, den strengen in den Achselhöhlen, den süßlich schalen zwischen seinen Beinen. Leos Körpergerüche waren kleine Lektionen, die immer aufs Neue erlernt werden wollten, kleine Erkenntnisse der Echtheit. Leo selbst waren sie eher unangenehm, eine Quelle der Scham geradezu. Er hatte einen stark ausgeprägten Geruchssinn, der sich in einer Warteschlange oder einem Raum voller Menschen häufig durch eine verzogene Oberlippe oder ein Zucken der Nüstern offenbarte. Nicks Gerüche mochte er gerne, behauptete er beharrlich, und Nick, der an sich selbst nie einen spezifischen Geruch festgestellt hatte, war unsicher, ob Leo die Wahrheit sagte oder nur galant sein wollte – vielleicht eine Liebesmixtur aus beidem.

Ein Zauber war in all dem – im Bett zu liegen, einem Einzelbett, und was es implizierte, an sich herumzuspielen und darauf zu warten, dass sein Geliebter erschien. Diese Haltung, sie stand für lebenslange Einsamkeit, für unaufhörliches Fantasieren, die Überlegenheit des Jungen in einer Welt der Träume, in der immerzu Männer auftauchten, die taten, was er von ihnen verlangte; und jetzt: das Klappern der Badezimmertür, das Klacken der Schnur des Lichtschalters, das Knarren der Dielen auf dem Flur – Signale einer wirklichen Ankunft, und in wenigen Sekunden würde sich die Tür öffnen, und Leo würde eintreten…

Wie schwarz er auf einmal wirkte, in dem weißen Handtuch, das er sich eng um den Hintern und die gezügelte Beule seines Schwanzes geschlungen hatte. In der Hand hielt er seine zusammengefalteten Kleidungsstücke wie ein Rekrut, nackt, geschrubbt und die Uniformhose ausgehändigt – er schaute sich um, legte sie dann auf dem Schreibtisch ab, neben die blauen Bücher aus der Bibliothek. Er war eine Spur zu förmlich, er zwinkerte Nick zu, doch das Banale und das Neue des Augenblicks rührten ihn sichtlich. Für Nick verfinsterte sich dieser Augenblick, als wären sie zwei Ausreißer, im Hochgefühl ihres Tuns, verfolgt von den Ängsten, denen sie getrotzt hatten, zwei Liebende, die in ihrer ersten Nacht in einem Hotel plötzlich Fremde voreinander waren. Aber sie waren ja nur nach oben ausgerissen, unters Dach, es war also absurd. Er war atemlos vor Stolz, dass Leo hier bei ihm war, warf das Federbett zurück und sagte: „Tut mir Leid wegen des Bettes“ – und rückte etwas zur Seite, um ihm Platz zu machen.

„Hä…?“, sagte Leo.

„Ich glaube, du kommst sowieso nicht zum Schlafen.“

Leo ließ das Handtuch fallen und sah Nick ohne zu lachen an.

„Das hatte ich auch nicht vor“, sagte er.

Nick nahm die Herausforderung leise stöhnend an. Es war das erste Mal, dass er Leo nackt sah, und zum ersten Mal sah er den maskenhaften Schatten seines Gesichts, träge beobachtend, schnell zynisch, abwechselnd intelligent und begriffsstutzig, zu einem reinen Gefühl dahinschmelzen. Leo atmete durch den Mund, und in seiner Miene lag zuckende Lust und auch, so schien es Nick, ein Selbstvorwurf – dass er so langsam, so eitel und so blind gewesen war.