Invertito Jahrgang 24

Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Broschur, 250 Seiten
Veröffentlichung: Juni 2023

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Invertito Jahrgang 24

Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt – Lesbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert. In der 24. Ausgabe von Invertito, dem Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, werden erstmals mehrheitlich Hauptbeiträge präsentiert, die sich mit Frauen begehrenden Frauen beschäftigen – und zwar vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik.

Aus dem Inhalt:

Lio Okroi: Queering History? Spannungsfelder des Erinnerns im Audioguide „Queere Geschichte*n Freiburg“

Ingeborg Boxhammer, Christiane Leidinger: Staatlich-medial begrenztes Empowerment? – Eine Geschichte der lesbischen Selbstorganisierung „Neue Damengemeinschaft“ um 1900

Steff Kunz, Muriel Lorenz, Mirijam Schmidt: „[S]ie nennen sich Bubi und Mädi, lachen, treiben allerhand Allotria“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten

Kirsten Plötz: „… eine der massivsten Bedrohungen“. Westdeutsches Ehe- und Familienrecht vs. lesbische Liebe, 1946–2000

Weitere Beiträge:

Maik T. Schurkus: „Guter Forster, geh und klag die Götter an.“ Georg Forsters Auseinandersetzung mit der gleichgeschlechtlichen Liebe

Manfred Herzer-Wigglesworth: Entretien avec M. Foucault – Notizen zur neuesten Hirschfeld-Kritik und Foucault-Apologie

Eike Wittrock: Fragmente einer Chronik des schwulen Theaters – 1956–1976

Nora Eckert: Meine Männer, welche Männer? Trans*Frau sein in hedonistischen Zeiten – ein Bericht über die 1970er Jahre

Rezensionen:

Über neue Bücher von Anna Hájková, Jens Dobler, Craig Griffiths, Jens Nordalm u. a.

ÜBER INVERTITO

Invertito wird seit 1999 vom Fachverband für Homosexualität und Geschichte e. V. (FHG) herausgegeben und erscheint jährlich im Männerschwarm Verlag. Thematisch befasst sich die Publikation mit unterschiedlichen Aspekten, die die Geschichte nicht heteronormativer Lebensweisen betreffen – von politischen und kulturellen Fragen bis zum Umgang mit Religion, Wissenschaft und der Entwicklung queerer Communities. Schwerpunktthemen sind bei Invertito kein redaktioneller Standard, wurden aber bei einzelnen Ausgaben gesetzt, zum Beispiel „Homosexualitäten und Crossdressing im Mittelalter“ oder im letzten Jahr „Verfolgung homosexueller Männer und Frauen in der NS-Zeit & Erinnerungskultur“. Für den nun vorliegenden 24. Jahrgang wählte die Redaktion das Schwerpunktthema „esbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert“. Neben den Hauptbeiträgen enthält jede Invertito-Ausgabe einen ausführlichen Teil mit Rezensionen internationaler Publikationen zum Thema Homosexualität. Hierbei ist die Mitwirkung der Leser*innen gefragt, die ausdrücklich zum Einreichen von Rezensionen zu interessanten Neuerscheinungen sowie innovativen Beiträgen und Berichten zu den unterschiedlichen Themenfeldern der Geschichte der Homosexualitäten aufgerufen sind.

LESEPROBE
EDITORIAL DER HERAUSGEBER*INNEN

Liebe Leser*innen,

erfreulicherweise kann Invertito 24 erstmals mehrheitlich Hauptbeiträge präsentieren, die sich mit Frauen begehrenden Frauen beschäftigen – und zwar vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik. Unter dem Titel Kreativ, innig, unsichtbar, unterdrückt – Lesbisches Leben in Deutschland im 20. Jahrhundert versammeln wir folgende Beiträge: Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger stellen in Staatlich-medial begrenztes Empowerment? die Geschichte der lesbischen Selbstorganisierung „Neue Damengemeinschaft“ um 1900 vor, eine Damenvereinigung, die vor allem deshalb bekannt wurde, weil sie 1909 in der Presse attackiert wurde. Anhand der Pressekampagne gegen die Neue Damengemeinschaft arbeiten die Autorinnen heraus, wie eng der politisch-soziale Rahmen für lesbische Frauen im Kaiserreich gesteckt war. Steff Kunz, Muriel Lorenz und Mirijam Schmidt liefern mit „[S]ie nennen sich Bubi und Mädi, lachen, treiben allerhand Allotria“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten Zwischenergebnisse ihrer Untersuchungen aus ihrem Forschungsprojekt „Alleinstehende Frauen“, „Freundinnen“, „Frauenliebende Frauen“ – Lesbische* Lebenswelten im deutschen Südwesten (ca. 1920er – 1970er Jahre). Dabei stützen sie sich vor allem auf biografische Materialien und staatliche Akten, insbesondere Sorgerechts- und Fürsorgeakten sowie Akten von Patientinnen aus Heil- und Pflegeanstalten. Der Beitrag dokumentiert, dass es auch außerhalb der großen Metropolen im deutschsprachigen Raum Frauen liebende und Frauen begehrende Frauen gab, die staatlicher Diskriminierung sowie gesellschaftlichen Vorurteilen ausgesetzt und in ihrer persönlichen Entfaltung behindert waren.

Kirsten Plötz wendet sich in ihrem Beitrag „… eine der massivsten Bedrohungen“. Westdeutsches Ehe- und Familienrecht vs. lesbische Liebe, 1946–2000 einem in der Geschichtsforschung noch wenig beachteten Thema zu, der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen im bundesdeutschen Ehe- und Familienrecht und dessen Auswirkungen speziell auf lesbische Mütter. Wie anhand der bis Ende des 20. Jahrhunderts gängigen Praxis des Sorgerechtsentzuges gezeigt wird, schränkte das Ehe- und Familienrecht die Möglichkeiten, lesbisch zu leben, erheblich ein. Angesichts der nach wie vor stark ausgeprägten Unsichtbarkeit von lesbischen Frauen in vielen Lebensbereichen ist es umso wichtiger, Diskriminierungen und Verhinderungen gleichgeschlechtlicher Liebe in Gesellschaften, die grundlegend entlang geschlechtlicher Hierarchien organisiert sind, entsprechend nach Geschlecht zu untersuchen. Daher sollte das Ehe- und Familienrecht in queere Geschichtsschreibung einbezogen werden. Viele Frauen, die lesbisch liebten, waren verheiratet und damit oftmals abhängig gestellt.

Über die lesbische Geschichtsschreibung hinausgehend, sind die drei in diesem Heft versammelten Schwerpunktbeiträge als Bereicherung für die deutschsprachige LSBTIQ-Forschung zu verstehen. Zum einen zeigen sie, mit welchen besonderen gesellschaftlichen und politischen Hindernissen Frauen begehrende Frauen konfrontiert waren und welche Bedeutung ihnen für die Entwicklung einer LSBTIQ-Bewegung zukam. Zum anderen eröffnen die in den Beiträgen gewählten Themenschwerpunkte und Ansätze neue Perspektiven für die geschichtswissenschaftliche Erforschung Männer begehrender Männer und geschlechtlich nonkonformer Menschen, etwa wenn es um die Möglichkeiten der Zusammenarbeit innerhalb der politischen Emanzipationsbewegungen oder um die Frage der Elternschaft geht.

Zu diesen drei Beiträgen gesellt sich Lio Okrois Beitrag über die Konzeption eines queeren Stadtrundgangs bzw. Audioguides in Freiburg. Queering History? Spannungsfelder des Erinnerns im Audioguide „Queere Geschichte*n Freiburg“ nimmt die Entwicklung von Sexualitäten, Geschlechtern und Identitäten in der Stadtgeschichte anhand ausgewählter Stationen in den Blick und hinterfragt, wie wir uns heute auf sie beziehen können. Dabei werden Dichotomien, Vorannahmen und Ausschlüsse reflektiert und Ambivalenzen aufgespürt. Der Beitrag veranschaulicht Zielkonflikte zwischen den theoretischen Ansprüchen des Queering History und projektspezifischen Anforderungen. Diese Spannungsfelder des Erinnerns können nicht gänzlich aufgelöst werden, sondern erfordern vielfach Kompromisse und Abwägungen. Lio Okroi behandelt zentrale Spannungsfelder im Hinblick auf die Verwendung von Identitätskategorien, die Einbindung vielfältiger Stimmen, Probleme in Bezug auf die Informationslage, die Behandlung von Einzelpersonen sowie die Thematisierung von Gewalt.

Maik T. Schurkus schließlich untersucht in „Guter Forster, geh und klag die Götter an“, wie der Untertitel besagt, Georg Forsters Auseinandersetzung mit der gleichgeschlechtlichen Liebe. Der Naturforscher Georg Forster (1754-1794) äußerte sich in zahlreichen Briefen und Tagebucheinträgen über gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Männern und stand im engen Austausch und in persönlicher Beziehung zum Historiker Johannes (von) Müller (1752-1809) und zum Schauspieler und Dramatiker August Wilhelm Iffland (1759-1814), deren homosexuelle Neigungen beziehungsweise Beziehungen bereits zu Lebzeiten öffentlich bekannt waren. Auch Forster sah sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, „griechischen Neigungen“ zu frönen. Maik T. Schurkus liefert einen Überblick über entsprechende Zeugnisse insbesondere aus Forsters Kasseler Zeit (1780-1785) und ordnet sie in den sich Ende des 18. Jahrhunderts verändernden Diskurs über die Vielfalt menschlicher Sexualität ein.

Eike Wittrock versammelt in seinem kleinen Beitrag Fragmente einer Chronik des schwulen Theaters – 1956–1976 Beispiele zur (Vor-)Geschichte des schwulen Theaters in der frühen Bundesrepublik. Bereits bevor mit Gruppen wie Brühwarm eine rein schwule Theaterbewegung entstand, wurde bereits im Theater für die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Akzeptanz von (männlicher) Homosexualität agitiert. Manfred Herzer-Wigglesworth legt in seinem Artikel Entretien avec M. Foucault. Notizen zur neuesten Hirschfeld-Kritik und Foucault-Apologie dar, warum nach seiner Auffassung das 1978 in deutscher Übersetzung erschienene Werk Sexualität und Wahrheit Band 1: Der Wille zum Wissen des französischen Philosophen Michel Foucault seit den 1980er Jahren speziell in der (deutschsprachigen) Forschung zur Geschichte von Schwulen und Lesben nur allzu unkritisch rezipiert worden sei. Für Herzer-Wigglesworth enthält Foucault kein Emanzipationsversprechen.

Nora Eckert liefert mit Meine Männer, welche Männer? Trans*Frau sein in hedonistischen Zeiten einen aufschlussreichen Bericht über ihr Leben als trans*Frau im Berlin der 1970er Jahre.

Wir wünschen eine bereichernde Lektüre!
Die Redaktion

Leicht editierte Fassung des Vorworts aus Invertito Jahrgang 24