Umsteigen in Babylon
UMSTEIGEN IN BABYLON
Umsteigen in Babylon

Umsteigen in Babylon

von Marko Martin

Klappenbroschur, 240 Seiten

Veröffentlchung: August 2016

Zum Buch im Salzgeber.Shop

Umsteigen in Babylon

Marko Martin, Schriftsteller und Weltreisender aus Passion, glaubt nicht an das jüngste Gerücht, alles sei heute nur digital und virtuell. Eine Nacht in Guatemala-City, ein Morgen in Lissabon, der via Angola nach Schwaben führt; ein Club in Vientiane, dessen Tür plötzlich von innen verschlossen wird: Raum für Geständnisse, Geschichten und ein Geschehen, das nicht in Reiseführern zu finden ist. Die jungen Männer, die dem Autor auf seinen Streifzügen durch die Kontinente begegnen, sind zweifelsfrei real, und die Geschichten, die sie ihm schenken, lassen gar eine Art Utopie aufscheinen: Erfahrungen sind vermittelbar, physische Lust und die reflektierte Freude am Erzählen sind stärker als Tabus und Pressionen. Ob in Bombay, Istanbul oder Tel Aviv, in Madrid, Berlin oder San José – es gibt sehr wohl noch Abenteuer zu erleben in dieser Welt. Marko Martin, ironischer Sprachspieler und skrupulöser Intellektueller zugleich, hat ein mutwilliges Vergnügen daran, ihr literarischer Chronist zu sein.

„Linoleum-Thais“ und „Kuckucksuhren-Osteuropäer“, Iraner mit Rolex und Kubaner mit Kapuzenshirt Marko Martin reist um die Welt, flaniert durch Berlin und lässt sich mitnehmen, aufpicken, abschleppen. Der Blick in die Wohnungen, in die Schlafzimmer fremder Länder fördert manche Wahrheit zutage, die sexuellen Gewohnheiten, Lebenslügen und Sehnsüchte seiner Dates erst recht: „Aber wovon sie alle schwärmen, alle, ist Tel Aviv. Stell dir vor, ausgerechnet das verbotene, ihnen unzugängliche Tel Aviv, der Traum von nackten Israeli-Soldaten.“ Wenn der Weg zum Kennenlernen auch erst einmal durchs Bett führt, taugt diese geballte Ladung internationaler Affären kaum als Porno, denn seine Geschichten sind umrankt und durchdrungen von vielfältigen literarischen Inspirationen.

Umsteigen in Babylon
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BIOGRAFIE

MARKO MARTIN, geb. 1970, verließ im Mai 1989 als Kriegsdienstverweigerer die DDR und lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Bekannt wurde er durch seinen Roman „Der Prinz von Berlin“. Seine Erzählbände „Schlafende Hunde“, „Die Nacht von San Salvador“ und „Dissidentisches Denken“ erschienen in der Anderen Bibliothek. Weiterhin erschienen „Treffpunkt 89“, „Madiba-Days“, die Liebeserklärung „Tel Aviv. Schätzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt“, „Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens“ und zuletzt „Die Unschuldigen“.

LESEPROBE
Helden wie wir

Stand da in seinen Stiefeln, braun gebrannt, rasiert und horny. Mit unverschämtem Lächeln an seiner kleinen metallenen Erkennungsmarke nestelnd, in Khakihemd und -hose der Tsahal in dieser Hotelabsteige am Ende der Allenby, vormals Polizeiwache der britischen Mandatsmacht, in unmittelbarer Strandnähe, in unmittelbarer Nähe (glaubtest du) zu dir. Zog sich aus zur Feier seines day off, stieg ohne Zögern ins knarrende Bett, verschaffte dir und sich den Kick, blätterte danach ungläubig in den stockfleckigen Büchern, die du in den Antiquariaten der Jeckes oben an der Ben Yehuda gekauft hattest, fand es cool.

Geht nun, zu anderer Jahreszeit und in anderer Stadt, weniger braun gebrannt und endlich ohne Uniform, dreitagebärtig, aber weiterhin lächelnd und noch immer horny, klaglos aus deiner Wohnung, Bierpulle in der Hand, um in den versifften WGs blondhaariger, muskelgestählter goyim in Prenzl- und Schöneberg aus Jacke, Pullover, Jeans und Winterschuhen zu steigen. Hält geflissentlich den Mund (öffnet ihn, vermutest du, allerdings für anderes), wenn sie wieder einmal Israel fucking country, but you are great lallen, ein verdorbener kleiner Opportunist. Ganz so wie du, damals in Tel Aviv, den leichten Bauchansatz einzogst, um fünfzehn Jahre Altersunterschied wegzulügen und auf dem Bett, über und unter ihm, irgendeinen kitschigen Sarit-Hadad-Song summtest, dubioser Identifikations-Champion.

Und wie hätte er sich deiner Meinung nach richtig verhalten?
Wir hätten ein wenig durch die Stadt streifen können. Ganz einfach, ohne Zwang oder Verpflichtung.
Wolltest du ihn zu einem Komplizen deiner Wanderungen machen, vom Jüdischen Museum zum Checkpoint Charlie zur Schaumparty ins Apollo?
Vielleicht schon, ich …
My name is Harvey Milk and I want to recrute you.
Warum nicht? Wenigstens an einem der Abende hätten wir ins Kino gehen können. Immerhin war Sean Penn großartig.

Und du selbst? In seinem Alter damals in San Francisco? Bist verhuscht durch die Castro Street gelaufen, auf der Suche nach Kontakt, voller Paranoia vor überall lauernder Infektion. Warst, bis ich ankam und dich besuchte, vor allem nie wieder bei den interessanten Partys deiner Stipendiatenkollegen gewesen. Dabei hatten sie dir doch von Milk erzählt, vom Schock von 1978. Und wolltest es nicht wissen mit deinen Ostwestberliner Mauer-Scheuklappen.

Immerhin habe ich mir in einem der Castro-Antiquariate Humboldt’s Gift von Saul Bellow gekauft.
Jeder ist auf seine Art ein Ignorant, ein Barbar.
Und traute mich trotzdem nicht mehr. Dreiundzwanzig sein und kein Sex in Frisco!
Umso mehr hast du gejubelt, als ich vor der Tür deines abgewrackten Hotels an der Market Street stand …
Und wie! Wegen der Liebe, die alles mit einschließt, auch das. Also …
Meinst du, ich sollte unseren kleinen Helden eher bedauern, anstatt mich an ihm für das zu rächen, was ich damals nicht getan habe?
You name it.
Wegen der Gerechtigkeit?
Wegen der Genauigkeit. Wegen der Literatur. Dios, soll ich auch noch Lektor sein?
Aber er war außerhalb von Tel Aviv plötzlich so verdammt unjüdisch …
Bitte?
So interpretations-abstinent, so freundlich-dumpf einfach alles geschehen lassend. Und falls er Fragen hatte, dann solche, über das Faltblatt des U-Bahn-Plans gebeugt: „Turmstraße, what is Turmstraße? Ah, Tower Street, but where is the Tower? Is Birkenstraße the same like Birkenstock, but was is Birkenstock? Schöneberg means Beautiful mountain, nachon, so is there a mountain?“ Ahhh …
Ich finde das sehr amüsant.
In meiner Beschreibung!
In seiner Optik!
Außerdem, sein Lieblingswort war nice. Mein Schwanz, meine Bücher, dein Klavier und deine CDs, unsere Fotos. U- und S-Bahn, der Alexanderplatz, die Döner-Kebabs, die Penner, das Bier, seine Internetbekanntschaften: nice. Als wäre er nicht mehr fähig, das zu tun, was sie in Tel Aviv doch alle ohne Unterlass veranstalten: Kommentieren-kommentieren-kommentieren, eine einzige Alltags-Gemara, wenn du verstehst. Stattdessen dieses blöde goyische nice!

Du dagegen hörst dich gerade ziemlich verbittert an, sehr unnice, ein beleidigter Enddreißiger. Wie wär’s, du schleppst ihn noch im Nachhinein vor ein Komitee zur Untersuchung unjüdischer Umtriebe?
Good night and good luck … Ab jetzt jedenfalls nie mehr niedere Dienstgrade.
Falsch: ab jetzt nie mehr neckische Tucken-Rhetorik. Der Tribut an diesen Teil deines Publikums ist übererfüllt.
Aye-aye, Sir.
Und jetzt heraus mit der Wahrheit.
Ich weiß nicht, welche Wahrheit von was es gewesen sein könnte, jedenfalls aber lag sie am Wegrand. Genauer: gleich obenauf in seiner offenen Reisetasche, umrahmt von all den Klamottenhügeln, die er im Wohnzimmer aufgetürmt hatte und in die er mit traumwandlerischer Sicherheit griff, bevor er aus dem Haus ging. Do I look nice?

Du hast also geschnüffelt. Es war ein Buch, was also konnte ich dagegen tun? Ein Reisetagebuch, nein, viel schlimmer, verletzlicher, rührender, kitschiger: ein Poesiealbum mit einem aufgeklebten Schmetterling aus Seide auf dem kartonierten Umschlag. So ein Schmetterling, das einem für einen Moment das Herz stehenbleibt! Und innen Kinderschrift auf Linien, hebräische Blockbuchstaben, flankiert von roten Herzchen und bunten Blümchen. Weiß der Teufel, wer sie ihm, dem Ex-Soldaten, gemalt hatte.
Und würdest es nie erfahren vom verdorbenen Kind, dessen Kindlichkeit dich überforderte.
Was meinst du, hatte er es wohl seinen Berliner Bekanntschaften anvertraut?
Was soll die Antwort sein? Du hast dich doch bereits gewappnet, mit den vermutlich ungerechten Sätzen dieser Geschichte.