Mit Beiträgen von Jens Dobler, Kevin Junk, Rüdiger Lautmann, Douglas Pretsell, Axel Schock und Heinz Voß
Hardcover, 190 Seiten
Veröffentlichung: April 2025
Karl Heinrich Ulrichs, Jurist, Sexualforscher, Dichter und Züchter von Seidenraupen, war ein Ausnahmemensch des 19. Jahrhunderts. In einer Zeit, als „Sodomie“ der Kirche als Sünde und „widernatürliche Unzucht“ dem Staat als Verbrechen galten, gelang es ihm, sich von all diesen Vorurteilen freizumachen und die seelische und körperliche Liebe zwischen Menschen des gleichen Geschlechts als einen ganz natürlichen Vorgang aufzufassen. Erst in historischer Perspektive wird Ulrichs wahre Größe sichtbar – gerade auch im Vergleich zum bekannteren Arzt Magnus Hirschfeld, der nach Ulrichs Tod einen großen Schritt zurückging, indem er um Verständnis für Homosexualität als „Fehler der Natur“ warb.
Die Würdigung von Leben und Werk Karl Heinrich Ulrichs’ war das zentrale Anliegen von Wolfram Setz, dem 2023 verstorbenen Herausgeber der Bibliothek rosa Winkel. Folglich erscheint auch der Ulrichs-Gedenkband „Invictus – Unbesiegt“ in der historischen Buchreihe. Der Soziologe und Rechtswissenschaftler Rüdiger Lautmann würdigt in seinem Artikel Ulrichs oft übersehene Leistungen als Sexualforscher, Axel Schock berichtet über die Widerstände, Straßen und Plätze in Deutschland nach Ulrichs zu benennen, und der Berliner Autor Kevin Junk beschreibt, wie er als schwuler Mittdreißiger von heute den Vorgänger im Kampf um homosexuelle Emanzipation wahrnimmt.
Weitere Beiträge beleuchten Ulrichs aus Sicht der Queer Theory und rekonstruieren die Persönlichkeitsmuster homosexueller Männer in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Karl Heinrich Ulrichs als Forscher im Diskurs seiner Zeit und in der Nachwirkung
Von Rüdiger Lautmann (Auszug)
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte das gleichgeschlechtliche Begehren noch kein Gegenstand seriöser Forschung sein, weil es allein als „Sünde“ und „gegen die Natur“ gesehen wurde. Eine Revision dieses Ausschlusses war keine Sache von „gutem Willen“ oder „Humanität“ – beide gab es ja durchaus, damals wie heute. Vielmehr waren es die Denkverhältnisse, die jene Forschungsfrage nicht zuließen, erschien diese doch, im damaligen Verstande, als völlig sinnlos. Noch die fortschrittlichsten Köpfe waren voll damit beschäftigt, die Naturordnung zu erfassen: Charles Darwin hatte alle Lebewesen als Produkt einer Entwicklung begriffen, voran-getrieben von den zahllosen Akten der Fortpflanzung. In den 1840er Jahren entwarf er seine Theorie der natürlichen Selek-tion, 1871 kam seine These zur sexuellen Selektion hinzu. Im Deutungsrahmen der Evolution fand eine ›unfruchtbare‹ Sexualität keinen angemessenen Platz. (Erst hundert Jahre später wurden wackelige Hilfshypothesen aufgestellt, um die Gleichgeschlechtlichkeit in der Evolutionstheorie unterzubringen.) Die Auseinandersetzungen zwischen religiösen und wissenschaftlichen Denkstilen dauern bis heute an.
Karl Heinrich Ulrichs überwand diese Barrieren und brach aus dem Denkgefängnis aus. Seine Studien sind als Forschung zu charakterisieren, weil sie ein Thema haben, welches in einem theoretischen Rahmen und mit nachvollziehbaren Methoden behandelt wird. Thematisch untersucht Ulrichs die erotische Anziehung zwischen Menschen desselben Geschlechts, theoretisch bezieht er sich auf die Differenzierung der Geschlechtscharaktere, und methodisch arbeitet er dabei mit empirischem Material aus Lebensläufen und aus der Naturgeschichte. Mit einer solchen Fokussierung fallen seine Forschungstexte auch nach heutigen Standards in den Bereich der Sexualwissenschaft, wobei noch die ganz anders geartete Wissenschaftspraxis der 1860er Jahre zu berücksichtigen ist – eine Epoche, in der es noch keine empirische Psychologie und Sozialforschung gab.
Forschen bedeutet, Wissen zu generieren. Der Begriff ist weiter als Wissenschaft, der auf Ulrichs’ Erkenntnisanliegen nicht so gut passt. Er war von der Ausbildung her Jurist, hat auch so gearbeitet, bevor ein faktisches Berufsverbot ihn aus dieser Laufbahn warf. Danach wurde er Publizist und ist dies bis zu seinem Lebensende auch geblieben (zuletzt mit seiner Zeitschrift über die lateinische Sprache). Die Buchreihe, der er heute seinen Ruhm verdankt, nannte er im Untertitel „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“ – und das mit vollem Recht.
Der Autor der Studien verfügte über keinen Doktortitel und keine akademische Anbindung. Das schließt nicht aus, ihn im Bereich einer der Einzelwissenschaften zu verorten. Auch heute werden viele Bücher, die wesentliche Erkenntnisfortschritte enthalten, als Qualifikationsarbeiten geschrieben – bevor ein Doktorat oder eine Hochschulposition erlangt worden ist. Wenn Ulrichs’ Publikationen als bloßes ›Betroffenenmaterial‹ entwertet worden sind, dann hat das nicht mit deren vermeintlicher Unwissenschaftlichkeit zu tun, sondern mit dem religiösen, moralischen und strafrechtlichen Verbotensein des Forschungsthemas. Die gleichgeschlechtliche Körperintimität war seit etwa dem vierten Jahrhundert n. Chr. in Europa schwerst stigmatisiert. Über sie konnte nicht gesprochen werden, wie es noch im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 hieß. Ulrichs stieß mit seiner Themensetzung eine Türe zu neuem Wis-sen auf, was allein schon als Erkenntnisleistung eigener Art gewürdigt werden muss.
War Ulrichs als Jurist denn überhaupt qualifiziert, über sexuelle Phänomene zu forschen? Etwas überraschend ist das klar zu bejahen – für die damalige Zeit. Und zwar nicht nur, weil er sich auch in Theologie, Philosophie und Natur-wissenschaften ausgebildet hatte, was damals an der Universität noch möglich war. Ulrichs las und zitierte die medizinische und philosophische Literatur zu seinen Themen. Immer wieder bezog er sich – affirmativ, ablehnend oder modifizierend – auf diese Quellen. Das Sexuelle war erst um 1800 vor das Visier der Wissenschaft gekommen. Bis dahin hatten sich vor allem die Moraltheologie und das Strafrecht damit befasst, mit der einzigen Erkenntnis eines normativen Verdammtseins. Was gegen die ›Natur‹ oder die ›Schöpfungsordnung‹ verstieß, war eine Sünde oder ein Verbrechen bzw. beides. Vor der Masturbation warnte die Pädagogik. Für die Erforschung der näheren Umstände der Mann-mit-Mann-Intimität blieb im frühen 19. Jahrhundert der Strafbetrieb der wichtigste Auftraggeber. Gerichtsgutachter mussten für eine zunehmende Zahl von Strafprozessen Belege für den tatsächlichen Vollzug der unzüchtigen Handlung beibringen, obwohl meist weder ein Geständnis noch eine Zeugen-aussage vorlag. Die Medizin, in den Prozessen zur Begutachtung hinzugezogen, war erst dabei, hier ein neues Feld für Diagnose und Therapie zu entdecken. In den 1860er Jahren konnte Ulrichs also darüber schreiben, ohne dass man ihn als formal unzuständig hätte ausschließen dürfen.
Lange Zeit ist versucht worden, Ulrichs’ Überlegungen den Status „wissenschaftlichen Theorie“ zu verweigern und sie zu einem lediglich „strategischen Wissen“ herabzustufen. Das könnte berechtigt sein, wenn die Thesen allein zu einem politischen Zweck aufgestellt worden wären. Beeinflusst von Vorausurteilen und in einer oberflächlich-kursorischen Betrachtung der Ulrichs-Schriften mochte ein solcher Eindruck sogar aufkommen. Jede Lektüre der Originaltexte zerstreut ihn aber sofort; die intensive Suche nach geeigneten Begrifflichkeiten und plausiblen Kausalitäten, die stetige Fortentwicklung der Konzepte und Annahmen zeigt, dass der Autor auf Wahrheitssuche war und sich nirgends auf werbende Sprüche beschränkte.
Karl Heinrich Ulrichs als Forscher
Ulrichs untersuchte Wesen, Genese und Erscheinungsformen der – in der Sprache des 20. Jahrhunderts – Homosexualität. Seine Thesen hierzu stifteten einen wissenschaftlichen Diskurs, innerhalb dessen sie bis heute relevant geblieben sind. In diesem Aufsatz hier werden die Aussagen von Ulrichs nicht erneut wiedergegeben; denn das ist schon oft geschehen. Ich möchte nur einige Kostproben präsentieren, um die Vorgehensweise und Leistung des Forschers zu charakterisieren.
Er widmete sich dem, wie er es nannte, „Uranismus“, d.h. der „mannmännlichen Liebe“. Da mit der Benennung eines Themas auch über die Richtung der Erkenntnissuche vorentschieden wird, war es bereits eine Leistung, wie Ulrichs das von ihm studierte Phänomen bezeichnete. Er schuf wertneutrale Konzepte, vielleicht sogar „einen positiv besetzten Begriff, keine Negativbeschreibung mit strafrechtlichem oder beleidigendem Charakter wie Sodomit, Päderast usw.“, um sein Thema in der Naturforschung zu platzieren (Domeier 2015:291).
Anfänglich war Ulrichs noch von einem „passiven animalischen Magnetismus“ als Mechanismus der gleichgeschlecht-lichen Anziehung ausgegangen und erörterte das in sei-nen Schriften (Kennedy 1994:13; Kennedy 2001:81 f.). Bald revidierte er den mechanistischen Denkansatz und suchte nach einem komplexen Modell aus organischer Anlage und Persönlichkeitsstruktur. Gleichgeschlechtliche Akte konnten zwar bei jedem Menschen vorkommen („Sodomie“ im alten Sinne), aber bei einigen markierten sie einen bestimmten Menschentypus („Urning“). Mit dieser Idee kam die Sexual-wissenschaft in Gang.
Auszug aus dem Aufsatz „Karl Heinrich Ulrichs als Forscher im Diskurs seiner Zeit und in der Nachwirkung“ von Rüdiger Lautmann. In vollständiger Form abgedruckt im Ulrichs-Gedenkband „Invictus“