ein Film von Xavier Dolan
Kanada 2009, 100 Minuten, französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln & deutsche Synchronfassung
FSK 16
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Hubert ist 16 und liebt eigentlich seine Mutter – aber er kann es einfach nicht ertragen, ihr Sohn zu sein! Das liegt nicht nur daran, dass sie geschmacklose Pullis trägt, hässlich Brötchen isst oder sich während des Autofahrens schminkt. Sie macht auch ständig falsche Versprechungen, hört ihm nie richtig zu und weist prinzipiell jede Schuld von sich. Dass er irgendwann aufs Internat muss, macht die Sache nicht besser. Im Windschatten dieser leidenschaftlichen Hassliebe hat Hubert seinen ersten Freund, macht künstlerischen Entdeckungen und versucht Ordnung in sein Lebens- und Gefühlschaos zu bringen. Oder anders gesagt: Er wird erwachsen.
Xavier Dolan war selbst erst 16, als er seinen Debütfilm schrieb, und 19, als er ihn drehte. Bei seiner Weltpremiere in Cannes wurde der smarte und wahnsinnig gut aussehende Jungregisseur als neues Wunderkind gefeiert – ein Label, das er bis heute nicht verloren hat. Sein autobiografisch grundiertes Coming-of-Age-Drama „I Killed My Mother“ ist nicht nur der ultimative Film für alle Söhne und Töchter, die von ihren Müttern genervt sind. Es markiert mit seiner zugleich wunderschönen und tieftraurigen Formsprache die Geburt eines großen neuen Filmemachers des (queeren) Weltkinos!
Wie wurde dieser Film geboren? Hatten Sie das Projekt schon länger im Sinn?
Ich hatte auf dem Gymnasium eine Kurzgeschichte über kindlichen Hass geschrieben, weil mich eine unkonventionelle Lehrerin ermutigt hatte, über etwas zu schreiben, dass mir wirklich nahe geht. Ich gab der Geschichte den Titel “Muttermord” und glaubte, damit sei die Sache erledigt. Nachdem ich dann im Herbst 2006 die Schule abgebrochen hatte, vor der Leere des Erwachsenseins stand und versuchte, in meinem dreckigen kleinen Apartment zu überleben, kam mir der Gedanke, diese kathartische Übung zu vertiefen und inspiriert von meinem Leben mit meiner Mutter ein Drehbuch zu schreiben. Ich ließ den esoterischen Zug der Kurzgeschichte fort, konzentrierte mich hyperrealistisch auf den nervigen Alltag und versuchte unter dem Titel I KILLED MY MOTHER auf etwas verdrehte Art, die Zwiespältigkeit der Gefühle zu zeigen – samt nostalgischen Kindheitserinnerungen.
Das Buch habe ich in drei Tagen geschrieben. Und dann fortgelegt und mich anderen Projekten
gewidmet, bis mich ehrliche Freunde dazu bewegten, diese schwachen Drehbücher aufzugeben
und mich wieder mit I KILLED MY MOTHER zu beschäftigen. Ich habe es verfeinert und auf den Punkt gebracht. Suzanne Clement hat es gelesen. Geliebt. Und das Abenteuer nahm seinen Anfang.
Wie haben Sie die Figuren entwickelt?
Ich wollte um jeden Preis flache Charaktere vermeiden. Ich wollte, dass einem beide Protagonisten ans Herz wachsen und man sie abwechselnd liebt und verabscheut. Ich glaube, dass die Gefahr des Autobiographischen im Mangel an Abstand liegt. Ich wollte auf keinen Fall den Vorwurf einer Hymne auf die Adoleszenz riskieren, in der die elterliche Autorität denunziert wird. Mein Ziel war es, beide Seiten eines Verhältnisses zu porträtieren, so wie es gelebt wird. Auf Grundlage eines gerechten Drehbuchs, in dem der Autor nicht Partei ergreift. Ich habe beide Figuren gleich geliebt, den Sohn ebenso wie die Mutter.
Kann man von einer Selbstsuche oder Initiationserzählung sprechen?
Es ist eine Darlegung der Rollen, die uns das Leben aufdrängt, und genauer gesagt eines ganz
bestimmten Zeitraums am Ende der Adoleszenz und Beginn des Erwachsenseins, an dem man sich damit abfindet, die Rolle anzunehmen, der man unmöglich oder nur sehr schwer ausweichen kann. In diesem Sinn könnte man tatsächlich von einer Initiationserzählung sprechen, oder einer Suche nach Initiation. Aber nicht einer Selbstsuche: Hubert kennt seine Identität, sie prägt sich jeden Tag deutlicher aus. Er erfährt den Bruch, diese Identität in einer so erstickenden Umgebung wie der seiner Mutter aus schlichten Vorstadtverhältnissen nicht ausleben zu können. Er vergleicht seine ihm gewisse Identität mit jener der Frau, die ihn zur Welt gebracht hat, und erschrickt vor dem Abgrund zwischen beiden Identitäten.
Kann man von einer Selbstsuche oder Initiationserzählung sprechen?
Es ist eine Darlegung der Rollen, die uns das Leben aufdrängt, und genauer gesagt eines ganz
bestimmten Zeitraums am Ende der Adoleszenz und Beginn des Erwachsenseins, an dem man sich damit abfindet, die Rolle anzunehmen, der man unmöglich oder nur sehr schwer ausweichen kann. In diesem Sinn könnte man tatsächlich von einer Initiationserzählung sprechen, oder einer Suche nach Initiation. Aber nicht einer Selbstsuche: Hubert kennt seine Identität, sie prägt sich jeden Tag deutlicher aus. Er erfährt den Bruch, diese Identität in einer so erstickenden Umgebung wie der seiner Mutter aus schlichten Vorstadtverhältnissen nicht ausleben zu können. Er vergleicht seine ihm gewisse Identität mit jener der Frau, die ihn zur Welt gebracht hat, und erschrickt vor dem Abgrund zwischen beiden Identitäten.
Es gibt wüste Beschimpfungen, die uns manchmal den Atem verschlagen. Wie haben Sie die Dialoge geschrieben?
Die Dialoge sind eine Mischung aus tatsächlich geführten Gesprächen und rein fiktiven Wortwechseln. Niemand wird direkt zitiert. Hinter jeder Replik steht eine Umformulierung oder Umstellung. Hätte ich der Realität noch näher rücken wollen, hätte ich Kameras in den Blumentöpfen verstecken müssen und ein Mikro im Hemdkragen meiner Mutter. Aber ich wollte ja keinen Dokumentarfilm drehen. Das Erlebte hat mir genutzt. Ansonsten habe ich den Figuren das in den Mund gelegt, was mir mit Blick auf ihr Alter und ihren Charakter plausibel erschien.
Der Gegensatz zwischen Antonins und Huberts Wohnung ist gewaltig…
Ich fand es wichtig, den Kontrast zwischen diesen beiden Welten durch Farben und Licht herauszuarbeiten. Ich wollte, dass der Zuschauer Huberts Haus verabscheut und wie er nichts wie weg will. Ich wollte, dass er diese Kitsch- und Dämmerwelt erstickend findet. Dagegen ist Antonins Haus hell und luxuriös, und Julies Wohnung ist klassisch und hat viel Blau.
Wenn die Mutter am Telefon mit dem Internatsdirektor explodiert, spürt man Ihre Zuneigung. Man hat den Eindruck, dass ihr hier Genugtuung widerfährt.
Ganz genau. Dieser Ausbruch bestätigt, was Hubert schon zuvor mutmaßte: Dass Chantale nicht gemacht war, um Mutter zu sein. Aber sie hat immer ihr Bestes gegeben, um ihren Sohn zu lieben, mit dem bisschen Mutterinstinkt, den sie hatte. Und wir begreifen auch, dass der abwesende Vater sie sehr früh hat fallen lassen und sie die Herausforderung der Mutterschaft ganz allein bewältigen musste. Und da der Aufstand ihres Sohnes nichts dazu getan hat, ihre Einsamkeit und Schuldgefühle zu mindern, sind die kleinkarierten Unterstellungen dieses pompösen Schwätzers der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Ist der Name des Geliebten von Huber, Antonin Rimbaud, ein Augenzwinkern Richtung Antonin Artaud und Arthur Rimbaud?
Ja. Antonin sagt es selbst in einer entfallenen Szene: “Man ist nicht ernst, wenn man 17 Jahre alt ist.”
Der Film scheint von der bildenden Kunst inspiriert. Welche Maler haben Sie inspiriert?
Pollock, Matisse, Klimt.
Die Schwarzweiß-Szenen direkt vor der Kamera sind wie eine Art Bekenntnis.
Ja, absolut. Sie sind eine spirituelle Reflexion, die ein Erzähler, eine Art “Gott”, für den Zuschauer aufzeichnet. Die Figur filmt sich selbst in diesen Szenen, aber was wir sehen, ist nicht das Bild, das er mit seiner billigen Kamera erzielt. Es ist seine Selbstschau in diesem intimen Raum des Sichanvertrauens.
Die Musik ist großartig. In manchen Zeitlupen-Szenen denkt man an IN THE MOOD FOR LOVE…
Ja, diese Einstellungen sind eine Hommage an Wong Kar-wai und seinen Komponisten Shigeru Umebayashi.
Wie sind Sie beim Schnitt vorgegangen?
Ich habe eng mit meiner erfahrenen Cutterin Helene Girard zusammengearbeitet, die über 50 ist, viel Sinn für Humor hat und eine außergewöhnliche Sensibilität besitzt. Ihre große Bildung hat mir sehr geholfen und mich angeregt. Wir haben uns ausgetauscht, unsere Einfälle debattiert und unsere Entscheidungen verteidigt. Ich habe bei einem Gutteil des Schnitts assistiert, aber auch dafür Sorge getragen, dass Helene sich für wichtige Momente zur Inspiration zurückziehen kann. Andererseits habe ich die Episode, in der Hubert und Antonin zusammen malen und Sex haben, ganz allein geschnitten, da ich genau wusste, was ich aus dieser Dripping-Sequenz herausholen wollte.
Wie haben Sie die Schauspieler ausgesucht, die zum Teil in Quebec sehr bekannt sind?
Ich kannte die meisten schon. Manche wurden nach zufälligen Treffen ausgewählt, manche andere sind glückliche Entscheidungen in letzter Minute.
Wie haben Sie sie geführt? War das nicht schwer für jemanden, der so jung ist und seinen ersten Film dreht?
Der üppige Dekor und die bunten Kostüme erlaubten keinerlei Übertreibung, das Gebot der Stunde war Zurückhaltung. Die Schauspieler ließen sich führen, und ihre offene Einstellung und Bescheidenheit gaben mir das Selbstvertrauen, das mir sonst vielleicht gefehlt hätte. Ich führe gerne Regie und beachte die kleinsten Details und Ticks.
Der Film ist visuell sehr gelungen. Wie haben Sie das mit so geringem Budget und ohne vorherige Erfahrung geschafft?
Ein beschränktes Budget macht kreativ. Ich danke dem Himmel für das Budget, das ich hatte. Man kann über alles nachgrübeln und sich in Mutmaßungen verlieren, wie der Film mit einem größeren Budget ausgesehen hätte. Aber ich bin mit diesem Ergebnis vollkommen zufrieden. Ich habe es geschafft, weil mir eine so erfahrene Truppe mit Rat und Tat beiseite stand. Ich habe viel improvisiert, und an der Kamara folgte Stephanie Weber-Biron ihrem Instinkt. Ganz besonders bei den Szenen mit Handkamera…
XAVIER DOLAN (Regie, Buch, Art Direction, Production & Schauspieler) wurde am 20. März 1989 in Montreal geboren. Seinen ersten Auftritt hatte er im Alter von vier Jahren. Seine Karriere begann mit einer Rolle in einer Serie von Werbespots für eine Apothekenkette. Einige Jahre später trat er in beliebten Fernsehserien wie „Misericorde“, „Omerta Il“ und „L’or“ auf. Dazu spielte er in den Spielfilmen „J’en suis“ (1996), „Le marchand de sable“ (1997), „La fortresse suspendu“ (2001), „Miroirs d’ete“ (2006) und „Martyrs“ (2007). „J’ai tué ma mere“ („I Killed My Mother“, 2009) ist sein erster Spielfilm. Sein zweiter Spielfilm „Les amours imaginaires“ („Herzensbrecher“) wurde in Cannes 2010 in der Sektion Un Certain Regard gezeigt.
Bildregie
Stephanie Weber-Biron
Ton
Sylvain Brassard
Art Director
Xavier Dolan
Kostüme
Nicole Pelletier
Originalmusik
Nicholas S. L'Herbier
Ausführende Produzentin
Carole Mondello
Produzenten
Xavier Dolan, Daniel Morin
Chantal Lemming
Anne Dorval
Hubert Minel
Xavier Dolan
Julie Cloutier
Suzanne Clement
Antonin Rimbaud
Francois Arnaud
Hélène Rimbaud
Patricia Tulasne
Éric
Niels Schneider
Eine Produktion von Mifilifilms
im Verleih von Salzgeber