ein Film von Klára Tasovská
Tschechien/Slowakei/Österreich 2024, 90 Minuten, tschechische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 versucht die junge Fotografin Libuše Jarcovjáková mit ihren Bildern den Zwängen des repressiven tschechoslowakischen Regimes zu entkommen. Sie will herausfinden, wer sie sein möchte, und geht dafür auf die Straßen von Prag, in verstaubte Kneipen, zur Nachtschicht in eine Druckerei, in die Communities der Roma und vietnamesischen Migrant:innen. Schnappschüsse von Nacktheit, Sex und Alkohol wechseln sich ab mit Bildern von Lethargie und Restriktionen. Als sie wegen Fotos aus einem Schwulenclub Probleme mit der Polizei bekommt, geht Libuše eine Scheinehe ein und zieht nach Berlin. Doch auch die neue Welt ist voller Hindernisse. Mit ihrem letzten Geld fliegt sie nach Tokio, wo ihr der Durchbruch als Modefotografin gelingt. Aber das ist nicht das Leben, das Libuše leben will. Sie kehrt erst nach Berlin und später nach Prag zurück. Ihre Rückschläge und Erfolge, ihre Gefühle und Beziehungen und ihre nie endende Suche nach sich selbst sind festgehalten in ihren Bildern und Tagebüchern.
In welcher Welt lebe ich? Wer bin ich? Wie möchte ich leben? Aus Libuše Jarcovjákovás Werk von zehntausenden Negativen und dutzenden Tagebüchern hat die tschechische Regisseurin Klára Tasovská einen poetischen Filmessay montiert. „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ erzählt von einem besonderen Künstlerinnenleben und einer bewegenden Reise in die Freiheit, die sich über sechs Jahrzehnte spannt und von der sowjetisch „normalisierten“ ČSSR der späten 1960er und frühen 70er über das Ost-Berlin der 80er bis ins Prag nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und von heute führt.
am Dienstag, 25. Februar um 20:00 Uhr in Anwesenheit der Fotografin Libuše Jarcovjáková
Schaut man deinen Film, so erscheint seine Machart wie die einzig mögliche für einen Film über Libuše Jarcovjáková. Man weiß davor jedoch nicht, dass es ein Film ist, der komplett aus Fotos montiert sein wird. Manche sind statisch, manche rhythmisch arrangiert. Wie hast du die Idee entwickelt, die Geschichte auf diese Weise zu erzählen?
Als wir anfingen zusammenzuarbeiten, kam die COVID-19-Pandemie auf und schuf Herausforderungen, die unseren ursprünglichen Arbeitsplan beeinträchtigten. Gleichzeitig regte es uns an, unseren Fokus zu verändern. Als ich in Libušes Fotoarchiv eintauchte, öffnete sich vor meinen Augen eine bemerkenswerte und vielfältige Welt. Neben Fotografien fand ich zehntausende Tagebuchseiten, die mir ein neues Universum eröffneten. Es wurde schnell klar, dass wir eine intime, persönliche, authentische und kraftvolle Geschichte erzählen könnten, indem wir diese tausenden Fotos und Einblicke in Libušes Leben miteinander verweben – eine Geschichte exklusiv erzählt durch die dynamische Montage statischer Fotografien. Dieser Ansatz erlaubte es uns, ihre einzigartig weibliche Perspektive kreativ zu erschließen und Zuschauer:innen einen authentischen Blick in Libušes Welt zu erlauben. Das war von Beginn an meine Absicht: den Zuschauer:innen zu ermöglichen, die Welt durch Libušes Augen zu sehen.
In einem der Interviews spricht Libuše darüber, wie Leute sie bei einer Ausstellung während des renommierten Fotografie-Festivals in Arles vor ein paar Jahren umarmt haben. Die Mehrheit hatte gerade erst von ihr erfahren. Wie bist du selbst auf ihre Arbeit aufmerksam geworden und was an ihrer Geschichte hat dich angezogen?
Die originale Idee kam von den tschechischen Fernseh-Skripteditorinnen Eva Dvořáková und Irina Minaříková, die auf mich mit der Idee zukamen, einen Film über die Fotografin Libuše Jarcovjáková zu machen. Das Vorhaben begeisterte mich sofort. Ich setze mich selbst seit einiger Zeit mit Libušes fotografischer Arbeit auseinander. Und drückte deswegen meinen Wunsch aus, dass der Film Libušes einzigartige Perspektive authentisch einfangen und darstellen sollte. Ihr persönliches Narrativ, die Suche nach Identität, innerer Freiheit, und ein Unwille sich anzupassen, bilden nicht nur die Inspiration für ihren künstlerischen Ausdruck, sondern für ihr ganzes Leben. Weiterhin ist Libušes herausstechende Fähigkeit, Probleme von Frauen ehrlich und offen anzusprechen, etwas ganz Besonderes. Für mich ist sie die ideale Protagonistin, deren Geschichte eine Vielzahl universeller Themen und persönlicher Konflikte miteinschließt. Auch wenn Libuše diese Dilemmata schon vor vielen Jahren beschäftigten, bleiben sie bis heute sehr relevant.
Wie umfangreich ist Libušes fotografisches Archiv und wie hast du damit gearbeitet? Kamen zuerst ihre Tagebuchtexte und hast du dann nach den passenden Bildern gesucht? Wie seid ihr vorgegangen?
Der Prozess war anspruchsvoll. Für uns bedeutete es zwei Jahre tägliche Arbeit. Zuerst musste ich Libušes Archiv organisieren und mich in ihm orientieren. Nicht alle Fotografien existierten in digitaler Form, weshalb wir wieder durch die echten Negative schauen mussten. Im Schneideraum arbeiteten wir dann mit zehntausenden Standfotos. Libuše hat oft fotografische Sequenzen in bestimmten Situationen aufgenommen. In einem Buch würde man nur ein privilegiertes Bild veröffentlichen, in unserem Film jedoch konnten wir alle Phasen dieser „Bewegung“ zeigen. An einem Punkt im Prozess gab es 20.000 Fotos in unterschiedlichen Ordnern. Während wir das Fotoarchiv erkundeten, erstellte ich aus den hunderten Tagebuchseiten, die Libušes geschrieben hat, eine ideale Struktur. Doch alles befand sich in konstantem Wandel, je nachdem was die spezifischen Fotografien aus unterschiedlichen Zeitperioden, verschiedenen Stationen in Libušes Leben, uns an visuellen Informationen anboten. Wir haben die Fotos in gewisser Weise als visuelles Tagebuch genutzt. Im Schneideraum arrangierten wir sie dann eines nach dem anderen zu fünf Hauptkapiteln, wobei wir nach Zusammenhängen oder Kontrasten Ausschau hielten, die wir dann durch die Erzählstimme, die ich zuerst auf meinem Handy eingesprochen hatte, genauer abgestimmt haben.
Wie hast du, in Zusammenarbeit mit Schnittmeister Alexander Kashcheev und den Komponisten, den charakteristischen Rhythmus der Erzählung gefunden? War es ein intuitiver Prozess oder bedeutete es, einen präzisen Pfad auszulegen und diesem dann zu folgen?
In unserem Schnittprogramm erstellten wir „fragmentierte Bewegungen“ aus starren Fotografien, welche die Vorstellungskraft der Zuschauer:innen stimulieren würden. Während der Filmsichtung, vergessen wir, dass es sich um eine „Diashow“ statischer Bilder handelt. Die vielschichtige und komplexe Tonmontage, die Schnittmeister Alexander Kashcheev vornahm, leistet einen wichtigen Beitrag dazu, die stillen Bilder zum Leben zu erwecken. Gleichzeitig wollten wir mit gegenwärtiger Musik arbeiten, wodurch ein erfrischender Kontrast zu den hauptsächlich schwarz-weißen Archivfotografien entstehen würde. Wir wollten ganz unterschiedliche, auch überraschende Musik benutzen. Deswegen traten wir mit einem Trio junger progressiver Musikproduzenten in Kontakt: Oliver Torr, Prokop Korb und Adam Matej. Jeder von ihnen hat einen anderen Zugang, der die verschiedenen Stimmungen, die im Film entwickelt werden, ergänzt – von minimalistischen, lyrischen Räumen und konzeptuellen Reinterpretationen von Vergangenem bis zu gegenwärtiger Tanz- und Clubmusik. Jeder der Komponisten kreierte Musik direkt für spezifische Szenen, die wir für sie ausgewählt haben. Manchmal gab es jedoch auch Szenen, wo wir unsere Montage an die komponierte Musik angepasst haben, oder wir Kapitel neu arrangiert haben, wenn die Musik es vorgab … Es war ein toller, kollaborativer Vorgang.
Leute verstehen das Werk von Libuše Jarcovjáková heute viel besser als früher. Wahrscheinlich, weil sie für mehrere Jahrzehnte bereits in einem Stil fotografiert hat, der dem ähnlich ist, wie man heute für Social Media fotografiert, obwohl sie es durchdachter und mit einer anderen Absicht gemacht hat. Was ist deine Meinung: Wie kam es, dass Libuše diesen Ansatz für sich entdeckt hat, während andere Fotograf:innen in ihrem Umfeld darauf aus wahren, technisch präzise zu arbeiten und einen charakteristischen Stil zu entwickeln?
In einem Eintrag aus dem Jahr 1970 schreibt Libuše: „Ich kann ein Foto in der dokumentarischen Tradition à la Bresson schießen, aber für mich ist das nicht interessant. Ein Level an Subjektivität wird für mich immer das Erstrebenswerteste sein!“ Ihr Fokus lag immer darauf, den Moment einzufangen, die Atmosphäre, ihre persönliche Perspektive auf die Dinge, die sie umgeben, und dabei etwas einzufangen, was unter der Oberfläche liegt, eine Geschichte, eine emotionale Tiefe. Das hat mehr Bedeutung als eine scharfe, korrekt belichtete, technisch perfekte Fotografie.
Du hast wahrscheinlich viele Male Fotos von dir selbst aus unterschiedlichen Perioden deines Lebens gesehen. Wie fühlt es sich aber an, sich selbst auf der großen Leinwand zu sehen? Kam es dir jemals in den Sinn, dass du eines Tages die Protagonistin eines Films sein würdest?
Ich fühle mich nicht wie eine Filmheldin. Und es ist sicher nicht einfach. Ich bin immer noch erstaunt davon, wie ich es geschafft habe, wie besessen beinahe alles zu dokumentieren, was um mich herum und in mir geschehen ist. Ich versuche eine gewisse Distanz zu wahren, den Film als eine Art autobiografischer Fiktion zu betrachten, aber das funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad. Ich habe den Film bisher immer nur ohne Publikum gesehen. Ich bin neugierig, wie ihre Reaktionen mich emotional beeinflussen werden – ich hoffe, dass ich nicht davonlaufen werde.
Was überrascht dich im Nachhinein an deinen ältesten Fotos und daran, wie sie von Betrachter:innen heute wahrgenommen werden?
Ich habe immer daran geglaubt, dass alle Menschen grundlegend gleich sind. Und dieser Film beweist mir das noch einmal. Die Einstellungen ändern sich, die Inhalte unserer Seelen aber bleiben mehr oder weniger gleich. Ich bin zufrieden damit, wie die Filmschaffenden mit meinen Fotos umgegangen sind. Sie haben viele lange vergessene Momente ans Tageslicht geholt und sie in einen aktuellen Kontext integriert. Wenn mich etwas überrascht, dann ist es der unorthodoxe Blickwinkel, von dem ich mich habe von niemandem abbringen lassen. Und vielleicht ist es das, was mit einem Publikum heute räsoniert.
Machst du immer noch Fotos in Berlin, wo du einen Teil deines Lebens verbracht hast und beispielsweise den Fall der Berliner Mauer eingefangen hast? Hast du immer noch die Chance, einfach irgendwo zu sitzen und Fotos zu machen, wie du es früher getan hast?
Ich versuche es immer wieder. Und es ist immer eine Erfahrung. Berlin ist eine sehr angenehme und inspirierende Stadt. Ich finde immer wieder neue Orte oder neue Dinge an alten Orten. Meine neuesten Berlin-Fotos veröffentliche ich in meinem jüngsten Fotoband „Supersonico“. Der Titel kommt von einer Bar in Berlin, in die ich gerne gehe.
KLÁRA TASOVSKÁ (Regie) erlangte einen Abschluss am New Media Department an der Akademie der Bildenden Künste sowie an der FAMU Prag im Bereich Dokumentarfilm. Ihr mittellanger dokumentarischer Essayfilm „Midnight“ (2010) wurde auf unterschiedlichen Festivals gezeigt und gewann unter anderem den Newcomer Award beim European Media Art Festival Osnabrück. Ihr Langfilmdebüt „Fortress“ (2012), das sie in Co-Regie mit Lukáš Kokeš umsetzte, wurde 2012 als Bester tschechischer Dokumentarfilm beim Internationalen Dokumentarfilmfestival Jihlava ausgezeichnet. Ihr Film lief im gleichen Jahr im Wettbewerb beim Internationalen Dokumentarfilmfestival Kopenhagen und wurde 2013 mit dem LUX-Filmpreis ausgezeichnet. Ihr letzter Film, ebenfalls mit Lukáš Kokeš entstanden, wurde im Wettbewerb des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Amsterdam 2017 uraufgeführt.
Filmografie
2010
„Midnight“ (KF)
2012
„Fortress“ (Co-Regie: Lukáš Kokeš)
2014
„Gottland“
2017
„Nothing Like Before“ (Co-Regie: Lukáš Kokeš)
2024
„Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“
Regie
Klára Tasovská
Drehbuch
Klára Tasovská & Alexander Kashcheev
Fotos & Tagebücher
Libuše Jarcovjáková
Schnitt
Alexander Kashcheev
Musik
Oliver Torr, Prokob Korb (badfocus) & Adam Matej
Sound Design
Alexander Kashcheev, Michaela Patríková
Tonmischung
Michaela Patríková
Dramaturgie
Viera Čákanyová & Eva Dvořáková
Koproduzenten
Jakub Viktorín & Ralph Wieser
Produzent:innen
Lukáš Kokeš, Klára Tasovská
Eine Produktion von Somatic Films
in Koproduktion mit nutprodukcia (SK), Mischief Films (AT), ARTE G.E.I.E. – La Lucarne (FR/GE), Czech Television (CZ)
gefördert durch den Czech Film Fund, Slovak Audiovisual Fund, das Programm Creative Europe Media der Europäischen Union und den Prague Audiovisual Fund
im Verleih von Salzgeber