ein Film von Ramon und Silvan Zürcher
Schweiz 2021, 98 Minuten, deutsche Originalfassung
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Lisa zieht aus, Mara bleibt zurück. Während Kisten geschleppt, Wände gestrichen und Schränke aufgebaut werden, tun sich Abgründe auf, lassen Sehnsüchte den Raum anschwellen und ein Begehrenskarussell nimmt immer mehr Fahrt auf.
In ihrem zweiten Film komponieren die Schweizer Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher ein poetisches Panoptikum menschlicher Beziehungsformen, das sich zwischen Alltagsstudie, Märchen und Psychogramm einer brüchig gewordenen Welt bewegt. Nach ihrem Berlinale-Hit „Das merkwürdige Kätzchen“ (2013) ist „Das Mädchen und die Spinne“ der zweite Teil einer Trilogie über menschliches Zusammensein. Ein tragikomischer Katastrophenfilm. Eine Ballade über das Verlangen nach Nähe und den Schmerz von Trennung, über Veränderung und Vergänglichkeit.
„Das Mädchen und die Spinne“ feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale 2021 und wurde dort mit dem Encounters-Regiepreis und dem FIPRESCI-Award der Sektion ausgezeichnet.
Wie bei unserem Erstling „Das merkwürdige Kätzchen“, in dem es um eine in Zwängen erstarrte Familie ging, nehmen wir auch bei „Das Mädchen und die Spinne“ eine vertraute, alltägliche Szenerie zum Ausgangspunkt des Films. Diesmal ist es ein Umzug. Er bildet das Gerüst, um von der Ablösung zwischen den Freundinnen Mara und Lisa zu erzählen. Lisas Auszug bricht die über Jahre verwachsene Einheit mit Mara auf – so als ob sich zwei ineinander verkeilte Erdplatten voneinander lösen würden. Eine wegdrängende Kraft prallt auf eine Nähe suchende und lässt die Welt um beide herum erschüttern.
Lisas Umzug löst einen Reigen über die Sehnsucht nach Verschmelzung und den Schmerz von Trennung und Einsamkeit aus. Die Prinzipien von Nähe und Distanz manifestieren sich dabei nicht nur zwischen Mara und Lisa, sondern durchziehen den gesamten Film – eine Dynamik, die nie zur Ruhe kommt. Die Figuren wandeln wie Getriebene ihres Begehrens durch einen fragilen Kosmos, in dem Momente der Verletzung genauso schnell passieren können wie Momente der Zuneigung und Intimität.
Euer erster Film „Das merkwürdige Kätzchen“ hat 2013 auf der Berlinale einen kleinen Hype ausgelöst, lief dann weltweit auf über 80 Festivals und war insbesondere in Deutschland und Frankreich ein großer Kritikerliebling. Wie habt Ihr diesen Erfolg erlebt?
Ramon: Wir waren tatsächlich über ein Jahr mit dem Film unterwegs, konnten ihn in vielen Ländern und Städten vorstellen und hatten zahllose spannende Begegnungen. Zudem kam der Film auch in einigen Ländern in die Kinos, darunter in Deutschland, Frankreich, der Schweiz und den USA. Es war eine aufregende Reise, auf die wir nicht ganz vorbereitet waren, zumal unsere vorherigen kurzen und mittellangen Filme kaum auf Festivals gezeigt wurden. Vielleicht hat es auch deswegen einige Zeit gedauert, um wieder in die kreative Schreibenergie zurückzufinden, sich zu konzentrieren und neue Figuren und Szenen zu entwickeln. Rückblickend war es eine aufregende Zeit.
Euren zweiten Film „Das Mädchen und die Spinne“ wolltet ihr eigentlich zuerst in Deutschland drehen. Letztlich ist es aber eine Schweizer Produktion geworden. Wie kam es dazu?
Silvan: Wir haben ja beide in Berlin an der DFFB studiert und hatten durch die Aufmerksamkeit, die das „Kätzchen“ erregt hatte, schnell mit Produzenten Kontakt. Über Umwege sind wir dann auf Aline Schmid gestoßen, die mit Adrian Blaser in Genf die Firma Beauvoir Films hat. Mit ihr haben wir die „Spinne“ weiterentwickelt und schließlich in der Schweiz finanziert und gedreht.
Wie habt Ihr zusammen den Stoff entwickelt?
Ramon: Während wir mit dem „Kätzchen“ von Festival zu Festival gereist sind, hat Silvan begonnen „Die Spinne“ zu entwickeln. Ich habe zu diesem Zeitpunkt an einem Familiendrama mit dem Titel „Der Spatz im Kamin“ gearbeitet. Wir haben uns dann zusammen entschieden, zuerst „Die Spinne“ umzusetzen, da der Stoff einfach bereits weiter gediehen war. Bei der Arbeit am Drehbuch kam uns dann die Idee, eine lose Trilogie über menschliches Zusammensein zu machen.
Silvan: Die Inspiration für „Die Spinne“ war tatsächlich ein reales Ereignis: Ramon und ich haben in Berlin ein paar Jahre zusammengewohnt, bis er dann ausgezogen ist. Dieses räumliche Aufbrechen einer symbiotischen Grundsituation war die Ausgangslage für die Geschichte, in der es vor allem um Trennung und Vergänglichkeit geht.
Was hat es mit dem Titel auf sich?
Ramon: Die Spinne ist ein sehr selbstständiges Tier, das aus eigenen Ressourcen an unterschiedlichen Orten schnell ein neues Zuhause schaffen kann. Ihr Netz ist allerdings ein fragiles, vorübergehendes Zuhause, von dem nach einer Weile nur noch eine feine Spur zurückbleibt. Wie die Spinne ihr Netz, webt auch der Film Figuren und Geschichten zusammen. Ein immer komplexer werdendes Geflecht, in dem die Figuren eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Grenzenlosigkeit atmen.
Wieviel Autobiographisches steckt im Film?
Silvan: Einzelne Szenen haben wir tatsächlich so oder ähnlich erlebt, aber beim Schreiben haben wir das verdichtet, neu verknüpft und auch mit phantastischen Elementen gepaart.
Ramon: Anstatt einer rein naturalistischen Darstellung finden wir es spannend, den Grad an Stilisierung phasenweise anzuheben. Indem wir minimalistisches Erzählen mit einer phantastischen Dimension zusammenbringen, versuchen wir uns an einer subjektiven Deutung der Realität.
Wo habt ihr gedreht?
Ramon: Wir haben in den leerstehenden Räumlichkeiten einer ehemaligen Bierbrauerei in Bern gedreht. Dort hatten wir studioähnliche Bedingungen und konnten sämtliche Wohnungen nachbauen. Zuvor haben wir auch nach Originalmotiven gesucht, sind jedoch stets daran gescheitert, dass die Grundrisse der vorgefundenen Wohnungen nicht zum Drehbuch gepasst haben oder dass die notwendigen Drehbedingungen nicht erfüllt werden konnten. Wir hatten beinahe schon zwei Wohnungen zugesagt, als sich dann im letzten Moment die Möglichkeit mit der Brauerei ergab.
Silvan: Wir haben vor jedes Fenster einen Greenscreen gestellt, um in der Postproduktion die Außenansichten, die wir in Bern und zu einem kleinen Teil auch in Berlin gedreht haben, einzufügen. Das war zwar äußerst aufwändig, ermöglichte uns jedoch mehr Zeit beim Dreh, zumal wir nicht mit der ganzen Crew von einem Ort zum andern reisen mussten.
Auch wenn sich der Film hauptsächlich in den beiden Wohnungen abspielt, geht es ein paar Mal nach Draußen …
Ramon: Die beiden Häuser mit Lisas alter WG und ihrer neuen Wohnung bilden die zentralen Herzkammern. Der Film öffnet sich jedoch auch in zwei Richtungen: zu Außenräumen einerseits und den Erinnerungs- und Sehnsuchtsräumen der Figuren andererseits. So fließen Träume und Flashbacks ins Geschehen ein. Unser Ziel war es, eine poetische Alltagswelt entstehen zu lassen.
Wie war die Arbeit auf dem Set? Und könnt Ihr etwas zum Stil der Inszenierung sagen?
Silvan: Wie bei unserem ersten Film hat Alexander Haßkerl die Kamera gemacht. Ramon
führte Regie, ich war 1. Regieassistent.
Ramon: Wie das „Kätzchen“ ist auch die „Spinne“ geprägt vom Kontrast einer meist statischen Kamera und einer dynamischen Inszenierung. Bereits im Drehbuch war die Position der Kamera mitgedacht, um den Schnittrhythmus und die Mise-en-scène aufeinander abzustimmen.
Die Musik spielt eine zentrale Rolle. Wie seid ihr dazu gekommen?
Ramon: Das Klavier des Zimmermädchens hat im Film eine besondere Bedeutung, deswegen war früh klar, das Klavier auch zum zentralen Instrument der Filmmusik zu machen. Auf den weißrussischen Walzer „Gramofon“ von Eugen Doga sind wir zufällig gestoßen, wir mögen seine Dynamik und Melancholie – und den Kontrast, den er zur eher dramatischen Grundstimmung des Films bildet. An „Voyage, Voyage“ von Desireless lieben wir vor allem das 80’s-Poppige und die Sehnsucht, die gut zu Maras Verfassung passt.
Gibt es Vorbilder, die euch beeinflusst haben?
Ramon: Mich beeindruckt das Schaffen von Angela Schanelec. Bei ihren sehr persönlichen und eigenwilligen Filmen habe ich oft das Gefühl, Menschen zu begegnen. Die Mischung aus formaler Strenge und großer Sensibilität und das Unberechenbare der Erzählung beleben mich, machen mich glücklich. Auch Bresson und seine verdichtete Filmsprache sowie der Umgang mit Körper und Psyche bei Bergman und Antonioni inspirieren mich immer wieder aufs Neue sehr.
Silvan: Und das Werk von Rohmer. Seine Filme atmen eine Einfachheit, ohne je banal zu sein. Ihm gelingt es scheinbar leichtfüßig, lebendige Figuren und zugleich poetische, philosophische Welten zu erschaffen. Auch die satten Farben in seinen Filmen haben uns beeinflusst. Und es gibt Inspirationen aus der Literatur, etwa die Figuren bei Salinger. Es sind oft die Außenseiter, die mich sehr berühren.
Was erwartet uns im dritten Teil der Trilogie?
Silvan: Der dritte Teil „Der Spatz im Kamin“ soll wieder die Familie in den Mittelpunkt stellen: dieses vertrackte Gefüge, in das wir hineingeboren werden und das lange als selbstverständliche Gegebenheit unhinterfragt bleibt. Im Zentrum des Geschehens steht eine alles kontrollierende Mutter. Es soll vor allem um das Aufbegehren der Familienmitglieder gehen, die nicht mehr akzeptieren, dass ihr Leben ständig fremdbestimmt wird. Die Rebellion soll das pulsierende Herz des Films werden.
Der Film soll als schweizerisch-deutsche Koproduktion entstehen. Auf diese Zusammenarbeit freuen wir uns schon sehr und sehen dem Abenteuer beflügelt entgegen.
RAMON ZÜRCHER (Buch, Regie, Schnitt) (* 1982) besucht nach dem Gymnasium den Gestalterischen Vorkurs an der Schule für Gestaltung in Biel. Von 2002 bis 2005 absolviert er ein Kunststudium an der Hochschule der Künste Bern (HKB). 2005 gewinnt er für seine Videokunstarbeiten den Kiefer Hablitzel Preis (Eidgenössisches Stipendium). Anschließend studiert er von 2006 bis 2014 Filmregie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Er schließt das Studium mit seinem ersten Langspielfilm „Das merkwürdige Kätzchen“ ab, der 2013 seine Weltpremiere im Forum der Berlinale feiert und danach auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt (u.a. Toronto, Cannes, Viennale, New Directors/New Films) und vielfach prämiert wird (u.a. New Talent Grand PIX Award auf dem CPH:PIX, Spezialpreis der Jury für das beste Debüt auf dem IFF Minsk, SIYAD-Preis der Filmkritik auf dem IFF Antalya, Preis der „Standard“-Publikumsjury der Viennale). „Das Mädchen und die Spinne“ ist sein zweiter Langspielfilm.
2013
„Das merkwürdige Kätzchen“
2021
„Das Mädchen und die Spinne“
SILVAN ZÜRCHER (Buch, Ko-Regie, Ko-Produzent) (* 1982) studiert von 2002 bis 2008 Philosophie, Filmwissenschaft und Germanistik an den Universitäten Bern und Zürich. Nebenbei arbeitet er als Filmvorführer in einem Programmkino in Bern. Von 2009 bis 2014 studiert er Filmproduktion an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Während des Studiums produziert er kurze und mittellange Filme. Daneben arbeitet er als Regieassistent und entwickelt eigene Stoffe für Spielfilme. 2013 schließt er das Studium mit seinem ersten Langspielfilm „Das merkwürdige Kätzchen“ ab, der vielfach prämiert wird. „Das Mädchen und die Spinne“ ist sein zweiter Langspielfilm.
2013
„Das merkwürdige Kätzchen“ (Regie: Ramon Zürcher)
2021
„Das Mädchen und die Spinne“
HENRIETTE CONFURIUS (Mara) gibt ihr Schauspieldebüt als Zehnjährige in der TV-Komödie „Die Meute der Erben“ (2001). 2004 und 2009 wird sie beim Deutschen Fernsehpreis mit dem Förderpreis ausgezeichnet. Auf der Kinoleinwand sieht man sie u.a. in einer Nebenrolle in Julie Delpys Historiendrama „Die Gräfin“ (2009) und im Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Die geliebten Schwestern“ (2012) von Dominik Graf. Für ihre Rolle in „Tannbach“ erhält sie 2015 einen Bambi. 2018 spielt sie die Hauptrolle des Coming-of-Age-Dramas „Golden Twenties“, wie auch in Stefan Ruzowitzkys Adaption von „Narziss und Goldmund“. 2019 ist sie in der Netflix-Serie „Tribes of Europa“ zu sehen.
LILIANE AMUAT (Lisa) tritt schon während ihres Studiums am Max Reinhardt Seminar in Wien am Schau- spielhaus Zürich und bei den Wiener Festwochen auf. Von 2011 bis 2015 gehört sie zum Ensemble des Wiener Burgtheaters, anschliessend am Theater Basel. 2019 wechselt sie ans Residenztheater in München. Für ihre Hauptrolle im Kinofilm „Skizzen von Lou“ wird sie für den Schweizer Filmpreis nominiert, außerdem erhält sie 2017 den Schweizer Fernsehfilmpreis für „Lotto“ von Micha Lewinsky. 2020 wird sie mit dem Kurt Meisel Förderpreis ausgezeichnet.
URSINA LARDI (Astrid) wächst in der Schweiz auf. Sie zieht 1992 nach Berlin, wo sie an der Schauspielschule Ernst Busch studiert. Es folgen Theaterengagements u.a. am Maxim-Gorki-Theater in Berlin, am Schauspiel Frankfurt und am Berliner Ensemble. Seit 2012 ist sie festes Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Ursina Lardi ist insbesondere bekannt durch ihre Auftritte im TV oder in Michael Hanekes „Das weisse Band“. 2014 erhält sie den Schweizer Filmpreis für ihre Rolle in „Traumland“ (2013). Auch in erfolgreichen Schweizer Filmen wie „Akte Grüninger“ oder „Der Verdingbub“ ist Ursina Lardi zu sehen. 2017 wird ihr der Hans-Reinhart-Ring verliehen, die höchste Auszeichnung im Theaterleben der Schweiz.
Buch & Regie
Ramon & Silvan Zürcher
Kamera
Alexander Hasskerl
Schnitt
Ramon Zürcher & Katharina Bhend
Musik
Philipp Moll
Sound Design
Felix Bussmann
Ton
Balthasar Jucker
Licht
Oliver Geissler
Szenenbild
Sabina Winkler & Mortimer Chen
Kostüme
Anne-Sophie Raemy
Maske
Simone Enkerli
Casting
Ulrike Müller
Produktionsleitung
Andreas Blaser
Regieassistenz
Nicole Schink
Aufnahmeleitung
Anna Fanzun
Mischung
Denis Séchaud
Visual Effects
Eugen Danzinger
Color Grading
Roger Sommer
Produktion
Aline Schmid & Adrian Blaser
Mara
Henriette Confurius
Lisa
Liliane Amuat
Astrid
Ursina Lardi
Jan
Flurin Giger
Jurek
André M. Hennicke
Markus
Ivan Georgiev
Kerstin
Dagna Litzenberger Vinet
Nora
Lea Draeger
Karen
Sabine Timoteo
Frau Arnold
Margherita Schoch
eine Produktion von Beauvoir Films
in Koproduktion mit Zürcher Film und Schweizer Radio und Fernsehen
mit Unterstützung von Bundesamt für Kultur (BAK), SWISS-LOS / Kultur Kanton Bern, Cinéforom & Loterie Romande, Kulturfonds Suissimage, Aargauer Kuratorium, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Burgergemeinde Bern
im Verleih von Salzgeber
Der Material-Band arrangiert neben dem Drehbuch von Ramon und Silvan Zürcher 70 Bilder aus „Das Mädchen und die Spinne“. Zeichnungen und Making-of-Fotos geben Einblicke in die Entstehung. Drei analytische Texte beleuchten die besondere Filmsprache der Brüder, ihre Chaostheorie des Sozialen und das Motiv der Ablösung, das im Zentrum des von unterschiedlichstem Begehren geprägten Films steht.
Weitere Informationen gibt es hier.