ein Film von Angelina Maccarone
Deutschland 2006, 87 Minuten, deutsche Originalfassung
Kinostart: 4. Januar 2007
FSK: 16
Digital restaurierte Fassung
Elsa ist eine erfahrene Bewährungshelferin und lebt mit ihrem Partner Raimar und der gemeinsamen Tochter Daniela zusammen. Mit dem Auszug der Tochter bekommen Elsas Routinen erste Risse, eingespielte Abläufe leuchten ihr plötzlich nicht mehr ein. Stattdessen wird sie empfänglich für alles, was ihr ein neues und intensives Lebensgefühl verspricht. Als der junge Straftäter Jan ihr unverhohlen anbietet, sich ihr sexuell zu unterwerfen, willigt Elsa nach kurzem Zögern ein. Wie in einem Sog zelebrieren die beiden zusammen ihre Sehnsüchte und schaffen sich so ihren ganz eigenen sexuellen Kosmos. Elsas bisheriges bürgerliches Leben gerät zusehends aus den Fugen.
In „Verfolgt“ zeichnet Angelina Maccarone („Fremde Haut“) ein eindringliches Bild zweier Menschen, die sich ihrer tiefen Sehnsucht, Begierde und Angst stellen. Gesellschaftliche Konventionen zählen nicht mehr, die Grenzen zwischen Liebe und Schmerz, Hingabe und Abhängigkeit verschwimmen. Für ihr subversives Liebesdrama mit Maren Kroymann und Kostja Ullmann wurde Maccarone 2006 in Locarno mit dem Goldenen Leoparden („Cineasti del Presente“) ausgezeichnet. Jetzt ist „Verfolgt“ in digital restaurierter Fassung wiederzuentdecken!
Ist die Geschichte zu Ihnen gekommen oder sind Sie an die Geschichte gekommen?
Ich bin in einem sehr frühen Entwicklungsstadium hinzugezogen worden. Es gab über Jahre immer wieder lange Sitzungen mit der Autorin Susanne Billig und der Produzentin Ulrike Zimmermann. Zunächst war ich als Dramaturgin dabei. Ziemlich bald wurde mir dann die Regie angeboten. Ich habe sofort zugesagt, weil ich den Stoff sehr reizvoll fand, gerade wegen seiner großen Herausforderung, der Gratwanderung zwischen explizit und geheimnisvoll.
Sie erzählen formal ungemein streng, warum?
Der Film behandelt eine ritualisierte Form der Sexualität. Ich wollte dafür eine filmische Entsprechung finden. Die Entscheidung, den Film in schwarz/weiß zu drehen eröffnet andere Wege der Sinnlichkeit. Statt voyeuristischer Fleischbeschau gibt es eine Überhöhung dessen, was an Körperlichkeit passiert, und eine Konzentration auf die beiden Hauptfiguren. Selbst banale Orte – wie ein Einkaufszentrum oder ein Jugendheim – bekommen durch die Reduktion auf Licht und Dunkel eine Magie, die sie in ihrer farblichen Reizüberflutung normalerweise nicht besitzen. Mit Kameramann Bernd Meiners war ich mir von Anfang an einig, dass die Szenen möglichst im ganzen Bogen durchgespielt werden und die Kamera den Bewegungen der Schauspieler:innen folgt und nicht umgekehrt, um eine Intensität im Spiel zu ermöglichen. Wir wollten eine Klarheit und Direktheit, die diesem Tabubruch der beiden eine unverklemmte Würde verleiht.
Der Film ist auf mehreren Ebenen lesbar – zum Beispiel als Geschichte der Grenzüberschreitung, des Erwachsenwerdens, der Suche nach dem eigenen Ich, als Parabel auf eine Gesellschaft, die den Einzelnen immer stärker einengt. Welche Ebene ist Ihnen die wichtigste?
Verschiedene Ebenen, die Sie in Ihrer Frage ansprechen, sind für mich eng miteinander verknüpft. Das Angebot an vorgefertigten Lebensbausteine, aus denen sich nützliche Mitglieder der Gesellschaft bedienen sollen, wird ja immer bunter. Auch die letzten Tabus werden ins grelle Licht der Talkshows gezerrt und somit kontrollierbar gemacht. Was mich interessiert, ist aber der Teil, der sich nicht entmystifizieren und verharmlosen lässt, sondern sich dem normativen Zugriff verweigert. Grenzüberschreitungen sind meiner Meinung nach unerlässlich, um ein Leben und ein Ich jenseits der vorprogrammierten Domestizierung zu finden.
Wie sind Sie auf die Hauptdarstellerin Maren Kroymann, eine wunderbare Besetzung, gekommen?
Ich kenne Maren schon länger und wir wollten immer mal gerne zusammen arbeiten. Meine Aufgabe als Regisseurin verstehe ich so, dass ich den Schauspieler:innen einen Raum ermögliche, in dem sie sich öffnen können. Dazu gehört viel gegenseitiges Vertrauen. Bei einer Rolle wie der Elsa ist das noch viel wichtiger, weil die Intensität und Intimität, bei der wir Elsa zuschauen, das Risiko birgt, in den Abgrund der Peinlichkeit zu stürzen. Das Paradox ist hier: Je größer der Mut zum Sich-Öffnen und Sich-Zeigen, desto weniger gerät das Ganze zur Nabelschau; Wahrhaftigkeit lässt Scham hinter sich. Mit Maren wusste ich, dass das geht, weil sie den Mut dazu besitzt. Außerdem fand ich es reizvoll sie gegen ihr Image zu besetzen.
Wie weit wurde der Film am Schneidetisch geformt?
Der Schnitt ist immer noch mal ein ganz eigener Prozess in der Entstehung eines Films. Eine so erfahrene Editorin wie Bettina Böhler kann sehr spielerisch mit dem Material umgehen und macht auch radikale Vorschläge, Szenen vielleicht umzustellen oder Erklärendes wegzulassen.
Mich erinnert die Struktur an einen Bolero – im schneller, immer gewaltiger, immer drängender, von Szene zu Szene. Stand dieser Rhythmus schon beim Drehen fest oder wurde er erst im Schnitt geformt?
Der endgültige Rhythmus eines Films entsteht erst im Schnitt, das ist richtig. Aber natürlich muss das entsprechende Material schon vorhanden sein. Auch im Drehbuch war schon ein Rhythmus angelegt. Bei den Schauspielproben entstanden Veränderungen, die Einfluss auf den Rhythmus der Szenen hatten. Diese dann auf Film zu sehen, verlangt einen weiteren Schritt, der wieder verdichtet. Die Entscheidung von welcher Einstellungsgröße, welcher Take, wie lange stehen bleibt, wer oder was zu sehen ist in einem Dialog, wie viel Vor- oder Nachlauf eine Szene hat, ob alle gedrehten Einstellungen verwendet werden, ob ganze Szenen rausfliegen oder in der Abfolge ganz woanders eingesetzt werden, wird erst im Schneideraum getroffen. Der Rhythmus eines Buches ist zwangsläufig etwas anderes als der Rhythmus einer gespielten Szene, der sich wiederum unterscheidet vom Rhythmus des fertigen Films. In den unterschiedlichen Entstehungsstadien war uns allen wichtig, dass die Dringlichkeit und die Leidenschaft, mit der Elsa sich dieser neuen Seite ihrer Selbst nähert, durchgängig eine Spannung hält.
Die Dialoge wirken wunderbar authentisch. Waren alle von vornherein fest geschrieben oder konnten die Akteure sie verändern, vielleicht sogar improvisieren?
Die Dialoge sind zum allergrößten Teil so geschrieben. Einige sind verkürzt, weil Blicke oder Bewegungen im Raum in der Umsetzung so aussagekräftig waren, dass wir auf Text verzichten konnten. An wenigen Stellen sind Improvisationen aus den Proben eingeflossen. Zum Beispiel, als Jan sich dem Mädchen in seiner WG nähert und sie kurz über Musik sprechen. Da gab es ursprünglich keinen Dialog.
Sie gehen mutig ans „Eingemachte“, ohne die Zuschauer:innen je in die Schmuddelecke des Voyeurs zu drängeln. Wo haben Sie für sich von Anfang an Grenzen der Darstellung gesetzt?
Das Buch handelt von zwei Menschen die miteinander die Grenze zwischen Lust und Schmerz erkunden wollen. Mir war wichtig, das, was ich an dem Drehbuch als „wahrhaftig“ empfand, so auch umzusetzen. Elsa und Jan sind keine SM-Profis. Ihre Begegnungen haben etwas Tastendes. Sie loten für sich und den anderen aus, wie weit sie gehen können, und wo es sie hinführt. Die Schauspielproben haben sich stark auf diese intimen Begegnungen konzentriert. Das braucht den Mut, Elsa und Jan in ihrem Tun auch mal innehalten zu lassen und diese Spannung auszuhalten. Es geht eben nicht darum den Tabubruch ans Licht zu zerren und der Kamera Genitalien feilzubieten, sondern darum, alles zu erzählen, ohne es zu verraten; um die Wahrung des Geheimnisses, ohne schamhaft-eliptisches Verschweigen.
Der Film hatte beim Internationalen Filmfestival Locarno einen immensen Erfolg, samt Auszeichnung. Dort gab es einige Publikumsgespräche. Wie war die Reaktion?
Sehr positiv. Viele Zuschauer:innen hatten den Wunsch noch über den Film zu reden. Es gab einige Fragen, die darauf abzielten, das Gesehene einordnen zu können. Teilweise waren die Menschen schon verstört und wollten Erklärungsmodelle für das, was zwischen Elsa und Jan geschieht. Viele äußerten aber auch, dass sie Elsa in ihren Emotionen und Entscheidungen folgen konnten, obwohl sie diese Art der Erfahrung für sich selbst nicht vorstellbar fanden. Ich finde das gut, wenn der Film an den Gitterstäben der vermeintlichen Sicherheit rüttelt.
Das Interview wurde 2006 in Locarno geführt.
ANGELINA MACCARONE (Regie & Co-Autorin), 1965 geboren, ist eine deutsche Regisseurin und Drehbuchatorin und schrieb, bevor sie sich einen Namen in der Branche machte, bereits Songtexte für Udo Lindenberg und andere. Ihr Studium der Germanistik und Amerikanistik an der Universität Hamburg schloss sie mit einem Magistra Artium ab. Ihr erster Film „Kommt Mausi raus?!“ lief 1995 erfolgreich in der ARD-Reihe „Wilde Herzen“. Es folgten weitere Fernsehfilme, u.a. drei „Tatorte“ und ein „Polizeiruf“.
Mit ihrem ersten Kinofilm „Fremde Haut“ gewann sie 2005 den Hessischen Filmpreis. 2006 wurde „Verfolgt“ in Locarno mit dem Goldenen Leoparden („Cineasti del Presente“) ausgezeichnet. Auch „Vivere“ erfuhr internationale Beachtung und gewann 2007 den Artistic Achievement Award auf dem Outfest in Los Angeles. 2011 feierte ihr Dokumentarfilm „The Look“ über die Schauspielerin Charlotte Rampling auf dem Filmfestival in Cannes Premiere und war 2012 für den Deutschen Filmpreis nominiert.
Zusammen mit der Autorin Carolin Emcke produzierte sie die Social-Spot-Kampagne „Tolerant? Sind wir selber“, die in diversen Kinos lief und auf Youtube zu sehen ist. 2017 erhielt sie den Deutschen Filmpreis Lola für das Beste unverfilmte Drehbuch für den Kinofilm „Klandestin“. 2024 feierte „Klandestin“ auf dem Filmfest München Premiere und wurde beim Festival des deutschen Films Ludwigshafen als Bester Film ausgezeichnet.
Angelina Maccarone war viele Jahre als freie Dozentin tätig, unter anderem an der dffb und verschiedenen Universitäten in den USA. Seit Oktober 2014 ist sie Professorin für Regie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.
Filmografie:
1994
„Kommt Mausi raus?!“ (TV) Co-Regie mit Alexander Scherer
1997
„Alles wird gut“ (TV)
1998
„Ein Engel schlägt zurück“ (TV)
2004
„Fremde Haut“
2005
„Verfolgt“
2006
„Vivere“
2007
„Tatort Wem Ehre gebührt“ (TV)
2008
„Tatort: Erntedank e.V“ (TV)
2009
„Tatort: Borowski & die Sterne“ (TV)
2011
„The Look“ (Dok.)
2024
„Klandestine“
Regie
Angelina Maccarone
Buch
Susanne Billig
Kamera
Bernd Meiners
Montage
Bettina Böhler, B.F.S.
Komponisten
Jakob Hansonis, Hartmut Ewert
Szenenbild
Bernard A. Homann
Originalton
Dirk Homann
Mischtonmeister
Sascha Heiny
Kostümbild
Inger-Sofia Frerichs
Maskenbild
Axel Wilms
Regieassistenz
Tina Dupuy
Produzentin
Ulrike Zimmermann
Elsa
Maren Kroymann
Jan
Kostja Ullmann
Frieder
Moritz Grove
Sonnur
Sila Sahin
Manuela
Ada Labahn
Raimar
Markus Völlenklee
Daniela
Stephanie Charlotta Koetz
Babette
Sophie Rogall
Sprecherin TV
Susanne Billig
Verkäuferin
Katharina Pichler
Jugendrichter
Michael Pink
Ralf
Frank Meyer-Brockmann