Wurzeln - Bande - Flügel

Familie als Ort der Sozialisation, Kontrolle und Emanzipation queerer Menschen

Herausgegeben von Kim Alexandra Trau und Stephan Baglikow

Kartoniert, 220 Seiten

Veröffentlichung: April 2021

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Wurzeln - Bande - Flügel

Queere Aktivist*innen haben jahrzehntelang intensiv über und für die Aneignung und Neudefinition des Konzepts der Familie gestritten. Die queere „Normalität“ steht inzwischen für lange gewachsene eigene Wohn- und Lebensformen, Wahlverwandtschaften sowie vielfältige Regenbogenfamilien und Beziehungsmodelle. Damit ist die queere Emanzipationsgeschichte aber nicht auserzählt, sondern sie steht vor neuen Fragen und Herausforderungen.

Ist die Regenbogenfamilie zunehmend eine heteronormativ geformte Vorstellung „richtiger“ queerer Familien? Wo bleibt die Erinnerung an die Leistungen der Aktivist*innen, die in der Aids-Krise alles taten, um den Erkrankten zur Seite zu stehen? Was ist mit trans* Eltern und ihrem Recht auf eine gute Gesundheitsversorgung? Wie organisieren Menschen Sorgearbeit, die in nichtmonogamen Beziehungsnetzwerken leben? Vor welchen Herausforderungen stehen junge LSBTIQ* heute? Und ist die Erzählung von der Community als großer Familie real oder muss sie ein Wunschtraum bleiben? Mit diesen Fragen beschäftigen sich die neun Beiträge dieses Sammelbands.

INHALT

Einleitung

Christine M. Klapeer: Zwischen homonormativem Familialismus, queeren Verwandtschaftsutopien und „glücklichen“ Regenbogenfamilien. Ambivalenzen der Anerkennung (nicht nur in Zeiten von COVID-19)

Dirk Ludigs: Are we Family?

Simon Schultz: Family of Kink – Die Wahlfamilie der Perversen

Martin Reichert: Vier Beerdigungen und eine Hochzeit

Michel Raab: Wer kümmert sich in der Poly-Familie? Und wieso ist das wichtig?

Benno Gammerl: Schwule Väter und lesbische Mütter vor der Erfindung der Regenbogenfamilie

Claudia Krell: Erfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen in ihrem familiären Umfeld

Sascha Rewald: Eltern werden ist oft ziemlich schwer – für trans* Menschen. Eltern sein übrigens auch. Über die rechtlichen Probleme von trans* Eltern.

Jennifer Stoll: Von Repronormativität zu reproduktiver Gerechtigkeit: Überlegungen zu den (Un)Möglichkeiten, jenseits cisnormativer Modelle Eltern zu werden

LESEPROBE
Einleitung von Kim Alexandra Trau & Stephan Baglikow (Hrsg.)

2019 jährte sich die in der Akademie Waldschlösschen regelmäßig im Dezember stattfindende Tagung – die Dezembertagung – bereits zum zwanzigsten Mal. Diese Wissenschaftstransfertagung, die Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Interessierte zusammen und in einen gemeinsamen Austausch bringt, hatte zu Beginn noch die Aufgabe, eine Lücke zu füllen, die das Bildungssystem und im Speziellen die Wissenschaften lange offenließen und erst in den letzten Jahren als eine ihrer Aufgaben annahmen: sexuelle und geschlechtliche Vielfalt als Bildungs- und Forschungsthema umfänglich und vorurteilsfrei zu bearbeiten. „Wurzeln – Bande – Flügel: Familie als Ort der Sozialisation, Kontrolle und Emanzipation“, so der Titel der Tagung und dieses Tagungsbandes, stellt Familie als Teil queerer Lebensrealität(en) in den Mittelpunkt und steckt mit Sozialisation, Kontrolle und Emanzipation den Rahmen ab, der die zentralen Herausforderungen und Ziele der Akademie Waldschlösschen beschreibt: die Besucher*innen mit ihrer individuellen Sozialisation abzuholen, zur Gesellschaftskritik anzuregen und in ihrer Entwicklung von Identität und Selbstbewusstsein zu bestärken. Das Waldschlösschen ist bis heute ein Ort der Gemeinschaft, des Zusammenlebens, der Emanzipation, des Ausprobierens, der Bildung und der Gegenöffentlichkeit geblieben und schließt eine Lücke für all jene, die der Heteronormativität für einen Moment entfliehen wollen (Marbach 2013:51-52).

Um diesen Tagungsband einzuleiten, möchten wir an dieser Stellezunächst einen Schritt zurückgehen und eine Frage aufgreifen, die uns zu Beginn der Organisation der Tagung beschäftigt hat: In welchen Facetten queerer Leben spielt Familie eine Rolle? Das dominanteste Konzept queerer Familien ist aktuell eindeutig die Regenbogenfamilie, die nicht zuletzt wegen der gesellschaftspolitischen Debatte um die Ehe für Alle und dem damit einhergehenden Adoptionsrecht für homosexuelle Paare medial große Aufmerksamkeit erfahren hat. Diese mediale Präsenz hat zwar einerseits zur Akzeptanz von Regenbogenfamilien beigetragen, andererseits das Bild von queeren Familien in einem gegenläufigen Prozess zunehmend verengt, so dass es – abgesehen von den nun zwei möglichen gleichgeschlechtlichen Elternteilen – kaum von dem Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie zu unterscheiden ist (für die aktuelle Situation des gesamtgesellschaftlichen Familiendiskurses siehe: Steinbach 2017:4-8). Familie ist für queere Menschen allerdings weitaus mehr als das heteronormativ geprägte Konzept der Regenbogenfamilie und erfährt als solche entweder nicht in gleicher Weise rechtliche Anerkennung oder strebt diese erst gar nicht an.

Familie bedeutet für queere Menschen nämlich auch, sie selbst zu gestalten und immer wieder neu zu erfinden, Wahlfamilien zu gründen und sowohl feste als auch flexible Beziehungsnetze zu spannen; sei es z.B. in verworrenen Tuntenstammbäumen, in denen Tunten aller geschlechtlichen und sexuellen Identitäten eine Verbindung miteinander teilen, oder in den Voguing Houses1 in den USA, in denen Hausmütter und väter in und außerhalb des Ballrooms Verantwortung übernehmen. Wegbegleiter*innen aus der Community werden somit oft zu engen Vertrauten, die mehr als einfache Freund*innen sind und die füreinander Verantwortung übernehmen, wie es häufig mit der Blutsfamilie assoziiert wird. Und ja, sie können auch Sex miteinander haben: Als „friends with benefits“, „fuck buddies“, in BDSM- und Fetisch-Communities – ohne jedes Fortpflanzungsgebot. Ab wann die entsprechenden Beziehungsgeflechte mehr sind als flüchtige Bekanntschaften ohne Verpflichtungen, bleibt dabei einer höchst individuellen Antwort überlassen.

Folglich erweitern Konzepte von Wahlfamilien gängige Familienbilder, so dass Blutsbande (sowie juristisch definierte Verbindungen, wie Ehe und Adoption) und Fortpflanzung in den Hintergrund rücken können. Nichtsdestotrotz sind auch sie Facetten von Familie, die für queere Menschen eine besondere Rolle spielen können: Zum Beispiel gestaltet es sich für trans* Personen ausgesprochen schwierig, medizinische Betreuung zu erhalten, wenn sie Eltern werden möchten, da sich schnell sowohl Forschungslücken als auch Lücken in der Ausbildung von Ärzt*innen offenbaren.

Eine weitere Perspektive auf Familie von queeren Menschen eröffnet sich in ihrem Verhältnis zur Herkunftsfamilie: Queere Kinder und Jugendliche stehen häufig in starker Abhängigkeit zu ihren Verwandten, während sie ihr inneres (und äußeres) Coming-out erleben. Gleichzeitig sind sie häufig die Einzigen in ihrer Familie, die ihr spezifisches Anders- Sein, die Abweichung von den sexuellen und geschlechtlichen Normen der Gesellschaft und der damit einhergehenden Diskriminierung erleben und ohne familiäre Vorbilder verarbeiten müssen – eine Erfahrung, die große Teile der queeren Community miteinander verbindet. Bereits dieser kurze Abriss zeigt auf, wie breit queere Familienkonzepte gefächert sind. Aber damit nicht genug: Auch über den queeren Bezugsrahmen hinaus ist das Thema Familie seit der Dezembertagung 2019 verstärkt in den Vordergrund gerückt. Die COVID-19-Pandemie hat ähnlich einem Brennglas Missstände, Konflikte, Umstrittenes und Ungeklärtes zum Thema Familie sichtbar gemacht und verstärkt und deutlich gezeigt, dass in Krisenzeiten beinahe reflexhaft auf tief verwurzelte Vorstellungen von Gesellschaft zurückgegriffen wird. So wurden die Kontaktbeschränkungen, die Wahlverwandtschaften und sich nahestehende Personen benachteiligen, bereits frühzeitig und wiederholt kritisch wegen des dahinterstehenden Verständnisses von einer biologischen (Kern-) Familie als kleinster Struktureinheit der Gesellschaft kommentiert (Kram 2020; Ludigs 2020).

Im Wissenschaftsbetrieb wurde und wird das Thema Familie aktuell auffallend häufig aufgegriffen, und in Anbetracht zahlreicher Call-for-Papers aus dem Jahr 2020 zu diesem Themengebiet kann davon ausgegangen werden, dass die Pandemie, wenn auch nur indirekt, hier ein verstärktes Interesse ausgelöst hat: „Modern Marriages. European Perspectives on Policies, Discourses, Economies and Emotions in the long 20th century“ (Ludwig-Maximilians-Universität München 2020), „Transnational Families and Childhood in Modern History: Perspectives and Challenges“ (Ruhr-Universität Bochum 2019), „Family & Disability. Comparing British and German Histories of Care for the Disabled“ (Deutsches Historisches Institut London 2019), „Vielfältige Familien: Elternschaft und Familie/n jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit“ (Humboldt-Universität zu Berlin 2020), „Revolution der Paarbeziehungen? Der Wandel des Beziehungslebens in Bundesrepublik und DDR“ (ZZF Potsdam 2020). Diese Liste ausgewählter Call-for-Papers zeigt, wie vielfältig die akademische Auseinandersetzung mit Familie sein kann.

Ein ähnliches Bild offenbart ein Blick auf Tagungen zum Themenfeld Familie, die in den letzten beiden Jahren stattgefunden haben, z.B. „Contested Kinship: Towards a Redefinition of Human Relations“ (Reus/ Eiringhaus 2019), „Kriegstrennungen im Zweiten Weltkrieg – Familienzerstörung zwischen ‹Kollateralschaden› und Biopolitik“ (Voges 2019) sowie „Männlichkeiten und Care: Selbstsorge, Familiensorge, Gesellschaftssorge“ (Steymans-Kurz/Francke 2019). Dieses vermehrte Interesse führte auch schon zu den ersten Sammelbänden, Monografien und Sonderheften wissenschaftlicher Zeitschriften: „Familienbilder. Sozialer Wandel, Wissenschaft und Familienpolitik in der BRD 1954–1982“ (Neumaier 2019), „Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken“ (Elberfeld 2020), „Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte“ (Lanzinger 2018) und „Elternschaft und Familie jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit“ (Peukert et al. 2020) Nimmt man die Fülle an Artikeln, Tagungen und Veröffentlichungen zusammen, wird offensichtlich, wie viel Bewegung in der akademischen Auseinandersetzung mit Familie derzeit steckt. Zwar werden auch Fragestellungen aus dem Bereich sexueller und geschlechtlicher Vielfalt aufgegriffen, jedoch wird die Auseinandersetzung häufig auf einen einzigen Beitrag bei einem ansonsten heteronormativ bleibenden Blickwinkel beschränkt, während eine explizite Schwerpunktsetzung auf queere Perspektiven noch immer eine Seltenheit darstellt. An dieser Stelle setzt die Dezembertagung traditionell an: Um das Potential von – anfänglich primär schwuler – Wissensproduktion zu LSBTIQ* Themen nicht ungenutzt zu lassen, wurde die Dezembertagung Ende der 1990er Jahre ins Leben gerufen und wirft bis heute einen Blick auf Fragen, die zu häufig nur am Rand des wissenschaftlichen Mainstreams gestellt werden. Queere Themen werden auf dieser Tagung nicht nur mitverhandelt, sondern explizit in den Fokus gerückt. Dieser Sammelband vereint neun Beiträge der Tagung und möchte den Diskurs um Perspektiven erweitern, die sonst häufig vernachlässigt werden. Dafür wurden die Beiträge in drei Abschnitte mit unterschiedlichen Schwerpunkten aufgeteilt.

REGENBOGEN-FAMILIEN IN QUEEREN KONTEXTEN: KRITIK UND POTENTIAL

Der erste Abschnitt des Bandes widmet sich dem Familienverständnis queerer Menschen auf strukturelle Weise. Zuerst nimmt Christine Klapeer aktuelle Beobachtungen während der COVID-19 Pandemie zum Ausgangspunkt ihrer Analyse, nach denen bestimmte Familienformen – nämlich die Kernfamilie als zwei in einem Haushalt lebende Eltern mit Kindern – stärkere Anerkennung erfahren als andere. Darauf aufbauend arbeitet sie aus politik- und queertheoretischer Perspektive in drei Schritten heraus, wie Prozesse der Familiarisierung queerer Familien- und Verwandtschaftskonstellationen einerseits die rechtliche Erweiterung des Familienbegriffs zugunsten der sogenannten Regenbogenfamilie bewirken, andererseits aber auch die normative Verengung queerer Familienkonstellationen zur Folge haben. Dieser Verengung gilt es politisch aktiv entgegenzutreten, um die Anerkennung und Intelligibilität vielfältiger (queerer) Verwandtschaftskonzepte zu ermöglichen, schlussfolgert Klapeer in ihrem Ausblick.

Anschließend stellt sich* Dirk Ludigs* die Frage, ob der Begriff der Familie nicht die bessere Alternative zu dem der Community darstellt, um die Gruppe von LSBTIQ* zu bezeichnen. Dafür arbeitet Ludigs zunächst heraus, dass nicht von einer Gemeinschaft die Rede sein kann, sobald die teils schwerwiegenden Konflikte innerhalb der Community in den Blick genommen werden. Darüber hinaus teilen viele LSBTIQ* das Gefühl, – freiwillig und unfreiwillig – nicht Teil der Community zu sein. Nichtsdestotrotz werden LSBTIQ* immer wieder gerade von der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft ohne Unterschied in einen Topf geworfen, sodass die Verbindung untereinander von außen längst und zwangsweise hergestellt wurde. Anders zu sein und vom heteronormativen Mainstream abzuweichen, wird damit zum verbindenden Glied, dem sich nur schwerlich widersetzt werden kann. In dieser unweigerlichen Verbindung über viele Unterschiede hinweg und den damit einhergehenden widerwillig erzielten Kompromissen und Arrangements erkennt Ludigs interessante Parallelen zur Familie, die Potentiale für das Selbstverständnis von LSBTIQ* als Gruppe entfalten können.

BEZIEHUNGEN GESTALTEN: INTIMITÄT, VERANTWORTUNG, GEMEINSCHAFT

Im zweiten Abschnitt wurden Beiträge zusammengestellt, die aus unterschiedlicher Perspektive die Gestaltung von Beziehungen beleuchten und dabei sowohl Intimität, gegenseitige Verantwortung und die Rolle der Gemeinschaft verhandeln.

Simon Schultz ist Filmemacher und hat mit „family of kink“ einen Kurzfilm produziert, in dem Wahlfamilie, Lust, Sexualität und Fetisch eng miteinander verflochten sind. Auf der Tagung wurde der Film zunächst gemeinsam angeschaut, bevor Schultz Einblicke in die Entstehung und die Gedanken hinter dem Film gewährte. Der dazugehörige Beitrag im Tagungsband gliedert sich in drei Abschnitte: Zunächst reflektiert Schultz über die Verbindung von (Wahl-)Familie und Sexualität sowie Triebhaftigkeit, die nicht erst mit dem Bruch der Heteronorm hervordringt, sondern queere wie cisgeschlechtliche und heterosexuelle Menschen gleichermaßen betrifft. Anschließend beschreibt Schultz den Entstehungsprozess des Films und geht insbesondere darauf ein, wie die Vorbereitung des Films für alle Beteiligten als möglichst partizipativ gestaltet wurde. Im letzten Abschnitt des Textes stehen die Quellen im Mittelpunkt, die den Sprechtext des Films inspiriert haben. Schultz widmet sich besonders der Metapher von Landkarten, die uns durch die Welten leiten und fortlaufend durch unsere Beziehungen mit Anderen um Details und neue Wege bereichert werden.

Martin Reicherts Beitrag „Vier Beerdigungen und eine Hochzeit“ baut auf seiner 2018 erschienen Monografie „Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik „ auf. Er widmet sich der Frage, welche Auswirkungen die Aids-Krise, die Erkrankung an und der Tod durch Aids – und in deren Folge die teilweise unumgängliche Wiederaufnahme des Kontakts zur Herkunftsfamilie – auf schwule Beziehungen und schwule Männer hatte. Gerade im Umgang mit der Herkunftsfamilie zeigte sich, wie hoch das Maß an Tabuisierung noch war, wenn jahrzehntelange schwule Beziehungen der Erkrankten und Gestorbenen negiert und ihre schwule Identität unsichtbar gemacht wurden. Rückblickend wird so verständlich, warum sich die Ehe als monogame „Rettungsfantasie“ gerade in jener Zeit der Schwulenbewegung durchzusetzen begann, während sie als eine Möglichkeit erschien, die eigene Ohnmacht zu überwinden. Aber nicht nur die herrschenden Strukturen wirkten auf den Diskurs innerhalb der schwulen und queeren Community und veränderten ihn, vielmehr wurde der Aids Aktivismus zu einer treibenden Kraft der Hospiz-Bewegung; er beschleunigte die Lockerung der Besuchskultur in Krankenhäusern und veränderte die Gestaltung von Bestattungen und ihren Ritualen nachhaltig.

Im dritten Beitrag des Abschnitts stellt sich Michel Raab die Frage: Wer kümmert sich in der Poly Familie? In seiner Studie untersuchte Raab die Verteilung von Care-Arbeit in konsensuell nicht-monogamen Beziehungsnetzwerken unter der Leitfrage, in welchem Umfang die geschlechterbezogene Aufgabenverteilung, wie sie gesamtgesellschaftlich häufig vorzufinden ist, durchbrochen werden kann. Gleichzeitig analysiert er, welche Rolle neoliberale Denkweisen bei den Aushandlungsprozessen um Care-Arbeit spielen. Dazu arbeitet Raab mit Hilfe einer empirischen Typenbildung drei dominante Typen heraus: individuell-ideell, pragmatisch-kollektiv und konventionell-konzentriert. Die drei Typen unterscheiden sich unter anderem in der Organisation und Verbindlichkeit, der emotionalen Unterstützung füreinander sowie dem sozio-kulturellen Hintergrund der Akteur*innen und zeigen dabei auf, wie unterschiedlich Beziehungs-, Reproduktions- und Verantwortungsgemeinschaften gestaltet werden können.

QUEEREFAMILIEN MITQUEERENKINDERN

Kinder sind kein zwingender Bestandteil einer Familie, aber dennoch ein häufig anzutreffender und gewünschter – auch in queeren Familien. In diesem Abschnitt nähern sich die vier Autor*innen Familienkonzepten mit Kindern, in denen Queerness eine wichtige Rolle spielt, aus unterschiedlichen Blickwinkeln und beleuchten sowohl die queere Elternschaft als auch queeres Kind-Sein.

So hat Benno Gammerl im Rahmen seiner zeitgeschichtlichen Forschung Interviews mit Schwulen und Lesben geführt, die in den 50er, 60er und 70er Jahren mit Kindern in gleichgeschlechtlichen Beziehungen gelebt haben. In seinem Tagungsbeitrag kommt Gammerl zu der Einschätzung, dass das heutige Bild von der Regenbogenfamilie die Familie insgesamt idealisiert und die Herausforderungen verdrängt, welche die „Komplexität queerer Familienbildung“ mit sich bringt. So waren die Lebensverläufe seiner Interviewpartner*innen häufig kompliziert und weniger geradlinig. Die von ihm interviewten schwulen Väter und lesbischen Mütter hatten häufig konfliktreiche Coming-outs, da ihre Kinder ausschließlich aus heterosexuellen Beziehungen hervorgingen, was ihren Zugang zu schwulen und lesbischen Kreisen aufgrund ihres Eltern-Seins zusätzlich erschwerte.

Lotta Pengs Vortrag „No gender – no problem? Eine Erzählung über gendersensibles Aufwachsen“, in dem sie von der konsequent geschlechterneutralen Erziehung ihres Kindes berichtete, welche diesem eine freie Entwicklung der eigenen Geschlechtsidentität ermöglichen soll, konnte leider nicht als Beitrag in diesem Tagungsband Eingang finden. Neben Erzählungen über alltägliche Herausforderungen – wie der Auswahl der Kleidungsstücke und dem simultanen Umtexten von Kinderbüchern beim Vorlesen – berichtete Peng in ihrem Vortrag davon, dass ihr Kind und sie im Alltag häufig dem Druck ausgesetzt sind, dass ihr Kind sich geschlechtlich „eindeutig“ zu verorten habe und sie dies als Elter durchsetzen solle. Ergänzend dazu zeigte Peng Beispiele digitaler Hassrede, die sie in den sozialen Medien2 erfährt, wenn sie im Internet anonymisiert von dem gemeinsamen Leben erzählt.

Um die Perspektive junger LSBTIQ* auf das Thema Familie dennoch im Tagungsband abzubilden, hat sich dankenswerterweise Claudia Krell bereiterklärt, mit ihrem Beitrag einzuspringen. Sie geht darin der Frage nach, wie junge LSBTIQ* heute das Aufwachsen in ihren Familien erleben, während sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sichtbarer wird und gleichzeitig die Gesellschaft von Umbrüchen und Unsicherheiten geprägt ist. So stehen für LSBTIQ*-Jugendliche noch immer Herausforderungen im Vordergrund, denen sich heterosexuelle und cisgeschlechtliche Jugendliche in einer heteronormativen Welt nicht stellen müssen. Anhand der Ergebnisse ihrer Studie „Coming-out und dann?!“ arbeitet Krell unter anderem heraus, wie queere Jugendliche in vielen Fällen einen Prozess durchlaufen, innerhalb dessen sie – anfangs noch mit Ängsten vor dem äußeren Coming-out konfrontiert – über positive und bestärkende Reaktionen der Familien und des sozialen Umfelds selbstbewusste queere Identitäten entwickeln.

Früher, so Sascha Rewald in seinem Beitrag, haben trans* Leute fast ausschließlich vor ihrem Coming-out Kinder bekommen – jedenfalls solange es sich hierbei um biologische Elternschaft handelte –, während heute viele trans* Leute ihr Coming-out erleben, bevor Familienplanung für sie überhaupt relevant wird. Dies kann aus rechtlicher Perspektive allerdings zu abstrusen Situationen führen, da dieses mit den Entwicklungen einer flexibleren Lebensgestaltung von trans* Menschen nicht mitgehalten hat: So wird ein trans* Mann, selbst wenn er rechtlich als Mann anerkannt wurde, bei Geburt seines von ihm geborenen Kindes grundsätzlich als Mutter in die Geburtsurkunde eingetragen. Sollte er aber verheiratet sein und seine Ehefrau ein Kind bekommen, so gilt er automatisch als Vater. Rein rechtlich ist es also nicht ausgeschlossen, in einer Person Mutter des einen Kindes und Vater des anderen Kindes zu sein. Dahinter steht laut Rewald eine (staatliche) Ideologie, die noch immer von Bevölkerungsgruppen ausgeht, deren Kinderwunsch unerwünscht ist: Behinderte, Arme, Migrant*innen und Geflüchtete sowie trans* Menschen.

Jennifer Stoll stellt mit ihrem Beitrag ihr aktuelles Promotionsprojekt zu Elternschaft jenseits von Cisgeschlechtlichkeit vor und berichtet von ihren ersten Forschungsergebnissen, die sie im Rahmen von Interviews erzielt hat. Im Zuge dieser Interviews haben sich Recht und Medizin als zentrale Problemfelder herausgestellt. Die Erfahrung, oftmals nicht mitbedacht zu werden, weckt den Wunsch und die Forderung nach geschlechtersensibler Gestaltung des Rechts und Ausbildung von Mediziner*innen. Das Ziel ihrer Arbeit ist es, herauszuarbeiten, wie ausgeprägte Normvorstellungen in der Reproduktionspolitik bestimmen, für wen und unter welchen Bedingungen Eltern-Werden (un)möglich gemacht wird.

Trotz der Bemühungen, die Vielfalt queerer Familien im Tagungsprogramm abzubilden, musste eine Auswahl getroffen werden, die Leerstellen unvermeidbar machte. Um diese Leerstellen zu identifizieren, wurden am Ende der Tagung sowohl die Referent*innen als auch die Teilnehmer*innen danach gefragt. Als strukturell umfassendste Leerstelle wurde auf die mangelnde intersektionale Perspektive hingewiesen, die insbesondere die Kategorisierungen Race und Klasse vernachlässigte. Weiterhin wurde deutlich, dass Sexualität nur im Beitrag von Simon Schultz explizit aufgegriffen wurde, obwohl sie in vielen Beziehungsmodellen ein wichtiges Element darstellt. Als zusätzliche breit angelegte Themenfelder, denen ebenfalls mehr Aufmerksamkeit hätte gewidmet werden können, wurden einerseits die Beziehungen zur Herkunftsfamilie – insbesondere vor dem Hintergrund von Diskriminierungserfahrungen und Erfahrungen sexualisierter Gewalt sowie die Sicht von Kindern aus Regenbogenfamilien auf selbige – benannt und andererseits das Feld der reproduktiven Gerechtigkeit herausgehoben, in dem unter anderem neue Fortpflanzungstechniken in den Blick genommen werden sollten. Darüber hinaus sind auch viele weitere sehr präzise Fragestellungen nicht behandelt worden, beispielsweise, wie die subkulturellen Kategorisierungen („Gay Tribe“) der Figur des „Daddy“ wirken und wie sie sich kulturell unterscheiden. Das Thema Familie ist also aus queerer Perspektive noch alles andere als ausdiskutiert und wird auch weiterhin beständig neue Frage aufwerfen.