Edel-Uranier erzählen

Texte aus der Frühzeit der Homosexuellen-Emanzipationsbewegung

Hardcover, 312 Seiten

Veröffentlchung: September 2021

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Edel-Uranier erzählen

Der Band versammelt drei Texte aus der Frühzeit der Homosexuellen-Emanzipationsbewegung. Mit unterschiedlicher literarischer Kunstfertigkeit schildern sie nicht etwa das Leben „gewöhnlicher“ Homosexueller zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern Freundschaftsbeziehungen, die unter dem Gebot stehen, nicht allzu sehr in Sinnlichkeit abzugleiten, und damit eine Ideologie spiegeln, wie sie etwa von Benedict Friedlaender oder Elisar von Kupffer formuliert wurde.

Hans Waldau erzählt die Geschichte der gemeinsamen Reise zweier junger Männer, die dann aus der Ferne Freunde bleiben, Konradin die eines Studenten, der im jungen Grafensohn Lorenzo „glühende Liebe“ weckt, mit der er nicht umzugehen weiß, und Tempesta schließlich erzählt vom Seelenkampf eines „edelgearteten Uraniers, der seiner Neigung nicht nachgeben will“ und aufs Land flieht, um vor jeder Versuchung sicher zu sein.
Die wahre Identität dieser pseudonymen Autoren ist nicht bekannt.

LESEPROBE
Vorbemerkung zu „Edel-Uranier erzählen“ von Wolfram Setz

Der Titel der vorliegenden Textsammlung greift die Widmung auf, die der Autor, der sich „Konradin“ nennt, seinem Roman Ein Jünger Platos mitgegeben hat: „Allen Edel-Uraniern, seinen Leidensgefährten“.

Mit dem Begriff „Uranier“ verweist der Autor auf Karl Heinrich Ulrichs, den „großen opfermutigen Vorkämpfer für die Befreiung der gleichgeschlechtlich Liebenden von gesetzlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung“ (Magnus Hirschfeld), der neue Begriffe für die „gleichgeschlechtlich Liebenden“ finden mußte. Anfangs sprach er von den „Uraniern“ (Homosexuellen) im Gegensatz zu den „Dionäern“ (Heterosexuellen), später wurden daraus „Urninge“ und „Dioninge“. Ulrichs hat seine Geschlechtertheorie kontinuierlich weiter ausbauen und verfeinern müssen, bis er schließlich zu der Einsicht gelangte, daß man besser von einer alle Menschen umfassenden „Stufenleiter von Übergangsindividuen“ sprechen sollte. Den „Edel-Uranier“ oder „Edel-Urning“ hat es bei ihm zu keiner Zeit gegeben, weil allen „Übergangsindividuen“ auch ein „geschlechtliches Naturbedürfniß“ zu eigen sei. Gerade das aber versucht ein „Edel-Uranier“ / „Edel-Urning“ zu unterdrücken und aus seinem Liebesleben weitgehend zu eliminieren.

In apodiktischer Form hat das Benedict Friedlaender in seinem Buch Die Renaissance des Eros Uranios (1904) gefordert, in dem sich Sätze finden wie: „Sinnliche Liebe bedeutet natürlich noch lange nicht sinnliche Handlungen“ (S. 8) oder: „Wer gröbere Paederastie treibt, … der discreditirt die Freundschaft, die ja zwar von Natur einer Beimischung sinnlicher, besonders ästhetischer Empfindungen wohl bedarf, die aber durch die Ausbrüche der roheren Sinnlichkeit unzweifelhaft geschädigt wird“ (S. 196). Er geht sogar soweit, unter „gröberer Paederastie“ nicht nur „den Thatbestand des § 175 nach der reichsgerichtlichen Auslegung“ zu verstehen, sondern „jede specifisch sexuelle Handlung unter Geschlechtsgleichen“ (S. 260). „Physiologische Freundschaft“ war Friedlaenders Terminus für die von ihm eingeforderte gezügelte Form der Zuneigung. Andere Begriffe waren etwa „Lieblingminne“ und „Freundesliebe“, die vor allem durch eine von Adolf Brand herausgegebene Anthologie (1900) weite Verbreitung fanden. Der sinnlich aufgeladene, aber entsexualisierte Freundschaftsbegriff ermöglichte es Brand, das Phänomen in der gesamten „Weltliteratur“ aufzuspüren, und späteren Autoren, Goethe oder Whitman als „Edel-Uranier“ einzugemeinden.

Für den „gewöhnlichen Homosexuellen“ um die Jahrhundertwende aber konnte diese Art von Selbstbeschränkung nur zu Konflikten und einem eher unglücklich geprägten Leben führen. Davon legen die hier versammelten Texte Zeugnis ab, die nicht für „Weltliteratur“ stehen, sondern Beispiele aus der Flut „homosexueller Belletristik“ ihrer Zeit sind.

Die Auswahl der hier versammelten Texte folgt keinem bestimmten Plan, sondern ist allein von der Titelgebung und der Verfügbarkeit bestimmt. Ergeben hat sich eine Art literarisches Triptychon: ein längerer Roman mit einer aufgefächerten Handlung in der Mitte (Ein Jünger Platos), flankiert von zwei kürzeren Texten mit sehr begrenzter Perspektive (Aus der Freundschaft sonnigsten Tagen und Aus dem Liebesleben zweier Freunde). Über alle drei Texte hat seinerzeit Numa Praetorius (Eugen Wilhelm) im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen berichtet (seine Bewertungen sind den nachfolgenden Texten jeweils vorangestellt). Wer über ihren Stellenwert in der (homosexuellen) Belletristik ihrer Zeit mehr erfahren will, sei auf die Studie von James W. Jones: „We of the Third Sex“. Literary Representations of Homosexuality in Wilhelmine Germany (1990) verwiesen.

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Konradins Roman benennt das Selbsterziehungsprogramm schon im Titel: Ein Jünger Platos. Plato hat mit seinem Symposion das „Evangelium der Freundesliebe „ geschrieben, aus dem Theodor Reinhold, der Plato-Jünger, als habe er Friedlaender gelesen, die Verpflichtung ableitet, sich „von den gröberen Formen der Sinnlichkeit“ „mehr und mehr abzuwenden“ und „dieselbe nach und nach zu vergeistigen“. Die altgriechische Päderastie ist nicht die einzige Bezugsgröße für das Selbstverständnis eines Edel-Uraniers. Schon der Schüler Theodor Reinhold, in aller Unschuld und Begeisterung in einen Mitschüler verliebt, ruft dem Lehrer, der von „unseliger Freundschaftsschwärmerei“ redet und „unnatürliche Regungen“ befürchtet, zu: „Wozu laßt ihr uns von Freundespaaren wie David und Jonathan, Achill und Patroklos, Ludwig von Bayern und Friedrich dem Schönen lesen, wenn ihr’s uns verbietet, selbst solch idealen Vorbildern nachzuleben!“ Zu einem solchen Freundespaar waren in der historischen Mythenbildung auch Konradin, der letzte Staufer, und Friedrich von Baden geworden – der Autor hat sein Pseudonym mit Bedacht gewählt.

Zu einem „Lebensbild“, wie in der Widmung versprochen, rundet sich der Roman nicht; es sind gerade einmal anderthalb Jahrzehnte, durch die der Leser den Plato-Jünger begleitet. Da erzählende Passagen neben Briefen und Tagebuch- Auszügen stehen, ist der Roman zeitlich sehr genau im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts verortet. Die Briefe gehen an Theodors Schwester Irene, die ihm „wärmstes Mitgefühl und weibliches Verständnis“ entgegenbringt. Ein Kommilitone, der Medizin studiert, macht den Griechenland-Enthusiasten mit der aktuellen Diskussion zum Phänomen Homosexualität bekannt, klärt ihn auf über „sexuelle Zwischenstufen“ und schickt ihm „eine Anzahl Bücher über die homosexuelle Frage“. Darunter waren vielleicht die Schriften Ulrichs’, dessen Terminologie sich Theodor zu eigen macht, und der Roman Fridolins heimliche Ehe von Adolf Wilbrandt, in dem er mit Freunden ebenso gerne liest wie in Platos Symposion.

Doch alles Rüstzeug hilft nicht, den selbstgestellten Auftrag zu erfüllen. Auch die Flucht in die Kunst ist kein Ausweg, denn gerade dort bringt ihm der junge Lorenzo verehrende Liebe entgegen, vor der der Plato-Jünger flieht, als auch nur der Anschein von körperlicher Sinnlichkeit auftaucht. Später muß er erfahren, daß er mit seiner Flucht vor Zuneigung und Verantwortung den jungen Freund in den Selbstmord getrieben hat.

Die „Entgleisung“, von der im Untertitel die Rede ist, ereignet sich auf Capri, wohin „von den Zeiten der römischen Imperatoren an bis zu den Tagen unsres stillen Gefährten vom Essener ‚Hügel‘ alle hohen Uranier gepilgert“ sind, um dort „Eros, dem holdesten Gotte, zu opfern“. Dorthin reist er mit einem früheren Mitschüler, den er zufällig in Neapel wiedergetroffen hat. Dieser hat keine Hemmungen, seine Urningsnatur auszuleben. Beim Besuch der Blauen Grotte präsentiert er ihm mit Silvio einen „in schimmerndem Silberglanz“ erstrahlenden „jungen Halbgott von Capri“. Mit Silvio erlebt Theodor Reinhold eine „berauschende Nacht“ und einen „magnetischen Austausch“, zu dem es ihn mit „unbezähmbarer Naturgewalt“ hingedrängt hatte. Doch der als zweiter Antinous Verklärte entpuppt sich als geldgieriger junger Mann.

Ausgerechnet nach dieser Nacht muß Reinhold vom Tod des jungen Lorenzo in der Zeitung lesen. „Eines Lorenzo keusche Seele war mein, und ich – warf mich an einen Silvio weg!“ Er will dafür „büßen, wieder gut machen, sühnen“. Der unausweichliche Selbstmordversuch scheitert; in der nachfolgenden Rekonvaleszenz weist ihm nicht Plato und auch nicht die aktuelle Diskussion um die homosexuelle Frage einen Ausweg, sondern ein theosophisches Buch von Léon Denis: Reincarnation. In der Idee der „Wiederverkörperung“ findet er den Schlüssel zu seiner „gegenwärtigen Urningnatur“: Entweder hat er „bereits zur Zeit der alten Griechen einmal gelebt“ oder ist „in einem früheren Dasein tatsächlich ein Weib gewesen“. Daraus ergibt sich für ihn die Aufgabe, „eine höhere Stufe der Vollkommenheit zu erklimmen“. Möglich scheint ihm das nicht in seinem „Vaterland“ mit der „Härte und Ungerechtigkeit“ seiner Gesetze, sondern nur in einem „jungfräulichen Land jenseits des Weltmeers“.

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Der „große Plato“ wird auch von Hans Waldau in seiner Novelle Aus der Freundschaft sonnigsten Tagen angerufen. Der 28jährige Geologe und Reiseschriftsteller Edgar Ohlendorff hat bei seiner Tante den Abiturienten Kurt Stephan kennengelernt und will dessen „keusche Jünglingsseele“ erobern, was aber nur im „Heroismus der Entsagung“ geschehen darf, denn nur „maßvolles Ansichhalten“ trage in der Liebe reiche Früchte. Auf einer Reise nach Südtirol erlebt er „der Gegenliebe heiße Glut“, die in einem „brennenden Kuß“ ihren höchsten Ausdruck findet. Nach gemeinsamer Studienzeit in Freiburg wieder in fernen Gegenden, muß er erfahren, daß sein „Liebling“ in den Bergen verunglückt ist, sein Leichnam aber nie gefunden wurde. Er macht sich auf die Suche nach dem Freund und findet ihn bei einem Einsiedler, der den Verunglückten gerettet, aber auch mit „Bekehrungsgelüsten“ verändert hat. Beide Episoden lesen sich wie die Eingangskapitel zu einem Roman, der allerdings nicht weitergeschrieben, sondern nur behauptet wird: Wie die Freundschaft später „aus sicherer Entfernung in alter Treue weiter blüht“, erfährt der Leser nicht mehr.

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Entsagung bestimmt auch die Erzählung Aus dem Liebesleben zweier Freunde von Theo von Tempesta. So vielversprechend der Titel, so irreführend ist er. Einmal „eine Stunde glücklich“ war Theo von Tornwart mit seinem früh verstorbenen Freund Georg. Als Jahre später der junge Horst ihm „leidenschaftlich Augen und Mund“ küßt, drängt Theo „blutenden Herzens den so sehr Geliebten behutsam von sich“, um dem toten Freund treu zu bleiben. Und um nicht erneut in Versuchung zu geraten, gibt er sein gutbürgerliches Leben als Arzt auf, befreit sich von den „schweren Ketten der Zivilisation“, um auf dem Lande „in harter Arbeit um das tägliche Brot“ mit seiner „Sehnsucht nach Liebe“ allein zu sein. Mehr als zwei abschätzige Sätze hatte Numa Praetorius nicht übrig für diese Erzählung. Umso erstaunlicher, daß ausgerechnet dieser Text eine zweite Auflage erlebte.

Wolfram Setz