
von Kevin Clarke (Hg.)
Klappenbroschur, 356 Seiten, durchgehend farbig
Veröffentlichung: März 2025
In „Glitter and Be Gay Reloaded“ vollzieht Musikwissenschaftler Kevin Clarke eine Entwicklung nach, die er als „queere Operetten-Revolution des neuen Millenniums“ bezeichnet – und verfolgt sie zu ihren Ursprüngen zurück. Beiträge von drei Dutzend Autorinnen und Autoren beleuchten das als spießig verschriene Musiktheater-Genre Operette von dessen anarchisch-queeren Anfängen Ende des Jahrhunderts über die reaktionäre Verkitschung zur Zeit des Nationalsozialismus bis hin zur jüngsten Frischzellenkur durch Barrie Kosky in Berlin, Sasha Regans All-Male-Inszenierungen in England, Nitzberg & Neill in den USA und den Erfolg der „Operette für zwei schwule Tenöre“ in ganz Deutschland.
Das Ergebnis ist ein buchstäblich farbenfroher Band voller neuer Geschichte(n), Glamour und Musik. Der ultimative „Reload“ von Clarkes „Glitter and Be Gay“-Standardwerk aus dem Jahr 2007 also, das nur noch als E-Book erhältlich ist.
Mit Texten von: Johannes Albendorf, Philipp Amelungsen, Lotte de Beer, Mick Besuch, Rainer Bielfeldt, Kevin Clarke, Christoph Dompke, Wolfgang Dosch, Albrecht Dümling, Bernd Feuchtner, Türsteher Flo, Enrique Mejías García, Andreas Gergen, Matthias Gerschwitz, Michael Hune, Kathrin Kondaurow, Josef E. Köpplinger, Tilman Krause, Christophe Mirambeau, Richard C. Norton, Ludwig Obst, Ralf Jörg Raber, Axel Ranisch, John Rigby, Hans-Dieter Roser, Kriss Rudolph, Margot Schlönzke, Laurence Senelick, Nick-Martin Sternitzke, Klaus Thiel, Tillmann Triest, Brian Valencia, Sascha Wienhausen und Tobias Wolff.
KEVIN CLARKE studierte Musikwissenschaft und Literaturgeschichte in Berlin und Mailand und arbeitet heute als Musikkritiker, Journalist und Dozent. Sein Fachgebiet ist das Musiktheater, speziell Musicals und Operetten, ein Themenbereich, den er als Direktor des Operetta Research Centers Amsterdam (ORCA) in weltweit einzigartiger Ausführlichkeit beforscht. Einen besonderen Schwerpunkt legt Clarke auf LGBTQ-Themen. Zu seinen Veröffentlichungen zählen viele Fachaufsätze und Bücher wie „Die Welt der Operette“ und „Im Himmel spielt auch schon die Jazzband: Kálmán und die transatlantische Operette“. Zuletzt erschien von ihm „Breaking Free – Die wunderbare Welt des LGBTQ-Musicals“ (2022).
„RELOADED“
Ein paar persönliche Worte des Herausgebers zur Neuauflage
War da mal was? Als wir 2007 die Erstausgabe von „Glitter and Be Gay“ herausbrachten, war diese Essaysammlung das weltweit (!) erste Buch, das sich mit Homosexualität und Operette auseinandersetzte. Es war damals schwer, Autor*innen zu finden, die sich in ihren Recherchen und Forschungen mit dem Thema auseinandergesetzt hatten, es gab zu dem Zeitpunkt noch keine Ausstellungen in Museen zum Thema LGBTQ-Operette, und jemanden wie Barrie Kosky, der queere Lesarten von Werken wie „Ball im Savoy“, „Eine Frau, die weiß, was sie will“ oder „Perlen der Cleopatra“ erfolgreich auf die Bühne, ins Fernsehen und sogar in die New York Times katapultieren könnte, schien undenkbar.
Knapp zwei Jahrzehnte später sieht die Situation anders aus: Über die queeren Seiten des Genres wird offen im Feuilleton gesprochen, dass LGBTQ-Zuschauerinnen sich vom Genre vielfach besonders angesprochen fühlen, wird zur Kenntnis genommen und teils sogar in Dokumentarfilmen wie Rosa von Praunheims „Operndiven – Operntunten“ (2020) thematisiert, mit einem Dagmar-Manzel-Operettenfinale. Dass unter den wichtigen Operetteninterpret*innen, -produzent*innen und -autor*innen viele zu finden sind, die nicht-heterosexuell waren, wird nunmehr selbst von Seiten des Berliner Senats in Info-Broschüren mit Neubenennungsvorschlägen für Straßen und Plätze hervorgehoben, wenn Bezirksverwaltungen Diversität ins Stadtbild bringen möchten.
So weit, so toll, könnte man sagen. Es gibt unleugbare Fortschritte! Aber: Trotz all der Fortschritte ist seit 2007 kein einziges weiteres Buch herausgekommen, das sich explizit mit Homosexualität und Operette beschäftigt hätte. Weder auf Deutsch noch auf Englisch oder in sonst einer Sprache. Mehr noch, es ist seither auch kein Buch herausgekommen, das sich explizit mit Sexualität und Operette beschäftigt hätte. Außer meinen eigenen diversen Publikationen als Beiträge in Katalogen oder Sammelbänden, mit denen ich mich als so was wie der „Perverse“ aus der Operettenforschung gebrandmarkt habe, der immer auf „solchen“ Themen rumreiten muss. Zum Ärger der vermeintlich seriösen Kolleg*innen, die so was nie tun würden, speziell in der deutschsprachigen heteronormativen Offenbach-Forschung rund um Peter Hawig, der während eines Vortrags von mir bei einem Offenbach-Kongress 2019 anfing, vor Empörung zu zittern. Es musste ein Pastor aus den USA aufspringen und intervenieren, um die Situation zu deeskalieren.
Während es bei den Musical Theater Studies, international betrachtet, inzwischen eine Selbstverständlichkeit ist, auf LGBTQ-Aspekte einzugehen, auch auf die Frage nach einem entsprechenden Publikum und seinen besonderen Präferenzen im Bereich des Unterhaltenden Musiktheaters (z. B. im „Oxford Handbook of the American Musical “ von 2018, das sich in Band 3 mit „Identities and Audiences“ beschäftigt), ist das im deutschen Sprachraum alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil, es wird schlichtweg nicht getan. „Die (Nicht-)Besucher*innenforschung stellt in Deutschland ein vergleichsweise junges Untersuchungsfeld dar, das noch weit hinter dem Möglichen liegt“, konstatiert Kulturmanager und Publikumsforscher Tillmann Triest 2024. „Studien zu spezifischen Gattungen – wie etwa der Operette – und ihren Publika sind rar. In der Regel geht es allgemein um das Theaterpublikum, ungeachtet ästhetischer Eigenheiten von bestimmten Kunstformen und ihren Wechselwirkungen mit ihrem Publikum und ungeachtet verschiedener Diversitätsdimensionen der (Nicht-)Besucherinnen, entlang der demographischen Standards des Statistischen Bundesamtes von der Mehrheitsgesellschaft ausgehend.“
D. h. praktisch, dass ein spezielles Umwerben von LGBTQ-Zuschauer* innen nur auf Initiativen von Einzelnen zurückgeht, etwa den schwulen Marketingchef der Komischen Oper Berlin, André Kraft, der in der Zeit der Kosky-Intendanz eine dauerhafte Medienpartnerschaft mit dem Stadtmagazin „Siegessäule“ („We Are Queer Berlin“) organisierte, um ein entsprechendes Klientel ins Theater zu locken – ganz besonders für die queeren Operettenproduktionen mit den Geschwistern Pfister als LGBTQ-Zugpferden; noch im Sommer 2024 war die Neuinszenierung von Gerd Natschinskis DDR-Operette „Messeschlager Gisela “ eine von der Siegessäule „präsentierte“ Veranstaltung mit Dirigent Adam Benzwi und Regisseur Axel Ranisch als den prominenten schwulen Namen, lange nachdem Kraft bei der Komischen aufgehört hatte zu arbeiten.
Aus meiner eigenen Lehrtätigkeit an verschiedenen Hochschulen und Universitäten weiß ich, dass eine jüngere Forscher*innengeneration nachgerückt ist, die das alte „Glitter and Be Gay “-Buch aus der Uni-Bibliothek kennt und schätzt, weil es das nach wie vor einzige ist, das Fragen aus diesem Themenkosmos behandelt. Themen, die normalerweise im Fach Musikwissenschaft umschifft werden, wie der Student Julian Robbel von der HU Berlin im Frühjahr 2024 sagt: „Das Thema Homosexualität spielt leider überhaupt keine Rolle in meinem Studium. Ich finde, daran hinkt unser Fach der Musikwissenschaften: wir müssen wohl oder übel die inhaltlich althergebrachten Vorlesungen der Professoren (bewusst nicht gegendert) besuchen, um weiterzukommen, auch wenn die Thematiken uns nicht interessieren. Dementsprechend wenig gefüllt sind die Vorlesungssäle (weil ja keine Anwesenheitskontrolle erfolgen darf ), wohingegen die Seminare mit frischerem Stoff (z. B. im transkulturellen Bereich Afrodiasporie, im systematischen Bereich Musikpsychologie, Studies of Popular Music usw.) stark nachgefragt werden und übervoll sind. Aber auch da sind LGBTQ-Themen meist unterrepräsentiert.“
Gerade für Studierende wie Robbel – mit seinem Interesse an Unterhaltendem Musiktheater – sind Bücher wie „Glitter and Be Gay“ wichtig. Er sagt aber auch frustriert: „Musical/Operette gilt in Deutschland als Thematik für älteres Publikum, weil viele das als Alte-Leute-Thema abstempeln und sich viele Jüngere damit nicht befassen wollen.“ Was es umso dringlicher macht, die „jungen“ Forscher*innen endlich umfangreich zu Wort kommen zu lassen. Da das „alte“ „Glitter and Be Gay“-Buch nicht auf dem neuesten Stand ist, und weil seit 2007 so unendlich viel passiert ist, kam die Idee auf, das lange vergriffene Original nicht einfach neu aufzulegen, sondern eine „Reloaded“-Version zu gestalten zu der queeren Operettenrevolution, die seither stattgefunden hat: zu der zählen die zehn Jahre Intendanz von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin mit wegweisenden Operettenausgrabungen, bei denen man auch „Clivia“ sowie „Roxy und ihr Wunderteam“ mitrechnen muss, auch wenn es keine Kosky-Inszenierungen waren; zu der Revolution gehört definitiv auch die Uraufführung der „Operette für zwei schwule Tenöre“ von Florian Ludewig und Johannes Kram, das Sci-Fi-Singspiel „Planet Egalia “ über trans Identitäten im Weltall, aber auch das queerfeministische Oper*ettenkollektiv tutti d*amore und Produktionen wie „Magna Mater“, als Mash-up von Franz von Suppés „Die schöne Galathée“ und Paul Linckes „Lysistrata“.
Dazu kommen in dieser „Reload“-Ausgabe zahllose neue – und ja: junge – Stimmen von Leuten wie Mick Besuch, Nick Sternitzke, Tillmann Triest, Philipp Amelungsen u. a., ebenso teils prominente Vertreter*innen der wichtigen Operettenbühnen im deutschsprachigen Raum, die ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Genre reflektieren – als Publikum, als Regisseur*innen, als Intendant*innen oder als Fans eines Genres, das lange unter dem Nachkriegsimage litt, „schmerzstillendes Mittel“ zu sein. Sie alle wollen es nicht länger hinnehmen, dass die berühmten Werke von Jacques Offenbach, Johann Strauss, Franz Lehár und vielen anderen als „Archiv des Sexismus und Rassismus“ angesehen werden, wie es die Schriftstellerin und Feministin Marlene Streeruwitz in einem aufsehenerregenden Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard 2020 formulierte – verbunden mit der Forderung, man solle Werke wie „Die lustige Witwe “ oder „Der Zigeunerbaron“ doch bitte für 100 Jahre aus dem Verkehr ziehen, damit sich die Welt von der ideologischen Belastung der dort transportierten Inhalte erholen könne.
Was Streeruwitz (bedauerlicherweise) nicht erwähnt, ist, dass ihre Sicht der Operette – als Genre allgemein – auf einer Aufführungspraxis basiert, die sie in den 1970er- und 80er-Jahren in Österreich auf der Bühne in Baden bei Wien erlebt hat (wo ihr Vater, ein ÖVP-Politiker, Bürgermeister war). Sie fragt nie, ob diese Art der Aufführung eigentlich der ursprünglichen – nennen wir sie „authentisch“ – Gestalt der Werke entspricht, und ob diese Stücke bei der Uraufführung nicht ganz andere Dinge zu sagen hatten, als das, was Streeruwitz jetzt als „sexistisch/rassistisch“ brandmarkt und im Rahmen von Cancel Culture entsorgen will. Sinnvoller wäre es ja, wenn man diese problematische Aufführungspraxis endlich überwinden könnte.
Was allerdings bislang auch nirgends untersucht wurde, ist die Frage, wieso ausgerechnet schwule Fans aus der Boomer-Generation diese von Streeruwitz als „sexistische“ und „rassistisch“ gebrandmarkte Aufführungstradition so anspricht, wieso es also schwule Zuschauer schaffen, hinter einer derart negativen heteronormativen Fassade etwas absolut nicht Heteronormatives zu sehen, was sie neu konnotieren und damit die toxischen Elemente mit subversiver Camp-Ästhetik aushebeln. Hier im Buch geht Christoph Dompke darauf ein.
Klotz & Co.
Das einflussreichste und wichtigste deutschsprachige Operettenbuch der letzten Jahrzehnte war zweifellos das von Volker Klotz. Sein „Operette: Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst“ von 1991 wurde und wird von vielen Theatermacher*innen nach wie vor nachgebetet wie das Neue Testament, ohne Inhalte je kritisch zu hinterfragen. Obwohl es bei den Werturteilen des westdeutschen Alt-68ers viel zu hinterfragen gäbe. Bemerkenswert ist, dass in dem brillant geschriebenen Buch das Wort Sex (oder Homosexualität) nie vorkommt. Auch ein Klotz-Nachfolger wie Stefan Frey vom Operetten-Boulevard des Bayerischen Rundfunks (Motto „Die Leichtigkeit des Seins“) behandelt Sexualität und damit zusammenhängend Homosexualität nicht.
Albert Gier, emeritierter Professor der Universität von Bamberg und Herausgeber mehrerer Bücher, die sich mit Erotik und Operette beschäftigen, sagt 2024 rückblickend über seinen im Jahr zuvor verstorbenen Kollegen: „Man muss, denke ich, einfach in Rechnung stellen, dass das doch ein sehr alter Herr war. Als Klotz in den 1930er und 40er Jahren aufgewachsen ist, waren homosexuelle Handlungen in Deutschland noch strafbar. Ich bin überzeugt, dass er das nicht gut fand, aber es betraf (aus seiner Sicht) eine Randgruppe, die ja bis in die 1960er Jahre durchaus Gründe hatte, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Und Klotz hat eben seine (wie ich finde: ein bisschen holzschnittartige) Sicht entwickelt, dass es die guten Operetten gibt, die eine systemkritische (überspitzt gesagt: anarchistische) Position vertreten, und die anderen, die systemstabilisierend wirken. Ich weiß nicht, ob die sexuelle Emanzipationsbewegung in Deutschland nicht zu spät einsetzte, als dass sie Klotz noch wesentlich hätte beeinflussen können!“
Zu jüngeren Operettenforschern wie Stefan Frey – Autor von neuen Biografien zu Franz Lehár, Emmerich Kálmán und Leo Fall – bemerkt Gier: „Ich denke nicht, dass er einen sonderlich weiten Horizont hat.“ Was erklären mag, warum Fragen zu Drogengebrauch und manischer Depression bei Leo Fall oder zur Halbweltvergangenheit von Vera Kálmán als späterer „veuve abusive“ von Emmerich Kálmán nie gestellt werden. Somit fehlt auch jede weitergehende Diskussion zu Sex(ualität) und Substanzen-Missbrauch, wie man sie aus der Popmusik- und Filmwelt als Selbstverständlichkeit kennt, etwa im Zusammenhang mit Künstler*innen wie Amy Winehouse, Robert Downey Jr., Elton John, Johnny Depp, Pete Doherty, Lindsay Lohan u. a. Das führt dazu, dass nach wie vor Operettenbiografien an einem vermeintlichen Heile-Welt-Bild festhalten, weil selbst heutige Operettenhistoriker*innen sich nicht vorstellen wollen, dass Operettenschaffende sich so verhalten haben könnten, wie wir das aus der Populärkulturwelt kennen.
Dazu sollte auch ein Hinterfragen einer heteronormativen Vorstellung des Beziehungslebens von Künstler*innen gehören und eine Analyse, wie das nicht-heterosexuelle Umfeld dieser Künstler*innen Einfluss auf ihre Werke hatte in Form von bestimmten Themensetzungen, etwa der Behandlung von „Anderssein“ in Ivor-Novello- und Noël-Coward-Operetten sowie in Erik-Charell-Produktionen, wo betont attraktive Männer als Objekte der Begierde präsentiert wurden, etwa die Tiroler Truppe in Charells „Im weißen Rössl“. Solche Aspekte werden von der Operettenforschung gern stillschweigend übersehen, sexuelle Orientierung zur „Privatsache“ erklärt, über die man nicht spricht, oft auch, weil man bei nicht-heterosexuellen Biografien darauf angewiesen ist, mit Gerüchten zu arbeiten und zwischen den Zeilen von Lebensschilderungen zu lesen, da in Zeiten, wo Homosexualität kriminalisiert und sozial geächtet war, die entsprechenden Personen und ihr Umfeld alles taten, um Beweise zu vernichten. Wie legitim ist es dann heute, Persönlichkeiten der Vergangenheit zu „outen“, wenn sie keinen Widerspruch einlegen können? Wie legitim ist es, Gerüchte, die schwer zu verifizieren sind, in seriöse akademische Diskussionen einzubeziehen?
Darüber wurde bereits in wissenschaftlichen Publikationen wie dem von Michael Zywietz und Kadja Grönke herausgegebenen Band „Musik und Homosexualität_en“ (2021) ausführlich debattiert. Auch gestritten. Es gibt keine klaren Antworten. Ich habe mich als Herausgeber hier dafür entschieden, bei historischen Personen des öffentlichen Lebens offensiv mit Spekulationen zu ihrer sexuellen Orientierung umzugehen und dabei das Wort „schwul“ bzw. „lesbisch“ nie negativ zu verwenden.
„Let me feel my feelings!“
International betrachtet haben sich Autor*innen wie die USAmerikanerin Micaela Baranello entschlossen, in neuen Büchern zur Operette weiterhin «Sentimentalität und Schmalz» zu zelebrieren: „Let me feel my feelings!“ sagte Baranello im Gespräch mit mir 2021 und betonte, dass besonders die Operetten des 20. Jahrhunderts eine Art Traumwelt und Traumerfüllung „aus gezielt weiblicher Perspektive» bzw. für ein gezielt weibliches Publikum bieten.8 Operette als Äquivalent zu Bestsellern wie Love, Theoretically von Ali Hazelwood. (Warum nicht?) Natürlich kommt bei dieser Fokussierung auf heteronormative „weibliche“ Sehnsüchte und entsprechende Romantikvorstellungen Homosexualität nicht vor, nicht einmal im Kapitel über Oscar Straus’ Walzertraum, obwohl das Stück auf einer Vorlage des schwulen Autors Hans Müller basiert, der darin das Cruising-Verhalten von MSM („Männer, die Sex mit Männern haben“) in Wien Anfang des 20. Jahrhunderts nur leicht verschleiert schildert. Wofür man aber einen Blick haben muss, wenn man hinter den Schleier schauen will, einen Blick, den Baranello in ihrem Buch „The Operetta Empire: Music Theater in Early Twentieth-Century Vienna“ nicht hat. Es ist eine der wenigen englischsprachigen Publikationen zum Thema in den letzten Jahren. Bei der anderen gewichtigen Veröffentlichung – dem „Cambridge Companion to Operetta“, herausgegeben von Anastasia Belina und Derek B. Scott – geht’s viel um nationale Entwicklungen, von den skandinavischen Ländern über Russland bis nach Griechenland, Italien und dem Balkan. Sexualität oder gar Homosexualität kommt auch dort nicht vor. Auch wenn im Kapitel zu Operette in Italien erwähnt wird, dass Die Fledermaus bei der Erstaufführung in Neapel unter dem Titel „L’Orgia“ angekündigt wurde.
Trotz der Erwähnung dieses Umstands – und der damit einhergehenden Schockwellen – werden die damit zusammenhängenden Implikationen nicht diskutiert. Im Sommer 2023 veranstaltete die Europäische Musiktheater-Akademie eine Konferenz in Martina Franca beim Festival della Valle d’Itria zur Frage der aktuellen Situation und Relevanz von Operette. Obwohl da viele nicht-heterosexuelle Teilnehmende als Referent*innen und Diskutant*innen geladen waren, wurde über Sexualität und Homosexualität wie üblich nur von einer Person gesprochen – nämlich mir. Was zugegebenermaßen vorhersehbar war, werden viele mit verdrehten Augen gedacht haben. Scheinbar ist es nach wie vor – all die Jahre nach der „Glitter and Be Gay“-Erstausgabe – immer noch nicht selbstverständlich, dieses Thema und alles, was damit zusammenhängt, anzusprechen, nicht mal bei einer von der Europäischen Union geförderten Konferenz.
Diese „Reload“-Ausgabe will daher insistieren, dass (Homo)Sexualität in Zusammenhang mit Operette weiter Sichtbarkeit bekommt, und dass die Themen, mit denen wir uns 2007 als erstem Versuch einer Aufarbeitung beschäftigt haben, 2024 aktualisiert und ergänzt werden um das, was seither geschah – über das aber dennoch viele ungern sprechen. Man kann sich an Rosa von Praunheims berühmten Filmtitel erinnert fühlen: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.
Zwei praktische Hinweise: In den meisten Publikationen wird heute das Spektrum erweitert von schwul oder schwul-lesbisch zu LGBT bzw. queer. „Glitter and Be Gay“ war ursprünglich eine auf homo- und bisexuelle Männer als Operettenfans und -schaffende fokussierte Veröffentlichung. Dieser Fokus ist beibehalten worden, nicht um lesbische Frauen oder trans bzw. nicht-binäre Personen oder queere Menschen auszuschließen, sondern weil ich als Herausgeber hoffe, dass jemand anderes mit mehr Knowhow in diesem Bereich ein entsprechendes eigenes Buch rausbringen wird; als Ergänzung und Fortsetzung der „Glitter and Be Gay “-Arbeit. Zum anderen hat die Debatte ums Gendern seit 2007 enorm an Fahrt aufgenommen, es gibt viele Argumente dafür und dagegen, inzwischen gibt es sogar gesetzliche Regeln. Der Männerschwarm Verlag hat es jedem und jeder Autor*in überlassen, wie (und ob) er*sie gendern will. Jede Entscheidung diesbezüglich ist nicht als Ausgrenzung zu verstehen, sondern spiegelt die Lebenserfahrungen der jeweiligen Autor*innen wider.
In diesem Sinn wünsche ich allen viel Freude mit der „Reload“-Ausgabe. Sie ist Wolfgang Theis gewidmet, dem Mitbegründer des Schwulen Museums. Als langjähriger Leiter der Ausstellungsgruppe dieser Institution nahm Theis nach der Veröffentlichung des ersten „Glitter and Be Gay“-Buchs die Idee einer Ausstellung zu Erik Charell an, woraus nach einer Warteschleife 2010 die „Glitter and Be Gay“-Schau des Schwulen Museums am Berliner Mehringdamm wurde, bei der Theis (zusammen mit Anke Vetter) mir half, erstmals überhaupt eine Museumsausstellung zum Thema Homosexualität und Operette öffentlich zu präsentieren. Es sollte die bis zum damaligen Zeitpunkt erfolgreichste Ausstellung in der Geschichte des 1985 gegründeten Museums werden, die ein überraschend positives Presseecho und große Besucher*innenresonanz fand. Damit war das Thema überregional sichtbar und erfahrbar für Menschen in einem Maß, wie es eine Buchpublikation niemals hätte erreichen können.
Die Ausstellung brachte viele Dinge ins Rollen. Anke Vetter kuratierte 2014 die Schau „Mein Kamerad – Die Diva. Theater an der Front und in Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs“, worin es unendlich viele Bilder von Operettenaufführungen mit ausschließlich männlichen (cross-dressed) Kriegsgefangenen gab und wo explizit auf die homoerotische Dimension solcher Aufführungen eingegangen wurde. Der Friedrichstadtpalast errichtete vorm Eingang eine Gedenkstele für Charell und die schwule Operette, für die er einst stand, und 2023 war „Feuerwerk“ sogar zentraler Bestandteil der Ausstellung „Ausgeblendet/Eingeblendet: Eine jüdische Filmgeschichte der Bundesrepublik“ im Jüdischen Museum Frankfurt, mit Verweis auf eine schwule Lesart des Stücks und die Bedeutung von Homosexualität fürs Verständnis von Charells letztem Bühnen- sowie Filmwerk.
All das – und noch viel mehr – wäre nie passiert ohne Theis und sein Vertrauen, einem jungen unerfahrenen Musikwissenschaftler seine erste Ausstellung zu geben. Die für mich zu weiteren Ausstellungen führte, u. a. in Wien am Theatermuseum „Welt der Operette“ mit Marie-Theres Arnbom, zu Lehraufträgen an der Uni Wien und anderswo, zu jungen Studierenden, die mit ihren mehrsprachigen Einträgen zu Operette und Offenbach (und besonders zu „Nana“) bei Wikipedia weltweit Dinge in Bewegung setzten. Damit wurde – im Tandem mit der Arbeit von Kosky an der Komischen Oper ab 2012 – eine viel umfangreichere Lunte für eine revolutionäre Operettenexplosion gelegt, die auf den Punkt hinausläuft, an dem wir uns heute befinden.
Kevin Clarke, August 2024