
von Anne Eßer (Hg.)
Broschur, 272 Seiten
Veröffentlichung: März 2025
Anfangs in Fan-Zeitschriften, später dann im Internet hat sich eine neue Literaturgattung etabliert: Slash-Fanfiction. Leser*innen und Zuschauer*innen populärer Spielfilme und Fernsehserien machen sich die fiktiven Stoffe ihrer Lieblingsserien zu eigen und entwickeln sie weiter, indem sie Aspekte hinzufügen, die in den offiziellen Versionen ihrer Meinung nach „fehlen“. Liebesbeziehungen zwischen bestimmten Charakteren spielen dabei eine besondere Rolle. Fanfiction bringt die Figuren zusammen, die nach Meinung der Fans zusammengehören: Captain Kirk und Mister Spock in „Star Trek“, Boromir und Aragorn in „Der Herr der Ringe“, Harry Potter und Draco, Sherlock Holmes und Dr. Watson oder auch Professor Boerne und Kommissar Thiel aus dem Münsteraner „Tatort“.
Die Anthologie „In Texten wildern“ verdeutlicht die enorme Komplexität und Verbreitung von Slash-Fanfiction. Herausgeberin Anne Eßer hat für diesen Band eine Reihe profilierter Forscher*innen zum Thema gewonnen, darunter Medienwissenschaftlerin und Autorin Denise Labahn („Queere Fanfictions – Queere Utopien“), US-Literaturwissenschaftler David M. Halperin („Was ist schwule Kultur?“) und Melanie Babenhauserheide („Harry Potter und die Widersprüche der Kulturindustrie“). Damit die Beiträge für die breite Allgemeinheit zugänglich sind, ist jeder Aufsatz um ein konkretes Textbeispiel herum angelegt, das im Verfahren des „close reading“ analysiert wird.
Eine Anfrage des Verlags, ob ich bereit sei, meinen vor siebzehn Jahren verfassten Artikel über Slash-Fanfiction zu aktualisieren, weckte meine Neugier, mich nach langer „Abstinenz“ erneut mit dem Phänomen „Slash“ zu befassen. Siebzehn Jahre lang war ich nicht in Fanfiction-Foren aktiv gewesen. Bei dem fraglichen Artikel handelt es sich um einen Beitrag zur Anthologie „Unbeschreiblich männlich: Heteronormativitätskritische Perspektiven“ (2007) zur Frage, warum Frauen Slash lieben. Ich feierte den „queeren Raum für Frauen“ mit Joanna Russ (1985), würdigte die auf ihre eigenen Bedürfnisse bezogene Vernetzung und Kommunikation von Frauen mit Camille Bacon-Smith (1992), dachte mit Catherine Salmon und Donald Symons (2001) über die „Warrior Lovers“ nach – Frauen, die sich in den „Waffenbruder“ ihres begehrten Helden hineinfantasieren – und verschlang den Band zu Fanfiction in Zeiten des Internets von Kristina Busse und Karen Hellekson (2006).
Seither musste vieles sich verändert oder weiterentwickelt haben. Zum Beispiel erschien mir 2007 an der Argumentation von Salmon und Symonds einleuchtend, dass die Unterrepräsentation starker weiblicher Figuren in (pop-)kulturellen Erzeugnissen, in Literatur und Film, Frauen dazu nötigt, sich mit dem Busenfreund ihres Lieblingshelden zu identifizieren. Inzwischen aber sind auch in James-Bond-Filmen die „Bond-Girls“ nicht mehr nur Püppchen, die gerettet, gevögelt und dann entsorgt werden (bequemerweise meist vom Gegenspieler ermordet). In der epischen Serie „Game of Thrones“ (2011-2019) intrigieren und kämpfen Frauen und Männer ebenbürtig, und es wird sogar das übliche Gut-Böse-Schema zugunsten komplexerer Charaktere durchbrochen, was vielfältigere Identifikationsmöglichkeiten eröffnet.
Jedoch scheinen die vorgefertigten Identifikationsfiguren, die von den Produzenten von Medienerzeugnissen maßgefertigt zugeschnitten wurden, um bisher unterrepräsentierten Gruppen als Identifikationsangebote zu dienen, manchmal weniger verlockend zu sein, als sich Figuren und Stoffe anzueignen und sie fantasievoll neu zu interpretieren und auszuschmücken. So jedenfalls zeigt David Halperin in „Was ist schwule Kultur?“ (2021) auf, wie originär schwule Literatur oder Filme – für schwule Leser entworfene Geschichten über schwule Männer – in Umfragen beim schwulen Publikum oft mehrheitlich als weniger „schwul“ empfunden wurden als Mainstream-Romane, aus denen traditionell ein schwuler Subtext herausgelesen oder in sie hineininterpretiert wurde.
Lange, bevor es eine offene, explizit schwule Kultur gab, mit ihrer eigenen „ „Identitätskunst“, gab es bereits eine schwule kulturelle Praxis, die darin bestand, sich Gestalten wie Judy Garland und Joan Crawford anzueignen, ihre Codes umzuschreiben und sie zu „queeren“. Man fand homosexuelle Bedeutungen in den Romanen von Herman Melville und absorbierte Melodramen mit ausschließlich weiblicher Besetzung wie „Die Frauen“ oder „Sex and the City“. Und genau diese Werke einer Kultur der Massenmedien können noch heute queere Gefühle transportieren (ebd.:33f.).
Halperin äußert eine gewisse Verwunderung darüber, dass die zunehmende Verbreitung offen schwuler Werke („schwuler Identitätskunst“) die Vorliebe für das „Queeren“ heteronormativer Erzeugnisse nicht verdrängt hat:
Dass schwule Männer eine Kultur produzieren und konsumieren, die sich mit Darstellungen schwuler Männer und ihren Erfahrungen befasst, ist vollkommen einleuchtend, und es wäre sogar leicht zu verstehen, weshalb der kulturelle Ausdruck schwuler Männer zu einer Zeit, in der eine solche offene, explizite schwule Kultur nicht möglich war, die Form der subkulturellen Praxis von Aneignung und Umdeutung ausgewählter Elemente der sie umgebenden heterosexuellen Kultur angenommen hat. Es war weniger damit zu rechnen, dass die Entstehung einer offenen, explizit schwulen Kultur diese Praxis nicht beendet und den Reiz, heteronormative Artefakte queer gegen den Strich zu lesen, nicht zerstört hat, doch schwule Männer praktizieren noch immer Formen der Aneignung und Umkodierung heterosexueller Kultur. (ebd.:44)
Halperin spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „[…] Freude daran, in kulturellen Hervorbringungen, die Homosexualität nicht offen ansprechen und nicht einer offen schwulen Kultur entstammen, queere Bedeutungen zu entdecken […]“ (ebd.:34).
Was Halperin hier für die schwule Subkultur beschreibt, entspricht analog dem „Queeren“ kultureller Produkte, wie es Slasher*innen betreiben. Es scheint ein besonderer Reiz darin zu liegen, einen Text oder Film „subversiv“ zu unterwandern und ihn für sich selbst oder als Gruppe umzudeuten. Neuere, bewusst auf ein Publikum von größerer Diversität zugeschnittene Serien und Filme ersetzen daher auch für Slash-Liebhaber*innen nicht unbedingt die Medienerzeugnisse traditionellerer, heteronormativer Machart.
Die Veränderungen in der medialen Repräsentation der Geschlechter (und in den gesellschaftlichen Diskussionen um Geschlecht, um sexuelle Orientierung und Beziehungen) mögen daher in Fanfiction-Foren und Slash-Texte eingehen, doch lassen sich die Auswirkungen keinesfalls verallgemeinern.
Die Beiträge dieses Sammelbands unternehmen deshalb den Versuch, theoretische Analysen der Slash-Fanfiction jeweils mit einem close reading, der eingehenden Analyse und Interpretation eines konkreten Slash-Textes zu verbinden. Dabei werden neuere wie auch ältere Slash-Geschichten einbezogen, um Unterschiede, Brüche und Traditionslinien sichtbar werden zu lassen. Der Band versammelt zehn Essays zu verschiedenen Fragestellungen von Autor*innen, die sich zu einem großen Teil professionell mit dem Thema „Slash“ befassen, indem sie an Universitäten in Deutschland, den USA oder Dänemark zu Fanfiction-Literatur forschen und lehren, sowie von Autor*innen, die in Slash-Foren aktiv sind oder waren. Die Themen der Essays beziehen sich daher auf aktuelle Forschungsprojekte der Autor*innen und auf persönliche Erfahrungen in Slash-Fangemeinschaften. Dabei können nur einige exemplarische Fragestellungen aufgegriffen werden. Der Band erhebt nicht den Anspruch, den aktuellen Forschungsstand zu Slash-Literatur umfassend abzubilden, will aber einzelne Themen und Probleme im Kontext von Slash-Literatur beleuchten.
Kristina Busse, eine der renommiertesten Expertinnen auf dem Gebiet, umreißt in ihrer Einführung die Geschichte der Slash-Fanfiction und der grundlegenden Forschung. Von dieser Basis gehen die neueren Forschungsansätze aus, fügen weitere Perspektiven hinzu oder diskutieren verschiedene Aspekte neu.
Jacqueline Meintzinger und Thessa Jensen nehmen uns mit auf eine kurze Zeitreise durch die westliche Medienwelt mit dem Blick auf die Darstellung von Homosexualität und Homoerotik. Sie beziehen sich dabei auf die Zeitspanne der letzten fünfzig Jahre, die auch Busse im Blick hat, sodass beide Essays sich ergänzen und zum Nachdenken über Bezüge anregen. Als Abschluss wird ein close reading der kurzen deutschen Fanfiction „Du bist es wert“ in dem Fandom Tatort Münster durchgeführt.
Melanie Babenhauserheide und Kalle Krämer stellen anhand einer Draco Malfoy/Harry Potter-Geschichte Überlegungen zu einem Wandel der Sexualmoral an, insbesondere zur Diagnose, dass die Orientierung an klassischen Normen und Verboten in der westlichen Sexualkultur weitgehend abgelöst wurde durch eine Interaktions- oder Konsensmoral, die eher das Zustandekommen sexueller Handlungen beurteilt als die Handlungen selbst, wobei auf eine Optimierung der Lust und die Vermeidung sexueller Gewalt abgezielt wird. Die Analyse der Drarry-Geschichte fördert Ambivalenzen und komplexe Entwicklungen in der Innenschau und im Austausch der beiden Figuren zutage, die auch mediale Spezifika des Genres reflektieren.
Die Veränderungen im Umgang mit der in Slash-Texten verbreiteten, aber oft kontrovers diskutierten Trope „noncon/ dubcon“ (Sex mit nicht vorhandenem oder zweifelhaftem Einverständnis eines Partners) ist auch das Thema des Essays von Alexis Lothian und Kristina Busse. Anhand von drei verschiedenen Variationen zu einem beliebten Kirk/Spock-Motiv wird erkennbar, wie sich im Laufe der Dekaden die Sicht auf Übergriffe und Gewalt in Teilen der Fandoms gewandelt hat und wie aktuelle Debatten (u.a. etwa die Metoo-Debatte) aufgegriffen und kritisch reflektiert werden.
Nina Heise untersucht die Darstellung von Familie in Slash- Fanfiction in einer Sirius Black/Remus Lupin-Geschichte und fragt, inwiefern Familie als traditionell heteronormatives Konzept gequeert wird, aber auch, inwiefern Fanfictions letztlich doch auch traditionelle Familienmodelle reproduzieren.
Um Normativität und Abweichungen davon geht es auch Denise Labahn, die in ihrem Essay Männlichkeitskonstruktionen und Homosexualität sowie die Trope „Twinzest“/Verwandtschaft anhand einer „Vampire Diaries“-Fanfiction erörtert.
In einem Band zu aktuelleren Entwicklungen auf dem Gebiet der Slash-Fanfiction darf ein Essay zum Omegaverse nicht fehlen. Als ich anlässlich dieses Buches erneut die Recherche zu Slash-Fanfiction aufnahm, hatte ich noch nie etwas vom Omegaverse gehört und las ratlos und irritiert über feste Brunftzyklen, starre Hierarchien und biologistische Zuschreibungen „angeborener“ Verhaltensweisen – in allen Punkten das Gegenteil von dem, was ich mir von einer Slash-Geschichte erwarte und wünsche. Inzwischen habe ich mir aber sagen lassen, dass gerade diese festen Rangfolgen und Kategorien dazu genutzt werden können, gesellschaftliche Probleme aufzuzeigen und die Protagonisten für ihre Freiheit und Gleichberechtigung kämpfen zu lassen. Kelsey Entrikin deckt die Hintergründe und Problematiken der neuen Trends und Tropen auf.
Vera Cuntz-Leng erarbeitet anhand einer „Good Omens“-Fanfiction, wie Fanfictions im Spannungsfeld von Intertextualität und Neuinterpretation das Fanobjekt mit Bedeutung versehen und Fanfiction-Autor*innen nach wie vor etablierte Konzepte von Autorschaft herausfordern, dabei aber durchaus gewissen Begrenzungen Rechnung tragen müssen. Das close reading der Geschichte „Fundamentally People“ von CovidCordelia demonstriert exemplarisch Methoden und Funktionsweisen von Fanfiction.
Mit dem Aufsatz „Die heilige Gemeinschaft der Männer: Geschlechtermythen und ihre Folgen“ von David M. Halperin wird ein bisher unveröffentlichter Text des bekannten Sozialwissenschaftlers aufgenommen, in dem die Traditionslinie der queeren Interpretation von Texten, angefangen beim Gilgamesch-Epos bis zu den Anfängen von Slash verfolgt wird.
Ich selbst analysiere zum Abschluss einen vollständig abgedruckten Slashtext im Hinblick auf einige der Fragestellungen, die in den Essays im Buch behandelt werden.
„Einleitung“ zu „In Texten wildern“ von Anne Eßer (Hg.)