von Lars Werner
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 246 Seiten
Veröffentlichung: 10. April 2023
Zwei Sommer zwischen Punk und Plattenbauten: Im Dresden der Jahre 2005 und 2006 erleben Benny, seine beste Freundin Maren und ihre Clique das Erwachsenwerden im Schleudergang. Ihr Alltag zwischen Pogo-Partys im Jugendzentrum Rosaluchs, Straßenschlachten mit der Polizei und Kollisionen mit Neonazi-Banden ist ein ständiger Taumel zwischen Gefahren und Glücksmomenten. Hinzu kommen die Wirrungen der Pubertät: Eskalationen im Elternhaus, Planlosigkeit in Sachen Zukunft, Verselbstständigung der Hormone. Im WM-Sommer 2006 sorgt dann auch noch die neue Fahnenschwenklust der Deutschen für Verwirrung. Und dieser komische Kuss mit seinem Kumpel Arne, der Benny deutlich mehr beschäftigt, als ihm lieb ist. Es wird Zeit, ein paar Entscheidungen zu treffen.
Nach seinen Theatererfolgen „Weißer Raum“ und „Deutsche Feiern“ legt Lars Werner mit „Zwischen den Dörfern auf hundert“ seinen ersten Roman vor. Sein Debüt ist nicht nur eine ambivalente literarische Liebeserklärung an Dresden und sein Umland, sondern auch ein lakonischer Kommentar auf die Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft. Das Ringen zwischen Gestern und Heute, Herkunft und Ankunft, Mainstream und Queerness, Stadt und Provinz – all das steckt drin im melancholischen Lebenshunger von Werners Ich-Erzähler. Und natürlich die kostbaren Momente, in denen sich alle Widersprüche auflösen und auf einmal alles richtig erscheint. Oder wie Benny es selbst ausdrückt: „Diese gebündelte Wut, die ich sonst wie ein Baby in mir trage, ist weg und an ihrer Stelle – ein Quieken der Seele oder so.“
LARS WERNER, geboren 1988 in Dresden, studierte Medienkunst in Leipzig und London sowie Szenisches Schreiben in Berlin. Seit 2018 arbeitet er als freischaffender Autor. Für sein Stück „Weißer Raum“, das 2018 bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen uraufgeführt wurde, erhielt er den Kleist-Förderpreis, weitere seiner Stücke wurden u. a. am Theater Münster, in der Neuköllner Oper Berlin und am Staatstheater Braunschweig gezeigt. 2019 erhielt er das Alfred-Döblin-Stipendium. 2017 eröffnete er das Berliner Ringtheater und war bis 2023 Teil des Leitungskollektivs. Seine Hörspiele liefen auf Deutschlandfunk Kultur und RBB Kultur. Lars Werner lebt in Berlin.
Seit einer Stunde laufen wir jetzt schon die Elbe entlang auf dem Weg zu dieser ominösen Badestelle. So viel zum Thema „schnelle Abkühlung“. Meine beiden Begleiter können sich offensichtlich kaum zurückhalten. Ihre hitzige Diskussion führen sie nur, um ihre Münder davon abzuhalten, sich gegenseitig aufzufressen. Jedenfalls haben sie schon länger vergessen, mich ins Gespräch einzubinden, und ich muss mich mit meinen Gedanken und dem Ausblick begnügen.
Es ist später Nachmittag und die Dämmerung taucht die mit hohem Gras bewachsenen Elbwiesen in oranges Licht. An den Ufern des Flusses packen Familien ihre Picknickdecken zusammen. Sie werden abgelöst von der Abendschicht: Jugendlichen, die zwischen achtlos ins Gras geworfenen Fahrrädern ihre Lager aufschlagen. Bis zu den Knien waten sie in die Elbe, schaukelnde Kästen Bier tragend, die sie in die Strömung des Flusses stellen. Man sollte dieses ganze Idyll einfach zubetonieren. Die ganze Elbe durch Rohre leiten, den Fluss mit Zement zuschütten und darauf eine Schnellautobahn nach Hamburg bauen. Den Stolz der Dresdner endlich brechen. Das war unser Thema gewesen, vorhin im Alaunpark. Maren hatte zusammengefasst: „Vom Weltkulturerbe des Elbsandsteingebirges bis zum Weltkulturerbe der Elbhänge berauscht sich der Dresdner. Zusätzlich weidet er sich am Wiederaufbau des Zwingers, der Frauenkirche und der Semperoper. Und parallel behält er die Erinnerung an den Luftangriff der Alliierten als ewige Schmach im Gedächtnis. Womit hatte er das nur verdient? All die schönen Schlösser und Schätze plötzlich Ruinen!“
Natürliche Denkmäler gegen den Faschismus, hat Maren sie genannt. Mahnmäler, die der Dresdner vierzig Jahre lang hat ertragen müssen, in denen die DDR seine Stadt zum „Tal der Ahnungslosen“ degradierte. Ausgerechnet Dresden, das mit seinem Kurfürsten und seinem Prunk doch immer ein wenig nach Versailles geschielt hatte! Diese Weltstadt im Kleinen degradiert zu einem banalen Tal. Dresden, einfach nur ein etwas größerer Ort zwischen den umliegenden Dörfern.
„Der heutige Stolz auf diese Stadt ist voll von geschichtsvergessenem Trotz“, hatte Maren geschlossen, und ich hab ihr die Tüte gegeben. Natürlich hat sie recht, denke ich, während ich einer Familie aus Mutter, Vater und zwei Kindern hinterhersehe, die mit Decken zum Auto laufen und dort alles verstauen. Diese Sehnsucht nach Größe geht hier irgendwie nicht weg. In einer dunklen Ecke des sächsischen Bewusstseins hat sie ausgeharrt wie eine überwinternde Zecke. Und als die Mauer aufbrach, krochen auch Stolz und Trotz wieder hervor, durch die lange Demütigung in Hass verwandelt. Die Familie lacht, das Licht des späten Nachmittags glitzert auf der frisch geputzten Motorhaube und im Rückspiegel des abfahrenden Autos sieht man die marodierenden Neonazibanden, die in den Neunzigern ungehindert durch die Stadt zogen – Sinnbild der großen Gefühle, die die Dresdner wiederfinden wollten.
Maren machte sich auf dem Wiesenboden des Alaunparks lang und nahm mehr Züge vom Joint als die von uns stillschweigend vereinbarten drei. Zwischen uns ein paar Bier und unsere mit Badges übersäten Armeetaschen, darin genug Nachschub an Getränken und Kiff, um ewig so weiterzumachen. Der Tag war perfekt gewesen mit uns zweien, so verdrogt und theoretisierend. Aber dann kamen Arne und Theresia und mein Fehler, auf die Idee mit dem Jungfernbad einzusteigen. Jetzt kann ich nicht mehr umdrehen. Aber ich würde gern. Am liebsten würde ich mich in die Elbe schmeißen, flussabwärts treiben lassen, bis ich wieder in der Neustadt bin. Aus dem Wasser gefischt werden, wie ein kaltes Bier. Oder am besten gleich mit der gesamten Elbe übers Ufer treten.
„Nicht mal der Fluss findet Dresden gut“, hat Maren gesagt. Als Zeichen gegen die ganzen Schweinereien wächst er zwischenzeitlich bedrohlich an und verlässt sein Becken. Die Bilder der sogenannten Jahrhundertflut vor vier Jahren gingen um die Welt: kleine Boote mitten in der monströsen Elbe, darin Menschen mit dem wenigen Hab und Gut, das sie aus ihren Häusern gerettet hatten. Die Arme erhoben, winkten sie den TV-Helikoptern. Wochenlang fraß sich der Fluss durch die Straßen der Residenzstadt und zerstörte die Träume von Behaglichkeit. Nach der DDR eine weitere gemeinsame Unglückserfahrung, die die Dresdner zu einer gefühlten Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißte. Aber es reicht nicht, dass ihr eigener Fluss sie angreift, damit sie es kapieren. Dafür ist es einfach viel zu schön hier.
Ich beobachte die Gruppen von Feiernden am Wasser. Die grünen Hänge an den Flussufern sind eines der Hauptausflugsziele der Stadt. Im Sommer dienen sie Filmnächten und Konzerten, Radtouren und Biergärten. Na gut, auch ich saß schon häufiger da unten am Wasser, war betrunken und fand das manchmal ganz schön. Sowas darf einen aber nicht daran hindern, es grundlegend scheiße zu finden. Genau wie die Dresdner Innenstadt, eine der größten Touristenattraktionen Sachsens. Zusätzlich zur Betonierung der Elbe müssten also alle wiederaufgebauten Schlösser und Kirchen in ihren ruinösen Zustand rücküberführt werden. Denn sobald das Wasser wieder in seinen Bahnen und der ganze Prunk wieder aufgebaut ist, kann der Dresdner gar nicht anders, als seine Stadt mit blöder Zärtlichkeit anzuschauen. Diese Zärtlichkeit, die im Hinterzimmer einen Baseballschläger liegen hat.
Nachdem Arne und Theresia aufgetaucht waren, hat Maren schnell die Biege gemacht. Dann hat Arne gefragt, ob ich das alte Jugendstilbad mal sehen will. Er hat das so dahingesagt auf der Wiese im Alaunpark, als wäre es ihm eigentlich egal. Und so fühlt es sich mittlerweile auch an. Zugegebenermaßen habe ich auch nicht direkt geschaltet, dass Theresia mitkommen würde. Nun kreist das Gespräch der beiden um die anstehende Vorstandswahl im Rosaluchs. Ich bitte sie um ein kurzes Update. Wenn ich schon bei ihrem Date mitlaufe, sollen sie wenigstens Konversation mit mir machen.
„Wir haben grad über die Mitte-Fraktion geredet, die sich in den Verein vom Rosaluchs verirrt hat“, sagt Arne grimmig. Ich höre zum ersten Mal, dass das Rosa überhaupt einen Verein hat. „Die wollen, dass sich der Laden der Stadt mehr mitteilt, verstehst du? Begegnungspunkte schaffen und mit Bürgern diskutieren.“
„Foren ermöglichen und so.“ Auch Theresia klingt bitter.
„Aber das ist doch scheiße. Die Stadt ist doch gegen das Rosaluchs.“
Damit habe ich den Nagel wohl auf dem Kopf getroffen. Arne und Theresia nicken einhellig.
„Manche von denen wollen sogar Public Viewing“, sagt Arne. „Dabei ist die WM schon so unerträglich genug.“
„Ein paar von den Neuen meinen, wir sollten uns die Kohle nicht entgehen lassen“, sagt Theresia. „Punks müssen ja auch irgendwo Fußball gucken, sagen die.“
Das „uns“ bleibt bei mir hängen. Sind Arne und sie etwa Teil des Vereins? Und wer ist da noch drin? Gehöre am Ende nur ich nicht dazu? Arne schaut mich amüsiert von der Seite an. Er hat mir eine Frage gestellt, und ich habe sie nicht gehört.
„Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“
Vorwurfsvoll schaue ich zurück. „Entschuldigung, Herr Lehrer, können Sie das bitte noch mal wiederholen?“
Er verdreht die Augen und erklärt, dass niemand so richtig einschätzen kann, wie viele Stimmen die Gemäßigten zusammenbekommen werden: „Bald ist jedenfalls Vorstandswahl und die könnte die gesamte Ausrichtung vom Rosa verändern.“
Er schaut mich ernst an. Nicht minder ernst schaue ich zurück. Aber innerlich bin ich schon wieder abgeschweift. Wo ich mit meinen Gedanken bin, leck mich doch. Zwei Wochen sind seit unserem Kuss vergangen. Seither kein Zeichen, kein Gespräch, nichts. Das ist doch krass fahrlässig. Aber statt mit mir zu quatschen, redet Arne über Vereine und bringt Theresia zum Baden mit. Dass sie mitkommt, hatte ich vorhin im Park, wie gesagt, nicht direkt kapiert. So ein bekiffter Geist, der gerade die Zusammenhänge zwischen Semperoper und Rechtsradikalismus entschlüsselt hat, kann nicht auch noch die Achtlosigkeit seiner Mitmenschen auf dem Schirm haben.
Endlich erreichen wir ein altes Eisentor längs des Weges. Wir klettern drüber und gelangen auf eine durch eine Brüstung begrenzte Terrasse aus Elbsandstein. Links an einer Steilwand aus Schiefer führt eine Steintreppe hinab zum Jungfernbad. Je tiefer wir hinuntersteigen, desto stiller wird es. Durch das dichte Blätterdach der Bäume dringt kaum noch Licht. Heiß ist es trotzdem. Am Fuß der Steilwand liegt ein altes steinernes Becken, nicht viel größer als zwei Badewannen. Es wird flankiert von zwei steinernen Figuren. Ganzkörperskulpturen zweier mit Tüchern verhüllter Frauen, die am Beckenrand sitzen und für immer ihr trauriges Spiegelbild im Wasser anstarren müssen. Sofern das Wasser mitmacht. Momentan ist es eher brackig und dunkelgrün. Unschlüssig starre ich auf die trübe Flüssigkeit, während Theresia und Arne sich schon ausziehen.
Erst kurz bevor ich ins Wasser steige, ziehe ich mein Shirt aus. Außerdem behalte ich im Gegensatz zu Arne und Theresia meine Unterhose an. Als wir alle drei so mehr oder weniger nackt im Becken stehen, muss ich erst an mein Blubberbad mit Arne vor etwa einem Jahr im Wolfshaus denken, und dann daran, dass Theresia immer noch die Mutter meiner besten Freundin ist.
Arne reicht mir eine Pulle Prosecco und ich spüle die Gedanken samt dazugehöriger Irritationen mit einem großen Schluck runter. Dann sinke ich langsam ins schlammige Wasser. Meine Füße berühren den glitschigen Boden. Seltsame Fäden ziehen darüber hinweg. Vielleicht muss das alles sein. Jung sein bedeutet hier sein. Nicht alles verstehen. Den Tag mit Prosecco, Kiffen und Musik füllen. Schlafen und dann wieder von vorn.
Auszug aus dem Kapitel „Fluten“