Guapa

von Saleem Haddad

Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Diesel

Klappenbroschur, 392 Seiten
Veröffentlichung: März 2017

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Guapa

Vierundzwanzig Stunden, die alles im Leben des jungen Rasa verändern: In einem namenlosen Land im Nahen Osten erschüttern gewaltsame Proteste die politische Ordnung. Der Arabische Frühling steht am Scheideweg zwischen Militärdiktatur und islamischem Regime. Und auch Rasas Welt gerät völlig aus den Fugen. Auf der Suche nach seinem Freund, der im Gefängnis der Machthaber gefoltert wird, streift er durch die Slums seiner Stadt. Nach Hause zu gehen wagt er nicht, denn seine Großmutter hat sein unaussprechliches Geheimnis entdeckt. Während die wichtigsten Beziehungen in seinem Leben zu zerbrechen drohen, muss Rasa seinen Platz in einer Gesellschaft finden, die ihn vielleicht nie akzeptieren wird.

Schonungslos und ergreifend erzählt Saleem Haddad in seinem Debütroman von einer unmöglichen Liebe in Zeiten radikaler Umbrüche.

BIOGRAFIE

SALEEM HADDAD wurde 1983 in Kuwait-Stadt geboren. Der Sohn einer irakisch-deutschen Mutter und eines libanesisch-palästinensischen Vaters verbrachte prägende Jahre in Jordanien, Kanada und Großbritannien. Für Ärzte ohne Grenzen leistete er humanitäre Arbeit in Syrien, im Jemen und im Irak. Saleem Haddad lebt in London. Sein erster Roman „Guapa“ wurde mit dem 2017 mit dem Polari First Book Prize ausgezeichnet. Haddads Kurzfilm „Marco“ hatte 2019 Premiere und war beim Iris Prize als Best Short Film nominiert.

LESEPROBE
I. Wie man einen Esel kastriert

Der Morgen beginnt mit Scham. Das ist nichts Neues, doch als die Erinnerung an die vergangene Nacht wiederkehrt, nimmt dieses Gefühl erschreckende Ausmaße an. Ich verziehe das Gesicht, winde mich, grabe mir die Finger in die Handballen, bis die Schmerzen meinen inneren Gefühlen entsprechen. Wer weiß, was Teta mitbekommen hat, und da sie nicht neben meinem Bett steht, beabsichtigt sie entgegen ihrem Versprechen wohl kaum, den Schlamassel von gestern Abend einfach so zu den Akten zu legen.

An jedem anderen Morgen hätte die Stimme meiner Großmutter, rau von zahllosen Zigaretten, meine Träume durchschnitten: Yalla Rasa, yalla habibi! Sie würde über mir schweben, ihre Zigarette nah an meinen Lippen. Ich würde den Rauch einatmen und spüren, wie er in meine Lunge fährt und meine Eingeweide wachrüttelt.

An jedem anderen Morgen wäre Doris bei ihr, um die Jalousien in meinem Zimmer rasch und ruckartig zu öffnen, als würde sie einen Verband entfernen, der mich vor dem schmerzhaften Sonnenlicht schützen sollte. Noch ein letztes yalla, und Teta würde mir die Bettdecke wegziehen und beiseitewerfen. Besonders gerne macht sie das an kalten Wintertagen und freut sich dann über meine Gänsehaut, wenn ich durchs Zimmer hüpfe, um mir die Decke zurückzuholen.

Heute Morgen ist alles anders. Heute muss ich gegen Dämonen ankämpfen, die mächtiger sind als bloße Trägheit. Auf der einen Seite steht alles, was je geschehen ist, und auf der anderen steht dieser Morgen. Ich habe bei Teta eine Grenze überschritten.

Mein Handy klingelt. Ich wälze mich auf die Seite und greife danach.
„Wo zum Teufel steckst du?“, blafft Basma mich an. „Du wolltest schon vor zwanzig Minuten hier sein. Ich bin mit einem südafrikanischen Journalisten verabredet, der ein paar weibliche Flüchtlinge interviewen will, und kein Mensch ist im Büro.“
Ich räuspere mich und reibe mir die Augen. „Basma, es tut mir leid – “
„Entschuldigungen nützen mir nichts, komm endlich ins Büro. Und ich gehe mal davon aus, dass ich dich heute Abend mit zur Hochzeit nehmen soll, oder?“
Die Hochzeit. Die Hochzeit, die Hochzeit, die Hochzeit.
„Oder?“, wiederholt Basma.
„Mir geht’s nicht gut“, krächze ich. „Ich sollte da besser nicht hin.“
„Um acht hole ich dich ab.“
Ich lege das Handy wieder hin und greife nach den Zigaretten. Eine Zigarette wird mein Gehirn in Gang bringen. Meine Gedanken werden in Bewegung kommen. Ich zünde mir eine an und nehme einen Zug. Meine Kehle ist noch rau vom Vorabend, und der Rauch brennt auf dem Weg nach unten.

Und ich dachte, du nimmst Drogen. Mir wäre nie in den Sinn gekommen …
Ein paarmal bin ich bereits aufgewacht, aber es herrschte immer noch drückende Luft. Ich war nicht bereit, das Reich der Träume zu verlassen, also habe ich das Gesicht ins Kissen gegraben und mich zum Weiterschlafen gezwungen. Nach dem dritten oder vierten oder tausendsten Mal gelang mir das aber nicht mehr. Ich konnte die Augen geschlossen halten, doch mein Gehirn war hellwach. Und jetzt bleibt mir nichts übrig, als mich allem zu stellen, was dieser Tag mir ins Gesicht schleudern mag.

Ich setze mich auf. Doris hat mir eine Tasse mit Instantkaffee neben das Bett gestellt. Ich nehme einen großen Schluck. Der Kaffee ist schwach und kalt, sorgt aber dafür, dass der Rauch leichter in meinen Hals gleitet und auf meiner Zunge nur noch das schwache Prickeln des Nikotins und den seidigen Nachgeschmack von Teer hinterlässt.

Mach die Tür auf. Mach sofort die Tür auf.
Was brachte sie bloß dazu, durchs Schlüsselloch zu schauen?
Taymour. Er hat mich immer an den jungen Robert de Niro erinnert. Die honigfarbenen Augen, die nachdenklich wirkenden Lippen. Ich muss ihn wiedersehen, muss mit den Fingern über die weichen Haare auf seinen Unterarmen streichen. Wie dumm von mir, die Zeichen nicht zu erkennen und an eine Zukunft zu glauben, die es niemals geben könnte. Und jetzt sitze ich ganz allein hier auf dem Bett. Aber ich kann mich nicht auf diese Art von ihm trennen. Die vergangene Nacht kann nicht die letzte sein, die wir miteinander verbracht haben. Ich muss ihn halten, ihm ins Ohr flüstern, dass wir all das hinter uns lassen können. Könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen und diesen verfluchten Schlüssel im Schloss umdrehen, damit er die Sicht versperrt!

Wider besseres Wissen schicke ich ihm eine Nachricht: Wir müssen über gestern Nacht reden.
Taymour. Das Hämmern gegen die Tür. Tetas Schreie. Ich kann das alles noch hören. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich nur an seinen Namen denke. In den drei Jahren, die wir zusammen sind, ist dies das erste Mal, dass ich den Gedanken an ihn nicht ertrage. Ich muss mit ihm sprechen, seine Stimme hören, doch sein Name bringt das Schamgefühl zurück. Ich bin ein Tier, dreckig und abstoßend, und ich jage meinen Gelüsten hinterher, ohne zu überlegen, was richtig ist und was falsch.

Angewidert springe ich aus dem Bett und sehe mich im Schlafzimmer um. Ich bin leichtsinnig geworden, und jetzt zahle ich den Preis dafür. Ich muss alles entsorgen, was mit ihm zu tun hat. Ich hebe die Matratze an, schnappe mir mein Tagebuch und werfe es aufs Bett. Ich blättere es durch und reiße die Seiten heraus, auf denen sein Name steht. Doch sein Name taucht auf jeder Seite auf, wie ein Virus im Blutkreislauf. Ich reiße Seite um Seite aus, bis ich beim letzten Eintrag bin, den ich erst vor einer Woche geschrieben habe. Mein Blick fällt auf die Worte auf dem Papier.

Er macht einen Fehler. Ich weiß es einfach. Er sagt mir, ich wäre unvernünftig und würde auf ein Wunder hoffen. Vielleicht stimmt das, aber ich weiß, dass er sich ändern kann. Darf man einen Menschen zur Veränderung zwingen, wenn es zu seinem Besten ist?