Jetzt sind wir jung

von Julian Mars

Klappenbroschur, 328 Seiten

Veröffentlchung: November 2015

Zum Buch im Salzgeber.Shop

Jetzt sind wir jung

Als ob die Sache mit dem Erwachsenwerden nicht schon kompliziert genug wäre! Felix fragt sich, warum es ihm manche Menschen besonders schwer machen müssen. Seine Mutter will ihn einfach nicht loslassen, seine Freunde gehen ihm die meiste Zeit auf die Nerven – und dann ist auch noch sein Ex-Freund Martin plötzlich zurück in der Stadt. Felix weiß, dass die beiden eher früher als später aufeinandertreffen werden. Und er hat gute Gründe, sich vor der überfälligen Aussprache zu fürchten. Irgendwann fängt das Leben an, ernst zu werden. Und Felix hat das Gefühl, dass dieser Moment unmittelbar bevorsteht. Unverschämt, witzig und berührend.

Mit „Jetzt sind wir jung“ legte Julian Mars 2015 sein beeindruckendes schriftstellerisches Debüt vor, für das er von Kritik und Lesern gleichermaßen gefeiert wurde. Der Roman bildet den Anfang der Felix-Trilogie, die mit den Fortsetzungen „Lass uns von hier verschwinden“ (2018) und „Was wir schon immer sein wollten“ (2022) inzwischen vollendet ist.

BIOGRAFIE

JULIAN MARS hatte als Kind einen Lieblingsbaum, auf den er immer kletterte, um sich in Ruhe Geschichten auszudenken. Prägende Jahre verbrachte er in Hamburg und Köln, wo ihm an einem frühen Samstagmorgen in der Linie 4 die Idee zu seinem Debütroman Jetzt sind wir jung kam. Inzwischen lebt er in Berlin und hat ein Bild seines Lieblingsbaums auf dem Schreibtisch stehen. Er wird immer wieder gefragt, wie viel er mit seiner Hauptfigur Felix gemeinsam hat. Bisher hat aber noch niemand eine ehrliche Antwort bekommen.

LESEPROBE
Auszug aus „Jetzt sind wir jung“ von Julian Mars

Gestern habe ich Martin gesehen. Ohne Vorwarnung, im Supermarkt. Ich stand an Kasse eins, er an der drei. Direkte Sichtlinie. Keine Chance, sich hinter einem Regal zu verstecken. Was tun? Alles auf dem Kassenband liegen lassen und rausrennen? Hatte er mich schon gesehen? Das kannst du nicht machen, dachte ich. Das wäre oberpeinlich.

Ich drehte den Kopf in Richtung Ausgang und schielte so weit nach rechts, dass mir die Augen wehtaten. Aber ich konnte ihn nicht sehen. Deshalb drehte ich mich doch ein kleines bisschen in seine Richtung. Er kramte in seinem Geldbeutel herum. Also hatte er mich nicht bemerkt. Oder zwang er sich auch nur, nicht rüberzuschauen? Er trug seine Haare jetzt länger, was echt dämlich aussah. Aber den Parka hatte er noch. Ich hätte gerne gewusst, ob der Rotweinfleck noch drauf war, aus der Nacht, in der …

Plötzlich blickte er auf. Ich drehte mich erschrocken weg. Scheiße, dachte ich. Jetzt hat er dich bestimmt gesehen. Wenigstens war ich der Nächste in der Schlange. Vor ihm standen noch zwei Leute. Also Kopf runter und dem Drang widerstehen.

Also Kopf runter und dem Drang widerstehen. Nicht rüberschauen, Felix.
Nicht. Rüber. Schauen.
Ruhig atmen. Bezahlen.
Und raus.

—-

Gabriel hat gesagt, ich soll ein Buch schreiben.
Ich saß bei ihm auf seiner roten Sperrmüll-Couch, und im Fernsehen war mal wieder mein Vater zu sehen.
„‚Klaus Lipfels, Publizist’“, las ich die Einblendung vor, während er die erste Frage des Moderators beantwortete. Am Arsch. Homosexuelle sollen heiraten dürfen und Kinder großziehen und überhaupt die glücklichsten Menschen auf der Erde sein, das ist seit über zwei Jahren eines seiner Lieblingsthemen, mit dem er sich durch die Talkshows und Kommentarspalten der Republik schmarotzt. Ist mir echt egal, was er macht. Aber muss er da jedes Mal mich mit reinziehen? Das Coming-out seines einzigen Sohnes hätte ihn erst so richtig für dieses Thema sensibilisiert. Herzlichen Glückwunsch.

„Noch schöner wäre es gewesen, wenn dich mein Coming-out auch etwas mehr für mich sensibilisiert hätte“, murmelte ich.
„Hast du was gesagt, Prinzessin?“ Gabriel blickte von seinem Fachbuch hoch, über dem er schon die ganze Zeit brütete.
„‚Klaus Lipfels, Arschloch’“, sagte ich. „Wenn er wirklich so besorgt um mich gewesen wäre, wie er jetzt behauptet, wär ich vielleicht gar nicht schwul geworden.“
„Da wäre ihm aber ein großes Thema durch die Lappen gegangen“, sagte Gabriel und wandte sich wieder seinem Aufsatz zu.
„Gabriel, du brauchst ’nen Freund“, sagte ich. „Damit du mal was anderes markieren kannst als Textstellen.“
„Mhm“, sagte er ohne aufzublicken. „Sehr witzig. Hab ja bei dir gesehen, wie glücklich so was macht.“
Mein Vater saß zwischen einem Boygroup-Sänger und einem Fernsehmoderator, mit denen er zusammen den bunten Block bildete, der gegen eine fiese Alte von der CDU und einen schmallippigen Priester kämpfte.

„Fühlst du dich von den zwei Schwulen da repräsentiert, Gabriel? Die Leute, die das anschauen, denken doch nachher, wir sind alle so wie die.“
Gabriel zuckte nur mit den Schultern.
„Immer die gleichen Gesichter im Fernsehen, inklusive meines bescheuerten Vaters, die für unsere Rechte kämpfen“, sagte ich. „Sind die mal von uns gewählt worden? Von mir nicht.“
„Der weiße Mann kann nun mal besser mit Minderheiten umgehen, wenn die ein paar telegene Vertreter haben“, antwortete er gleichmütig.
„Zu einer Minderheit zu gehören, ist doch Scheißdreck!“
„Kannst ja jederzeit kündigen. Musst nur aufhören, Schwänze zu lutschen.“

Ich resignierte. Seit Gabriel über Heraklit’sche Semiotik promovierte, konnte man über nichts mehr ernsthaft mit ihm diskutieren. Alles fließt. Alles vergeht. Also ist im Endeffekt auch alles egal. Na ja, geht so.
Ich schaltete um, weil ich mir das nicht mehr anschauen konnte. Dabei bemerkte ich, wie Gabriel mich angestrengt beobachtete. Wie die meisten Hochbegabten leidet er an einer leichten Form von Asperger. Zumindest sage ich das gern, um ihn zu ärgern, weil er manchmal sehr schwer von Begriff ist, wenn es darum geht, menschliche Emotionen zu deuten. Offensichtlich war er nun nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass er mich irgendwie beschwichtigen sollte.

„Na, sei doch froh“, sagte er. „Wir sind die Könige der Minderheiten. Weil wir Kaufkraft haben. Nicht auszudenken, wenn wir Zigeuner wären.“
„Die haben wenigstens ’nen Zentralrat, den sie wählen können. Und Zigeuner soll man nicht mehr sagen.“
„Schwule Sau soll man auch nicht mehr sagen. Hat mir aber heute Mittag einer hinterhergebrüllt, als ich im Park in die Büsche wollte.“
Ich verschluckte mich fast an meiner Cola vor Lachen. Aber dann ärgerte ich mich über mich selbst.
„Siehst du, das ist das Problem!“, sagte ich. „Die beschimpfen uns, und wir finden das noch lustig!“
„Ich fand’s ja gar nicht lustig“, sagte Gabriel.
„Ist auch besser so.“
Er hob den Zeigefinger: „Heraklit sagt: – „
Ich warf die Fernbedienung nach ihm, und weil Gabriel nicht nur über das Gefühlsleben, sondern auch über die körperlichen Reflexe eines Großintellektuellen verfügt, traf sie ihn an der Stirn, und er schaute mich empört an. „Na vielen Dank! Waren bestimmt tausend Gehirnzellen jetzt.“

„Ich kann noch ein paar Sachen hinterherschmeißen, dann bist du vielleicht irgendwann normal.“
„Und was muss man mit dir machen, damit du lustig wirst?“
Er hatte recht.
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich bin heute komisch drauf.“
„Ist ja was ganz Neues“, seufzte er und warf mir die Fernbedienung zurück. Sie kam einen halben Meter zu hoch und fast genauso weit zu links angeflogen. Ich fing sie problemlos.

Im Fernsehen lief nur Schrott. Ich zappte ein paar Minuten herum und landete dann doch wieder bei der Talkshow. Dort wurde gerade eine Einspielung vom ersten schwulen Weihnachtsmarkt in Köln gezeigt, auf dem halb nackte Kerle mit Nikolausbart einen Tanz aufführten. Danach fragte der Moderator, ob schwule Männer wirklich Kinder großziehen sollten.

„Komisch, dass die keine Bilder von randalierenden Hooligans zeigen und fragen, ob heterosexuelle Männer wirklich Kinder großziehen sollten“, sagte ich und verschränkte die Arme.
„Mein Vater antwortete, dass er keinen Grund sieht, warum sein homosexueller Sohn als Vater ungeeigneter sein solle als er selbst. Ich sah sogar tausend Gründe, weshalb ich dazu deutlich geeigneter wäre als er.
„Ich kenne massenhaft Schwule, die niemals Eltern werden sollten“, sagte ich. „Aber ich kenne doppelt so viele Heteros, auf die das genauso zutrifft.“
Gabriel schaute auf, und wahrscheinlich wollte er mich nur irgendwie ruhigstellen: „Vielleicht solltest du ein Buch schreiben, Prinzessin.“
„Ein Buch? Und was soll ich da reinschreiben?“
„Na alles, was du mir gerade erzählst. Dann kann ich’s bei Bedarf noch mal nachlesen.“
„Mhm, ich lach mich tot“, antwortete ich.
Die Sendung war zu Ende. Ich machte den Fernseher aus.
„Wieso bist du überhaupt plötzlich wieder so politisch?“, fragte Gabriel.
„Nur so.“
„Nur so. Soso.“

Eigentlich wollte ich es ihm gar nicht erzählen, weil ich erst versuchen wollte, mir selbst einen Reim auf die Sache zu machen. Es rutschte mir einfach so heraus: „Ich hab Martin gesehen, gestern im Supermarkt. Aber ich will nicht drüber reden.“
„Seit wann ist der denn wieder – „
„Ich will nicht drüber reden!“
Ich sah im Augenwinkel, wie er mich beobachtete und dabei wahrscheinlich überlegte, ob ich das ernst meinte oder mich nur zierte.
„Ich will wirklich nicht drüber reden.“
„Ist ja gut.“
Es beunruhigte mich, wie sehr mich die Begegnung mit Martin aus der Bahn warf. Aber was hatte ich erwartet? Dass ich ihm zuwinken und fröhlich nach Hause schlendern würde, nach allem, was passiert ist?
„Ich verstehe nicht, warum er plötzlich wieder in Hamburg ist und Toastbrot kauft!“, sagte ich. „Denkst du, er wohnt jetzt wieder hier?“
Armer Gabriel. Jetzt war er ganz verwirrt. „Also willst du doch darüber sprechen?“
„Nein! Ich will nur sagen, dass ich nicht verstehe, warum er wieder da ist. Und was das bedeuten soll.“
„Hast du seine Nummer noch? Frag ihn halt.“

In gewisser Hinsicht ist Gabriel rein wie ein Kind, dem der menschliche Jahrmarkt der Eitelkeiten völlig fremd ist. Wenn man eine Information über eine Person haben möchte, was liegt dann näher, als sie anzurufen und nachzufragen? Das ging schon deshalb nicht, weil ich oft genug mitten in der Nacht Martins alte Nummer gewählt hatte, um zu wissen, dass sie nicht mehr existierte. Ich schüttelte den Kopf.
„Wann ist diese Party von Tamara?“, fragte Gabriel.
„In zwei Wochen. Warum?“
„Na, wenn Martin dann noch in Hamburg ist, wird er bestimmt kommen, oder?“
Mir wurde flau. Ich kramte die Einladungskarte aus meinem Rucksack, die Emilie mir vor ein paar Tagen feierlich überreicht hatte. Es war ein schmaler Flyer mit einem Bild von Tamara auf der Vorderseite, die von schräg hinten fotografiert auf einer Schaukel saß und sehnsüchtig den bananengelben Vollmond anstarrte, der links über ihr hing. Darunter stand in blutroter Schrift: MISS TAMARA TESTICLES SAYS GOODNIGHT

Tamara Testicles, bürgerlich Benedetto Dingsbums, kommt eigentlich aus Italien und ist meiner Meinung nach die hässlichste Transe der Welt. Sie ist so etwas wie die Busenfreundin von Emilie, die wiederum so etwas wie meine Busenfreundin ist, und zwar schon seit ich denken kann.
Ich drehte den Flyer um. Auf der Rückseite stand:

FOR ONE VERY LAST TIME
AUGUST 22nd
2 A.M.
THE USUAL PLACE
THE USUAL RULES

„Ihre Geburtstagseinladungen werden auch immer dramatischer“, sagte Gabriel. „Und wer fängt überhaupt nachts um zwei ’ne Party an?“
„Transen“, sagte ich.
Ich holte mein Handy aus der Tasche und schrieb Emilie eine Nachricht: ‚Em, weißt du, ob Tamara Martin zu ihrem Geburtstag eingeladen hat?’
Die Antwort kam wie immer innerhalb von Sekunden: ‚Das ist keine Geburtstagsparty!! Das ist eine Trauerfeier!’

Ich las es Gabriel vor, und selbst der verdrehte die „Augen.
Ich tippte mit zittrigen Fingern: ‚Sag jetzt, ob Martin auch kommt!’
‚Keine Ahnung. Ist der wieder in Hamburg??’
‚Das versuche ich gerade herauszufinden. Ich hab ihn gestern gesehen. Aber nur von Weitem.’
Sie schickte ein sehr erschrockenes Emoji. ‚Und wie geht’s dir jetzt??’
‚Weiß ich noch nicht’, antwortete ich.
‚Also ich weiß da nichts davon. Aber ich kann morgen Tamara fragen.’
‚Aber sag nicht, dass du von mir fragen sollst!’
Emilie war wirklich nicht sehr gut darin, Dinge für sich zu behalten. Ich bekam wieder dieses ungute Gefühl im Bauch, wie wenn man in der Achterbahn über eine Kuppe fährt und der Magen zwanzig Zentimeter nach oben hüpft.
„Gabriel, meinst du, wenn ich ein Buch schreibe, kann ich da die ganze Sache mit Martin erzählen? Und von Sebastian?“
„Klar kannst du. Wird bestimmt ein Bestseller, weil’s ein besseres schlechtes Beispiel als dich schon lang nicht mehr gegeben hat. Und am besten fängste ganz von vorne an, damit man auch versteht, wie das mit dir so weit kommen konnte.“

Ich schaute ihn böse an, und anscheinend war selbst ihm jetzt klar, dass er sich besser vorsichtig ausdrückte. Denn er sprach sehr langsam und mit angestrengt zugekniffenen Augen weiter: „Muss ja kein Roman werden, Prinzessin. Aber ich denke … dass es dir vielleicht guttun könnte, mal alles aufzuschreiben.“
„Inwiefern?“ Ich wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Es war nur einfach zu süß mit anzusehen, wie er sich abquälte, um mir nicht auf den Schlips zu treten.
„Na, du warst ja in letzter Zeit nicht wirklich … glücklich. Und vielleicht würde dir das helfen, ein paar Dinge … abzuschließen. Weißt du?“
„Wie soll ich mit Martin abschließen, wenn ich mich die ganze Zeit frage, ob ich ihn in zwei Wochen auf dieser blöden Party treffe?“
„Na siehste, hat dein Buch schon einen Bösewicht. Und ein großes Finale, auf das die ganze Sache zusteuert. Das ist fast schon mehr, als man verlangen kann.“
„Martin als Bösewicht? Ich schaute aus dem Fenster und dachte nach. So konnte man ihn nicht unbedingt bezeichnen. Er hat sich zwar bescheuert verhalten, aber wenn einer die Sache verbockt hat, dann war ich das.
„Und was mach ich, wenn er nachher doch nicht aufkreuzt? Dann fällt das Finale flach.“
Gabriel zuckte mit den Schultern. „Ist dein Buch halt postmodern.“
Ich stand auf. „Dann geh ich jetzt nach Hause und schreib ein Buch.“
„Mhm“, sagte er. „Mach du mal. Aber mich hältst du da raus.“