Adam im Paradies

von Rakel Haslund-Gjerrild

Aus dem Dänischen übersetzt von Andreas Donat

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 328 Seiten
Veröffentlichung: Oktober 2022

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Adam im Paradies

Frederiksberg, 1913: Auf dem Höhepunkt seines Ruhms bereitet sich der 70-jährige Maler Kristian Zahrtmann darauf vor, sein Meisterwerk zu schaffen: Adam im Paradies. Ein sinnliches Glanzstück soll das Gemälde werden, überquellend vor Motiven, Farben und Symbolen, im Zentrum ein schöner nackter Mann. Während Zahrtmann das Atelier seiner Villa mithilfe exotischer Pflanzen in den Garten Eden verwandelt und den jungen Soldaten empfängt, der ihm als Aktmodell dient, gleiten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit – zu rauschenden Zusammenkünften der Kopenhagener Décadence; nach Italien, wo er in Civita d’Antino eine Künstlerkolonie gründete; und nicht zuletzt zu seinem ehemaligen Schüler und Modell Hjalmar Sørensen, an dessen Anmut er sich durch den jungen „Adam“ erinnert fühlt …

In ihrem Roman lässt Rakel Haslund-Gjerrild den dänischen Meistermaler als Ich-Erzähler auftreten. In neun Kapiteln – allesamt nach Werktiteln aus Zahrtmanns Oeuvre benannt – zeichnet die Autorin in einer betörenden, kontemplativ-sinnlichen Sprache ein Porträt des Künstlers, das sowohl seiner lächelnden Wehmut als auch seinem feinen Humor Ausdruck verleiht. Die Erzählung wird durchbrochen von historischen Dokumenten über die Sittlichkeitsprozesse der Jahre 1906/07, als in Dänemark Homosexuelle verfolgt und einige (darunter der Schriftsteller Herman Bang) aus dem Land vertrieben wurden – ein ebenso subtiler wie genialer Kunstgriff, um Zahrtmanns nie eingestandene Homosexualität zu spiegeln, der aber nie das Sprachkunstwerk in den Hintergrund drängt, das Signatur und emotionaler Motor des Romans ist.

BIOGRAFIE

RAKEL HASLUND-GJERRILD (geboren 1988) hat im Jahr 2020 mit dem poetischen post-apokalyptischen Roman „Alle himlens fugle“ ein vielbeachtetes Debüt als Romanautorin vorgelegt. Mit „Adam im Paradies“ wendet sich die Dänin nun einem historischen und gleichzeitig hochaktuellen Stoff zu und beweist erneut, dass sie eine der talentiertesten und interessantesten Stimmen der neueren dänischen Literatur ist

LESEPROBE
Auszug aus „Adam im Paradies“ von Rakel Haslund-Gjerrild

OFT LIEGE ICH morgens lange im Bett und warte, dass die Wirklichkeit ankommt und die grauen Wände des Schlafs aus meinem Bewusstsein verjagt. Manchmal werde ich von Doggy geweckt. Er wetzt an meinem Schlafzimmer vorbei und setzt sich mit einem breiten, klatschenden Geräusch vor der Küchentür auf den Fliesenboden des Entrées. Wenig später höre ich, wie Frau Hessellund die Tür zu ihrem Zimmer öffnet. „Guten Morgen, Doggy“, sagt sie mit leiser Stimme und geht mit dem Hund in die Küche. Durch das Gewusel der beiden fühlt sich das Haus nun an wie ein Körper, der sich hin und her wälzt, aber noch nicht aus dem Bett will. An manchen Morgen wache ich so zeitig auf, dass ich weder die Vögel hören kann, noch die Straßenbahn oder Doggy. Nur meinen eigenen Atem. Dann möchte ich nicht aufstehen. Das wäre, als träte man hinaus in einen Traum, als stünde man eines klaren Morgens auf und entdeckte, dass die Welt vierzehn Minuten nach vier zum Stillstand gekommen ist und alle Menschen, Vögel und Tiere zu Schatten geworden sind. Wie es wohl sein mag, taub zu sein, eingeschlossen im Vakuum des eigenen Körpers. Dann würde ich niemals aufstehen. Aber jetzt ist es schon weit nach Sonnenaufgang, der Tag ist hier, das merkt man vor allem an Frau Hessellunds immer lauter schnalzenden Schritten; mit ihr muss man behutsam umgehen – manchmal schnappt sie zu. Sie poltert und klappert mit den Töpfen, um mich hören zu lassen, dass heute sie das Haus am Laufen hält, während ich wie ein störrisches Kind im Bett liegen bleibe. „Peter, Frühstück!“, höre ich sie ihrem Sohn zurufen, dem sechsjährigen, vogelgliedrigen Peter. Er läuft mit nackten Füßen über den grünen Fliesenboden in die Küche, wo der Haferbrei dampfend auf ihn wartet.

Heute scheint die Sonne, das höre ich am arbeitslüsternen Summen, das aus dem Garten zu mir hereindringt, nun, da all meine Sommerblumen sich zu voller Blüte geöffnet haben und mit ihren Staubblätterzungen benommen nach den Bienen lecken. Die Sonne treibt ihre Messer in die Erde: So lasst denn Grünes sprießen und Blütenflor, Triebe schlagen und Knospen bersten, denn heute ist der Tag, an dem Adam kommt! Vielleicht wäre mir das Ganze niemals eingefallen, wenn wir nicht gerade den Paradiesmonat hätten, diesen einen Monat, in dem hier bei uns die Worte „drinnen“ und „draußen“ die Bedeutung verlieren, die ihnen während all der anderen Monate innewohnt. Im Juli schläft man mit offenen Fenstern und Türen. Wir verwandeln uns in kleine Gartentiere und essen im Freien – dort stehen die Terrassenmöbel und trinken die Wärme wie durstige Kühe. Im Juli trifft man auf keinen Widerstand: hinauszugehen ist wie in sich selbst umherzuwandeln, zu Hause auf jedem Wiesenfleck, unter jedem Schatten. Ich habe ihn letzte Woche gefunden, im Zug auf der Heimreise von Kalundborg. Die Luft stand still, selbst an der Küste, und alles – die Steine, die Dünen, der Sand, der Zug – vibrierte im heißen Dunst. Ich nahm meinen Koffer und begab mich in die Coupéhitze, um meinen Platz zu suchen. Im Zugwaggon wimmelte es von Körpern, allesamt in Blau. Sie schrien, schlugen einander auf die Schultern und warfen mit Taschen und Mundvorrat quer über den Mittelgang, während ich mich höflich zwischen ihnen hindurchdrückte, meine Reisetasche vor mir herhaltend wie den Steven jener breitheckigen Jolle, die ich war. Ich hatte einen Fensterplatz am hintersten Ende des Coupés, allerdings hatte sich mein Sitznachbar quer über beide Sitze ausgestreckt und schlief, das Kinn gegen die Brust gepresst, sodass seine Atemzüge klangen wie die eines neugeborenen Kalbs mit verschleimtem Hals. „Henriksen!“, riefen seine Kameraden auf den Sitzen vor uns, und einer von ihnen gab ihm einen Klaps auf die Mütze, sodass Henriksen mit einem missmutigen Blick in meine Richtung aufsprang. Als der Zug sich schließlich in Bewegung setzte und sowohl Reisetasche als auch breitheckige Jolle an dem auf meiner Fahrkarte angegebenen Platz verstaut waren, schlief Henriksen bereits wieder.

Dank eines lustigen Zufalls war ich als offenbar einziger ziviler Passagier im Soldatenwaggon platziert worden, der ungeachtet der Temperatur bis auf den letzten Platz gefüllt war. Die Soldaten hatten versucht, den Unterschied zwischen drinnen und draußen durch das Öffnen sämtlicher Coupéfenster aufzuheben, soweit sich das nun machen ließ. Dies zeigte erst dann so richtig seine Wirkung, als wir über den offenen seeländischen Feldern an Fahrt gewannen und der Duft von Wiese, Heu und Weidevieh in die Schwüle unseres Wagens hereinpolterte. Ich saß in meinem hellen Leinenanzug auf meinem Platz und fächelte mir mit der Zeitung zufrieden Luft zu, eigentlich recht guter Dinge, von südländischen Sommern an Hitze gewöhnt, während die Soldaten in ihren Uniformen schwitzten und stöhnten, ehe sie schließlich einer nach dem anderen unter Gegröle und Gelächter und Ge schubse und Geknuffe anfingen, sich die Hemden aufzuknöpfen. Es war, als würde vor meinen Augen ein Picknickkorb ausgepackt: kalte Hähnchenkeulen, Tarten, Pasteten, Apfelspalten und Gläser prickelnden Perlweins, so wurden Kleidersäcke und Tornister auf den Boden geworfen und als Schemel oder Spieltische für eine Art Whist benutzt, aufgeknöpfte Uniformjacken häuften sich zu blauen Wollbergen, während Stiefel faul von den Füßen gestreift wurden, sodass vom grünen Boden des Coupés ein moosartiger Geruch aufstieg. Einer der Soldaten, derjenige, der zuvor Henriksen wachgeknufft hatte, zog sich sogar noch weiter aus und zwinkerte mir barbrüstig zu.

Adam saß auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs in der Ecke, halb schlafend, den Kopf gegen das Fenster gelehnt. Darum war er mir anfangs nicht aufgefallen. Sein blondes Haar war eins mit den Kornfeldern, die mit der zähflüssigen Hast des Sommers am Zug vorbeischossen – wie schnell der Sommer doch immer verrinnt – und die grelle Nachmittagssonne verwischte seine Gesichtszüge, sodass ich, während er schlief, von meinem Platz aus kaum mehr von ihm sah als einen Lichtfleck in der Ecke. Doch dann wurde nach ihm gerufen, und plötzlich, ohne sichtbaren Übergang von Schlaf zu voller Existenz, stand Adam im Mittelgang des Coupés, leicht vornübergelehnt, die Arme lässig auf den Sitzlehnen vor ihm liegend, von wo er sich sogleich wie ein launenhafter Donnergott anschickte, einen Kameraden an den Haaren zu ziehen. „Teufel!“, rief der Angegriffene, Adams Hand zur Seite schlagend, während jener grinste und mit sergeantartiggrober Freundlichkeit dem Jungen hart die Wangen tätschelte.
Eine plumpe pinkfarbene Päonie.

Seine lederne Hose, das Hemd mit den lose über die Ellbogen gekrempelten Ärmeln, das Sonnenlicht auf den Flimmerhärchen seiner Arme und ein trockener Atemzug der vorbeifahrenden Sommerwiesen und Felder ließen mich er schaudern wie vor Freude, vor Furcht: Da stand er, über uns gelehnt, und glich einem Adam. Und ich konnte ihn vor mir sehen, diesen ersten Mann der Erde, wie er sich vom Bache erhob, um eine Frucht zu pflücken, und der somit, ohne es selbst zu wissen, das Paradies verließ, durch Jahrtausende von Heidesteppen und Wiesenhängen streifend, flötend ohne Melodie, auf dem Weg durch die Reihen Kopfnüsse austeilend, um schließlich hier im Zug von Kalundborg zu landen.

Ich fragte Adam an Ort und Stelle – er stand mit einer trotz allen Holperns und Polterns des Zuges erdenschweren Ruhe im Mittelgang und drehte sich eine Zigarette, die er in einer zusammenhängenden, fließenden Bewegung zwischen seinen Lippen platzierte –, ob er möglicherweise Interesse hätte, mir Modell zu sitzen. Ich erzählte, ich sei auf der Suche nach einem Modell für Adam im Paradies und fügte hinzu, dass ich ihn für geeignet hielte, dass er sich bestimmt gut machen würde als Adam. Er sog den Rauch ein, blies ihn über unsere Köpfe hinweg und sagte dann ohne Zögern Ja; genau wie Hjalmar und, ja, vor allem Carl Vilhelm Ja gesagt hätten, stets in augenblicklicher Klarheit darüber, was sie wollten. Er sei gerade ausgemustert worden, sagte Adam, und habe bislang noch keine andere Arbeit gefunden. Er brauche Geld; ob er einen Vorschuss haben könne?

Ich bezahlte ihn für den restlichen Juli und August, während der Zug in den Bahnhof einrollte. Die Soldaten riefen Hurra, die Sonne schien, die Stadt duftete nach Stadt und ein wenig nach altem Bier, und dann gingen sie zum Zechen ins Wirtshaus, während ich für einen Augenblick auf dem Bahnsteig stehen blieb und mich von der Sonne wärmen ließ, regungslos wie eine Libelle über dem rauschenden Strom der Reisenden mit ihren Koffern, Kisten und Seesäcken