Invertito Jahrgang 23

Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten

Broschur, 248 Seiten
Veröffentlichung: Mai 2022

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Invertito Jahrgang 23

Der spontane Aufstand gegen Polizeiwillkür in und um die Bar Stonewall Inn im New Yorker Greenwich Village steht für die Zweite Homosexuellenbewegung, die sich in mehreren westlichen Ländern infolge der 68er-Bewegung herausbildete. Mit seinem Schwerpunkt zur Homosexuellenbewegung dies- und jenseits des Atlantiks leistet diese Invertito-Ausgabe einen Beitrag zur Forschungsdiskussion, indem sie stärker als bisher einen (zentral-)europäischen Blick auf die Anfänge und das Erbe von „1969“ in diese einbindet.

Aus dem Inhalt:

Hans-Peter Weingand: Macht der Bilder, Macht der Mythen: 50 Jahre „Stonewall Riots“

Irene Franken: „Sie, 28 J., dunkler, sportlicher Typ, engagiert, sucht Partnerin“ – Die Gründung der Homosexuellen Frauenaktion in Köln, der ersten „autonomen“ Lesbengruppe in der BRD, durch Gertraut Müller

Richard F. Wetzell: Rosa von Praunheim, Martin Dannecker und das Verhältnis der west­deutschen Schwulenbewegung zur homosexuellen Subkultur, 1971–1986. Von „Nicht der Homosexuelle ist pervers …“ zum Streit in der Aids-Krise

Craig Griffiths: Die Ambivalenz der Schwulenemanzipation der 1970er Jahre. Ein kurzer Überblick

Alexander Mounji: Das „Transsexuellen-Problem“ in der Kölner Frauenbefreiungsaktion, 1978/1979

Manfred Herzer-Wigglesworth: Walt Whitman und das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee

Michael Holy: Von der Überidentifikation zur Identifikation mit den Opfern. Eine Kritik an Alexander Zinns Text Wider die „Überidentifikation“ mit den Opfern

Jörg Hutter: Forschungen zur Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit: „Nur keinen Bezug zur Gegenwart herstellen!“ Ein Kommentar zu Alexander Zinns Ausführungen

LESEPROBE
Editorial zur 23. Ausgabe von „Invertito“

Liebe Leser*innen,

obwohl der spontane Aufstand gegen Polizeiwillkür in und um die Bar Stonewall Inn im New Yorker Greenwich Village bereits mehr als 50 Jahre zurückliegt, dürften den allermeisten von Ihnen die „Stonewall Riots“ ein mehr oder weniger vertrauter Begriff sein. Tatsächlich steht das Ereignis geradezu sinnbildlich für die sogenannte Zweite Homosexuellenbewegung, die sich in mehreren westlichen Ländern infolge der 68er-Bewegung herausbildete. 2019 bot das 50. Jubiläum des Aufstandes Anlass für politische und kulturelle Großveranstaltungen, die dessen nunmehr weltweite Bedeutung für aktuelle „queere“ Politiken in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit riefen. Welche Bedeutung die Geschichte resp. das Erinnern an den Aufstand für die Community von Lesben, Schwulen, Trans*, Inter* und Queers (LSBTTIQ) in den USA und in Europa hat, zeigt sich nicht nur in einer Vielzahl von Publikationen zum Ereignis, sondern auch in einer Reihe von sowohl dokumentarischen als auch fiktionalen filmischen Auseinandersetzungen mit dem Thema. Auch der schon älteren Debatte über „Stonewall“ als festen historischen Bezugspunkt der jüngeren LSBTTIQ-Bewegungen hat das Jubeljahr neuen Aufschwung verliehen. Mit seinem Schwerpunkt zur Homosexuellenbewegung dies- und jenseits des Atlantiks leistet dieses Heft einen Beitrag zur Forschungsdiskussion, indem es stärker als bisher einen (zentral-)europäischen Blick auf die Anfänge und das Erbe von „1969“ in diese einbindet.

Vor diesem Hintergrund zeichnet Hans-Peter Weingand im ersten Beitrag der vorliegenden Invertito-Ausgabe detailliert die Diskussionen sowohl um das – nur sehr beschränkt vorhandene – historische Bildmaterial als auch um später entstandene Bilder nach. Dabei geht es zum einen um die Frage der Authentizität von Bildern und Erzählungen, zum anderen um die schon kurz danach einsetzende Mythologisierung der Ereignisse als „Initialzündung“ der modernen Homosexuellenbewegung in den USA und in der Folge davon in weiteren westlichen Gesellschaften. Die teils scharfe Kritik an Roland Emmerichs (ökonomisch wenig erfolgreichem) Spielfilm „Stonewall“ von 2015 – vorgeworfen werden ihm insbesondere „Whitewashing“ und Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Bedeutung von Trans* und People of Color als Auslöser*innen des Aufstandes – verdeutlicht zudem, welch außerordentlich identitätsstiftende Bedeutung die Stonewall Riots bis heute für die LSBTTIQ-Community haben. Gestritten wird dabei nicht nur, teils eher befremdlich anmutend, um die Frage, wer buchstäblich den ersten Stein gegen die Polizei geworfen habe, sondern auch um die Sichtbarkeit der einzelnen Gruppen in der Erinnerung und ikonographischen Tradierung des Aufstands.

Bekanntermaßen strahlten die Stonewall Riots und die damit zusammenhängenden emanzipatorischen Bewegungen in den USA leicht verzögert auch auf die Bundesrepublik Deutschland aus, wo sich Anfang der 1970er Jahre erste Schwulen- und Lesbengruppen zu organisieren begannen.

Irene Franken beleuchtet in ihrem Beitrag mit der 1971 gegründeten Kölner Homosexuellen Frauenaktion (HFA) die erste autonome Lesbengruppe der BRD. Im Fokus steht dabei allerdings weniger die Gruppe als solche, sondern deren Initiatorin und tragende Figur Gertraut Müller. Glücklicherweise betätigte sich diese als eifrige Chronistin, so dass Franken für ihre Auswertung eine Vielzahl an Quellen zur Verfügung stand. Dieser Umstand zeigt, wie stark selbst die jüngere Geschichtsschreibung über Lesben und Schwule von der Entscheidung der Bewegungsakteur*innen abhängig ist, persönliche Aufzeichnungen über die „eigene“ Geschichte zu erstellen und aufzuheben. Mit Hilfe von klassischen Kontaktanzeigen in den damals noch durchwegs heteronormativen Medien gelang es Müller, eine Gruppe von lesbischen Frauen zusammenzubringen. Während eine Zusammenarbeit mit Schwulen abgelehnt wurde, gab es bezüglich der Frage, ob sich die Gruppe auf spezifisch lesbische Themen beschränken oder sich als Teil der Frauenbewegung verstehen solle, unterschiedliche Vorstellungen. Für Müller, die sich schon früh im Kampf gegen den § 218 engagierte, stand die Notwendigkeit einer engen Verknüpfung von Lesben- und Frauenemanzipation außer Frage. Als sie sich in ihrer politischen Arbeit verstärkt in der Frauenbewegung organisierte, löste sich die Homosexuelle Frauenaktion zwei Jahre nach ihrer Gründung 1973 auf.

Im deutschsprachigen Raum hat Rosa von Praunheims 1971 erschienener Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ als ein wichtiger Auslöser der zweiten Homosexuellenbewegung einen ähnlich ikonischen Charakter wie die Stonewall Riots in den USA. Im Beitrag von Richard F. Wetzell bildet der Film mit seiner expliziten Kritik an der konsum- und sexorientierten schwulen Subkultur den Ausgangspunkt für die Analyse einer in den 1980er Jahren geführten öffentlichen Kontroverse zwischen Rosa von Praunheim und dem – maßgeblich an der Entstehung des Filmes beteiligten – Sexualwissenschaftler Martin Dannecker, in der es vor dem Hintergrund der Aids-Krise um die Bewertung der unter Homosexuellen verbreiteten „Promiskuität“ ging. Während Praunheim an seiner Kritik schwulen Sexualverhaltens festhielt, da es letztlich der politischen Emanzipation der Homosexuellen im Weg stehe und angesichts von Aids geradezu selbstmörderische Aspekte habe, warnte Dannecker vor einer solchen Verurteilung und Abwertung, die sich seiner Meinung nach an einer konservativen Sexualmoral orientierte.

Eine besondere Bedeutung erhielt die Diskussion – und da gibt es in gewissem Sinne Anknüpfungspunkte zur aktuellen Auseinandersetzung um Alexander Zinns Thesen zur Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus und zur aktuellen Erinnerungspolitik –, weil sie öffentlich, u. a. mit Beiträgen im Spiegel und in der linken Zeitschrift konkret, geführt wurde und angesichts der unter Bundeskanzler Helmut Kohl propagierten „konservativen Wende“ die Befürchtung auslöste, die Kontroverse um schwules Sexualverhalten schade letztlich der Homosexuellenemanzipation.

Auch Craig Griffiths, der 2021 eine umfangreichere Studie mit dem Titel „The Ambivalence of Gay Liberation“ veröffentlicht hat, nimmt in seinem kurzen Beitrag Bezug auf Rosa von Praunheims Film von 1971, der nicht nur den Anfang der zweiten deutschen Homosexuellenbewegung markiert, sondern auch für einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel vom „schamhaften“ Homophilen der 1950er und 1960er Jahre zum „stolzen“ Schwulen der 1970er Jahre steht. Griffiths hinterfragt allerdings diese Erinnerungsnarrativen innewohnende Tendenz zu einfachen resp. vereinfachenden Geschichtsdarstellungen. Mit Fokus auf ambivalente Gefühle von Scham und Stolz versucht er aufzuzeigen, dass die neue Homosexuellenbewegung keineswegs einen vollständigen Bruch mit der Homophilenbewegung bedeutete und in ihrer Außendarstellung durchaus auch selbstzensierende Tendenzen aufwies.

Liest man die Feuilletons der (rechts-)konservativen Zeitungen, steht außer Zweifel, dass der Kampf insbesondere von Trans*-Personen um Akzeptanz und Gleichberechtigung nach deren Auffassung direkt in den Untergang abendländischer Kultur führt. Besonders genüsslich werden dabei jene Feministinnen zitiert, die insbesondere in der Forderung von Trans*-Frauen, gesellschaftlich umfassend als Frauen anerkannt und behandelt zu werden, eine Bedrohung weiblicher Identität sehen. Der Beitrag von Alexander Mounji zeigt anhand von Quellen der Kölner Frauenbefreiungsaktion (FBA), dass die Frage nach der weiblichen Identität von Trans*-Frauen bereits in der Frauen/Lesbenbewegung der 1970er Jahre heftige Auseinandersetzungen auslöste. So führte die Klage zweier sich selbst als transsexuell bezeichnender Frauen, innerhalb des FBA diskriminiert zu werden, schlussendlich zu einer Spaltung der Gruppe, wobei die Fraktion, die sich gegen die Aufnahme der Trans*-Frauen aussprach, von Gertraut Müller angeführt wurde, die Irene Franken in ihrem Beitrag porträtiert hat. Auffallend ist, dass trotz grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen die Argumente damals wie heute stark von biologistischen Vorstellungen geprägt sind. Darüber hinaus wendet sich auch dieser Beitrag gegen vereinfachende Erzählungen, indem er aufzuzeigen vermag, wie divers und widersprüchlich die Haltungen innerhalb der FBA auch jenseits der „Transsexuellenfrage“ waren.

Mit dem Beitrag von Manfred Herzer-Wigglesworth verlassen wir schließlich das Schwerpunktthema des Heftes. Sein Beitrag widmet sich der in Deutschland Ende der 1860er Jahre einsetzenden Rezeption des US-amerikanischen Dichters Walt Whitman (1819–1892). Obwohl es keine eindeutigen biographischen Quellen für Whitmans Homosexualität gibt, führte insbesondere sein 1855 erschienener Gedichtband „Leaves of Grass“ zu entsprechenden Vermutungen. Herzer-Wigglesworth zeichnet detailreich die vor allem im Umkreis des WhK geführte Diskussion um die tatsächliche oder vermeintliche Homosexualität des Dichters nach und vermag dabei zu zeigen, wie stark diese von den sexualwissenschaftlichen und ideologischen Vorstellungen der Beteiligten geprägt war.

Die Rubrik „Kleinere Beiträge“ widmet sich in dieser Ausgabe von „Invertito“ der Diskussion um Alexander Zinns Kritik an der aktuellen Forschung zur Homosexuellenverfolgung im Nationalsozialismus, der er u. a. eine „Überidentifikation“ mit den verfolgten homosexuellen Männern und Lesben und damit zusammenhängend eine politisch motivierte Etablierung einer geschichtsverfälschenden „Opferidentität“ vorwirft. Die folgenden drei Beiträge versuchen aus unterschiedlicher Sicht Zinns stark pauschalisierenden Thesen zu widersprechen.

Michael Holy wehrt sich in seiner Replik dagegen, dass Zinn im Zusammenhang mit den Begriffen „Überidentifikation“ und „Opfermentalität“ in stark verkürzender Weise auf seinen 1997 erschienenen Aufsatz Der entliehene rosa Winkel verweist. Tatsächlich problematisiert hier auch Holy die Tendenz innerhalb der Schwulenbewegung der 1970er Jahre, die eigene – in vielen Bereichen tatsächlich immer noch von Stigmatisierung und sozialer Repression geprägte – Situation mit derjenigen der Homosexuellen während des Nationalsozialismus zu vergleichen, wenn nicht gar gleichzusetzen. Allerdings stellt er dieses Verhalten klar in den gesellschaftlichen Kontext der 1970er Jahre und wehrt sich vor allem vehement gegen Zinns Behauptung, dass die größtenteils aus der LSBTTIQ-Community stammenden Historiker*innen bis heute diesem Narrativ verhaftet seien.

Jörg Hutter schließlich setzt sich schwerpunktmäßig mit Zinns Thesen auseinander, dass während der nationalsozialistischen Herrschaft homosexuelle Männer weitgehend nur im Zusammenhang mit nicht einvernehmlichem Sex und lesbische Frauen gar nicht verfolgt worden seien. Dabei kritisiert er zum einen, dass Zinn die bisherige Forschung zugunsten seiner Thesen selektiv und deren ursprüngliche Aussagen verfälschend zitiere, zum anderen sieht er grundlegende methodische Mängel, etwa, dass Zinn bar jeglicher Quellenkritik die – auf tiefsitzenden gesellschaftlichen Ressentiments beruhenden – Kategorisierungen und Zuschreibungen der Verfolgungsbehörden übernehme. Mit Blick auf die aktuelle rechte Gewalt insbesondere gegen bestimmte gesellschaftliche Minderheiten betont Hutter zudem die Bedeutung der historischen Forschung für eine auch die verfolgten Gruppen einbeziehende Erinnerungspolitik.

Abgeschlossen wird das Jahrbuch wie immer durch eine Reihe von Rezensionen zu wichtigen Neuerscheinungen zur Geschichte der Homosexualitäten quer durch die Jahrhunderte. Gerne nimmt „Invertito “ Beiträge und Berichte aus verschiedensten Themenfeldern der Geschichte der Homosexualitäten entgegen.

Die Redaktion, Frühjahr 2022