Der Hirtenstern

von Alan Hollinghurst

Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Bartholomae

Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, ca. 600 Seiten
Veröffentlichung: April 2022

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Der Hirtenstern

Mit Anfang dreißig entflieht der verhinderte Schriftsteller Edward Manners der Orientierungslosigkeit seines Daseins in der südostenglischen Provinz, um im belgischen Brügge als Privatlehrer zu arbeiten. Bereitwillig lässt er sich vom modrigen Charme der altehrwürdigen Handelsstadt in den Bann ziehen, erkundet ihre engen Gassen, zwielichtigen Kneipen und versteckten Parks, in denen schwule Männer sich zum Sex treffen. Nebenbei findet er Gefallen an den Gemälden des belgischen Symbolisten Edgard Orst. Und er verliebt sich in seinen Schüler Luc. Seine rückhaltlose Bewunderung nimmt bald schon obsessive Züge an. Als Edwards Gefühlsleben endgültig zum Abbild der hysterischen Entrücktheit der Orst-Gemälde zu werden droht, erzwingt ein Todesfall seine Rückkehr nach England.

Alan Hollinghursts zweiter Roman „The Folding Star“ erhielt beim Erscheinen der englischen Erstausgabe 1994 durchgängig euphorische Kritiken und die Jury des Booker Prize setzte das „hintersinnige Märchen über Besessenheit, Geheimnis, Begierde und Verlust“ prompt auf die Shortlist. Joachim Bartholomae hat den Text, den The Sunday Times als „wunderschön geschrieben“ und „pervers romantisch“ pries, mit viel Gespür für Hollinghursts intellektuellen Humor nun erstmals ins Deutsche übertragen. Das Ergebnis ist nicht zuletzt ein Beweis für die Zeitlosigkeit des Romans. „Der Hirtenstern“ ist wie die Gemälde des Symbolisten, denen Edward verfällt: mysteriös, morbide, surreal und sexy.

BIOGRAFIE

ALAN HOLLINGHURST (* 1954 in Stroud, England) ist einer der bekanntesten britischen Schriftsteller der Gegenwart. Er arbeitete lange Zeit als Literaturkritiker für das renommierte Times Literary Supplement. 1989 erhielt er für „Die Schwimmbad-Bibliothek“ („The Swimming-Pool Library“) den Somerset Maugham Award und den Stonewall Book Award, 2004 den Booker Prize für „Die Schönheitslinie“ („The Line of Beauty“). Zuletzt erschien sein Roman „Die Sparsholt-Affäre“ („The Sparsholt Affair“). Alan Hollinghurst lebt in London.

LESEPROBE
Auszug aus „Der Hirtenstern“ von Alan Hollinghurst

Mir war etwas mulmig, als wir das Schwimmbad erreichten, aufgrund des vielen Alkohols und des antizipierten Elends, schwimmen zu müssen, meiner Erinnerungen an den vorigen Aufenthalt und der Vorstellung, mich nach der Ruhe der Straßen beherzt in den widerhallenden Lärm des Schwimmbads zu stürzen. Die Luft drinnen hatte den chlorhaltigen „Morgen danach“-Geruch von Nagellackentferner und kaltem Zigarettenrauch.

Im Umkleideraum war viel Betrieb, es waren viele Väter mit ihren Söhnen und den Söhnen von Freunden da, Kinder, die kreischten und mich über den Haufen rannten, als ich mich durch den Raum schlängelte. Ich fand einen Spind und zog mich aus. Ich zog die neue Badehose an und sie schien okay, auch wenn sie wenig Halt bot; sie fühlte sich sehr geschmeidig an; wahrscheinlich war sie ziemlich auffällig. Ich zog mir gerade das Hemd über den Kopf, als ich eine Stimme hörte, die ich kannte, und dann noch eine andere. Mein Herz machte einen Sprung, mir blieb keine Zeit, meine Flucht zu planen: Für eine oder zwei Sekunden dachte ich, ich könnte den Kopf einfach im Hemd versteckt lassen und fortgehen, wie ein Angeklagter, der das Gericht unter einer Decke verlässt. Aber ich riss mich zusammen, befreite meine Arme und schaute hinüber.

Luc und Patrick schlenderten in meine Richtung, und direkt hinter ihnen, in sich hineinlächelnd, folgte Matt. Ich war so abgestoßen von ihrem Zusammensein und dem, was es implizierte, dass ich mich einfach seufzend mit einem Lächeln hinsetzte. Die Drei machten sich offenbar keinerlei Gedanken, sie waren entspannt und fröhlich. Sie sahen sich selbst nicht als Tribunal für mein verwickeltes, beschämendes Verbrechen. Sie kamen aus der Dusche, Matt nackt, aber er hielt sein Handtuch und die ausgewrungene Badehose vor sich. Luc bemerkte mich als Erster, kam mit breitem Grinsen auf mich zu und schüttelte mir die Hand, als ob er mich wirklich gernhätte, oder als ob dieser trostlose männliche Ort Formen klassischer Kameradschaft erforderte.

„Das ist aber ein Zufall, Edward!“, sagte er.
„Ja, unglaublich.“
Er war hundertmal wunderbarer als Agustín. Die Fotos von ihm waren Mist. Trotz meiner bevorstehenden Demütigung merkte ich, dass er keine Kleidung trug, nur das Handtuch, und dass er es gleich abnehmen würde. Ich stand auf und spürte die Wärme, die sein Gesicht und seine Brust ausstrahlten, und sah, dass er auf den Armen dennoch eine Gänsehaut hatte.
„Das ist übrigens mein Freund Patrick, von dem ich dir schon erzählt habe.“

Ihnen zu begegnen war wie ein Treffen mit Filmstars, ihre Aura und Schönheit hängten Gewichte an meine Zunge. Patrick schüttelte mir ebenfalls die Hand, nickte und sagte, dass er sich freue, mich zu treffen. Er sprach flüssiges Englisch, wenn auch ohne Lucs Neigung, einen englischen Akzent zu parodieren. Matt hatte das alles beobachtet. Über Patricks Schulter hinweg warf ich ihm einen warnenden Blick zu; vielleicht war die Situation zu retten, wenn er mich nicht erkannte. Jeder von ihnen war an seinem Spind beschäftigt. Ich wollte hier verschwinden und mich im Wasser verstecken, doch gleichzeitig wollte ich meinen Aufenthalt herauszögern, um Luc nackt zu sehen – das musste ich einfach.

Matt kam herüber und sagte: „Hallo, mein Freund.“
Als gelassene Begrüßungsgeste strich er mit der Hand über meine Schulter und den Oberarm.
„Hi“, sagte ich mit rauer Stimme.
„Irre Badehose“, sagte er und fügte leise hinzu: „Deine eigene?“
Dann wandte er sich mit einem Zwinkern ab. Luc hatte es gesehen und fragte: „Kennt Edward Matt?“ im Ton lediglich gespielter Verwirrung.
„Klar, das sind die Burschen, von denen ich dir erzählt habe“, sagte Matt. „Die beiden, die ich an dem Wochenende am Strand getroffen habe.“
„Oh… ich…“
„Genau, er ist der Typ, von dem ich dir erzählt habe“, sagte Luc langatmig. „Ich habe doch gesagt, dass da ein junger Mann am Strand war, beim Haus von meinem Freund Patrick, und… weißt du noch, das Haus daneben?“
„Wie ungewöhnlich“, sagte ich. „Wollt ihr sagen, dass ihr beide zur selben Zeit in diesem kleinen Ort gewesen seid, von dem noch kein Mensch gehört hat? Ich habe den Namen schon wieder vergessen.“

Alles hing von Matts nächstem Satz ab; ich weiß nicht, warum ich dachte, er würde mich hängen lassen, außer aus Eifersucht auf seine Freundschaft mit den beiden Jungen und wegen meiner verkaterten Paranoia und meiner Ketzerei der letzten Nacht. Ich hielt einen Gesichtsausdruck von zerstreutem Staunen aufrecht.
„Genau, wir sind doch in das alte Haus eingebrochen.“
Patrick blickte ihn triumphierend, ja bewundernd an: „Ihr seid also wirklich in das Haus eingebrochen?“, und Luc sah mich stirnrunzelnd an.
„Willst du sagen, ihr beide?“
Ich hätte mich tobend selbst verraten, wenn Matt das Spiel nicht mit dem Satz beendet hätte: „Er nicht, nein – ich bin mit einem alten Freund dagewesen.“
„Wir haben ihn nie gesehen“, sagte Luc cool. „Schnarchst du etwa laut?“, fragte Patrick.

Ich dachte erschöpft daran, was alles hätte schiefgehen können, und wie dumm Matt war, sich so sehr auf seinen Glamour und seine Lügen zu verlassen. Die Jungs wirkten in seiner Gegenwart so unschuldig, ohne Verdacht zu schöpfen, geschmeichelt von der Aufmerksamkeit, die dieser schlanke Schwimmer ihnen schenkte, der zehn Jahre älter war als sie und ganz genau wusste, wo es langging. Betrüger arbeiten mit solchen Methoden. Die Jungs bekamen nicht mit, wie er seinen steil aufragenden Ständer kurz zu mir herüberschwenkte, als er sich die Jeans über den nackten Arsch zog – Gefahr und Betrug machten ihn scharf.

Auszug aus „Der Hirtenstern“ von Alan Hollinghurst