von Micha Riegel
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 296 Seiten
Veröffentlichung: Oktober 2024
Unterfranken, Mitte der Neunzigerjahre: Samu ist 16, als er aus seinem Heimatdorf wegmuss. Ein Jahr zuvor hat er am Faschingsdienstag auf offener Straße mit Maxi rumgeknutscht. Oder Maxi mit ihm? Jedenfalls war der Kuss ein Skandal, weil Maxi der Sohn vom Umraths-Franz war, dem reaktionären Bürgermeister. Jetzt ist Maxi tot. Vom Kirchturm gesprungen. Daran ist Samu schuld. So sehen das zumindest der Umraths-Franz und sein rechtsradikaler Sohn, die Rache schwören. Also haut Samu nach Frankfurt ab, wo er im September eine Lehre anfangen soll. Doch vorher kommt noch der Sommer. Und die Bekanntschaft mit Lenni, mit dem Samu eine gemeinsame Leidenschaft für die Musik von Ton Steine Scherben verbindet. Die beiden beschließen, Rio Reiser auf dessen Hof im nordfriesischen Fresenhagen einen Besuch abzustatten – der Beginn einer halsbrecherischen Odyssee quer durch Deutschland und einer ersten Liebe.
Wenn Micha Riegel schreibt, liegen Tragik und Komik nah beieinander. Sein Debütroman wirft die Lesenden mittenhinein in den chaotischen Erfahrungsmarathon der Protagonisten, der nebenbei zum Spiegel der deutschen Nachwendejahre wird. Aber egal ob Samu und Lenni in Frankfurt skrupellosen Dealern entkommen, ob sie in Weimar die Polizei austricksen, in Berlin einem dubiosen Pornoproduzenten auf den Leim gehen oder im Anti-AKW-Hüttendorf bei Gorleben den überfälligen Arschtritt in Sachen Liebe erhalten, sie behalten stets ihr Ziel vor Augen: die Ton-Steine-Scherben-Kommune in Fresenhagen. „Rauchzeichen für Rio“ ist ein Roman wie ein Rio-Reiser-Song: ehrlich, entwaffnend, umwerfend.
MICHA RIEGEL wurde 1980 in Würzburg geboren. Nach dem Abitur machte er eine Schreinerlehre, wanderte durch Italien, Frankreich und Spanien, ließ sich zwischenzeitlich in Leipzig und Berlin nieder, wo er u. a. als Schreiner, Theatermacher und Straßenmusiker arbeitete. „Rauchzeichen für Rio“ ist sein erster Roman. Die Geschichte von Samu und Lenni basiert auf Aufzeichnungen und Erfahrungen, die er selbst als 16-Jähriger bei einer Reise durch Deutschland sammelte. Micha Riegel lebt in Würzburg.
Ich schlich zurück in die Hütte und versuchte in der Küche aus meinen Vorräten so was wie ein Sonntagsfrühstück zusammenzubasteln. Kochte Kaffee und wärmte Milch auf, röstete Brotscheiben überm Campingkocher und schlug Eier in die Pfanne. Ein Glas von Albas Hagebuttenmarmelade fand sich auch noch. Das alles stellte ich auf den Tisch, dann ging ich neben Lenni in die Hocke und hab an seiner Schulter gerüttelt. Seine türkisgrünen Augen blinzelten mich an.
„Hui …“, gähnte er und streckte die Arme von sich. ’ne Weile schaute er nachdenklich an die Zimmerdecke und sprang dann blitzschnell auf. „Hab ich lang geschlafen? Mein Kopf fühlt sich wie einmal in der Mitte durchgerissen an, denk ich.“
„Also wenn du magst, es gibt Kaffee und so“, sagte ich.
Er kämmte sich mit den Fingern ein paar Mal durch die zerzausten Haare, zog sein gelbes T-Shirt lang, bis es fast wieder an den Hosenbund reichte, und setzte sich zu mir an den Tisch. Keiner von uns sagte was während des Essens, schweigend schoben wir uns gegenseitig Salz, Pfeffer und Marmeladengläser zu. Ich glaub, es waren diese ganzen ungefragten Fragen, die standen zwischen uns wie ’ne schalldichte Wand. Irgendwann hielt ich’s nicht mehr aus und machte den Anfang.
„Alles meine Schuld, oder? Ich glaub, ich hab mich ordentlich an der Nase rumführn lassen von dem Typen.“
„Och … keine Ahnung, denk ich.“
„Was war’n das, was ich da ausm Container gefischt hab?“
„Egal, is doch jetz eh weg.“
„Weil der Typ dich halt fast umgebracht hätt deswegen.“
„Quatsch, hätt der nich.“
„Kennste den?“
„Ja, nee … schon mal gesehn, bestimmt.“
„Woher der wohl gewusst hat, dass ich dich da find?“
„Was weiß ich, der hat mir halt nachspioniert oder so.“
Er drehte sich mit jedem Wort ein Stück weiter von mir weg, den Blick auf den Boden geheftet, aber ich ließ nicht locker.
„Wohnst du wirklich in der Bruchbude da drüben?”
„Ach komm … lass gut sein, Samu.“ Er hob den Kopf und schaute mir in die Augen. „Jetz sag du lieber mal, was hast’n du eigentlich von mir gewollt? Hab ich ja schon mitgekriegt, dass da einer nach mir rumgefragt hat. Warst dann ja wohl du.“
Das hatte ich jetzt von meiner Fragerei. Lenni drehte den Verhörscheinwerfer um, und auf einmal saß ich selbst im Lichtkegel. Ich hab ’ne ganze Weile überlegen müssen, bis mir ’ne Antwort einfiel, die maximal die halbe Wahrheit war.
„Also, weil … so ’ne Frau gesagt hat, es hat viel besser geklungen, als wir zwei zusammen Musik gemacht haben … und weil die Gitarre auf einmal gestimmt hat … und dann hat das ja auch Spaß gemacht mit dir, und da hab ich gedacht, vielleicht können wir ja … du und ich, vielleicht mal … proben und auftreten und so.“
Er schielte mich erstmal nur skeptisch aus den Augenwinkeln an, aber dann drehte er sich langsam zu mir und grinste mich frech an.: „Na ja. Solang du die Finger von der Gitarre lässt, warum nich, denk ich.“
Aber dann verschwand sein Grinsen gleich wieder.
„Scheiße, Samu“, und er kratzte sich mit allen Fingern seiner linken Hand hinterm Ohr, hektisch hin und her, „da hätt ich nich übel Lust drauf. Aber … ich muss erstmal ’ne Weile aus Frankfurt verschwinden, denk ich. Wenn der Mütze mich in die Finger kriegt, da war das heut Nacht nur ’n Witz dagegen, weißte?“
„Du könntst doch hier bei mir wohnen, da findet dich keiner.“
„Und mich dann mitten auf die Zeil stellen und Gitarre spielen?“
Das einzige Geräusch machte der Regen, der immer noch auf die Dachpappe rasselte. Ich fing an, eine Kippe zu drehen, und schob das Tabakpäckchen zu Lenni. Er drehte sich auch eine und dabei konnte ich meinen Blick nicht von seinen Händen lösen. Wie sie das Papier auf der Tischplatte glattstrichen, wie sie den Tabak aus der Packung holten, ihn auseinanderbröselten und im Papier zusammenrollten. Klein und schmal waren seine Hände, wie alles an ihm, aber sie schauten so viel älter aus als er. Kantig die Sehnen auf den schmalen Handrücken, die Fingergelenke rissig und zerfurcht, die zerkauten Fingernägel schwarz vom Dreck. So zerbrechlich Lenni auf den ersten Blick auch wirkte, beim Blick auf seine Hände war klar: Der Kerl ist zäh, egal wie oft du den umhaust, der steht wieder auf.
Er zog das Benzinfeuerzeug aus der Hosentasche und schob es mir zu. Während wir rauchten, überlegte ich, was wir anstellen konnten, damit er nicht gleich wieder verschwinden musste, wo ich ihn doch gerade erst wiedergefunden hatte. Aber mir fiel nichts Gescheites ein, wie auch, ich wusste ja nicht mal genau, was das Problem war. Wenn Mütze das Problem ist, dann schlag ich ihn halt tot, dachte ich.
Lenni drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, schüttelte den Kopf und stand auf.
„Weißte was? Ich fahr nach Fresenhagen, denk ich. Hoch zum Bauernhof, wo die Scherben wohnen, Anhalter machen, bissl hier, bissl da und quer durchs Land und alle Städte, und am Ende beim Rio Reiser stehn und irgendwie mal Hallo sagen.“
„Einfach mal so Hallo sagen, oder was?“
„Klar, wieso nich? Also, ich mein, den Osten hoch, das wollt ich eh alles mal anschaun da. Berlin. Die Elbe runter und bis ans Meer, ich war da nie, ich kenn das alles nich.“
„Meinst, ’n Floß bauen und die Elbe runterfahrn wie aufm Mississippi … und im Wendland zu den ganzen Anarchisten, davon hab ich gelesen, die leben da gemeinsam, haben irgendwelche alten Höfe, bauen die wieder auf, und alles gegen die Bullen und den Staat.“
„’n Floß baun, Samu, da dran hab ich noch nich gedacht. Also ich würd ’n Floß baun. Und die Elbe, keine Ahnung, aber die fließt ja dann doch ins Meer, also schaffen wir’s auch nach Fresenhagen!“
„Wie … wir?“
„Würdst … du … also ich mein … du könntst ja mitkommen.“ Er hat mich lang angeschaut, ein fragender Blick. „Ich könnt auf deiner Gitarre spielen und du singst dazu. Wie du gesagt hast, nur halt nich hier in Frankfurt.“
Eigentlich hatte ich ja gar keine Wahl. Keine Ahnung, wie ich das Lukka erklären würde, und Mascha und Beppo, aber da wollte ich jetzt noch nicht drüber nachdenken.
„Na ja, so bis September hab ich Zeit … Also, ich mein, wieso nich?“, hörte ich mich sagen.
Da lachte er auf einmal los, und da war dann endlich wieder dieser warme Regen aus Blau und Grün und Türkis in seinen Augen.
„Also, abgemacht! Und keine alten Geschichten mehr, versprichst mir das?“