von Michael Sollorz
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 156 Seiten
Veröffentlichung: September 2024
Einen Tag und eine Nacht ist Abel in Berlin unterwegs. Er sucht Joe, seinen Freund, der ihm Heimat bedeutet wie die vertraute Stadt, die sich so rasant verändert. Wie lange war Joe nicht zu Hause, hat er Abel verlassen, geht jetzt eigene Wege? So pilgert Abel durch die Subkultur. Märchenbrunnen und Tiergarten, Kneipen, die Sauna unterm Dach, Orte des Begehrens und fremder Umarmung. Wurden sie für ihre Liebe zur Gefahr? Hat der junge Ostberliner Abel zu viel erhofft vom Leben mit Joe, zugezogen aus katholischer West-Provinz? Hatten sie überhaupt eine Chance? Abels Odyssee öffnet auch den Blick auf seine Herkunft, dieses „Märchenland“, das er nicht festhalten kann, vielleicht ebenso wenig wie den Freund.
Michael Sollorz’ Romandebüt „Abel und Joe“ beschwört mit ungeheurer Zärtlichkeit, Witz und einer lakonisch-präzisen Sprache das Gestern im Heute. Dabei fängt er nicht nur das schwule Lebensgefühl der 1990er Jahre ein, sondern auch die Verlorenheit jener Generation, die nach der deutschen Wiedervereinigung im Osten des Landes neu anfangen musste. Zum 30. Jubiläum der Erstausgabe lädt diese Neuauflage zur Wiederentdeckung der zeitlos-melancholischen Liebesgeschichte ein – ergänzt durch eine Betrachtung von Anna-Seghers-Preis-Trägerin Katja Oskamp („Marzahn, mon Amour“).
MICHAEL SOLLORZ, 1962 in Ostberlin geboren, absolvierte Berufsausbildungen als Dachdecker und Zootierpfleger. Seit 1985 ist er freier Schriftsteller und Journalist. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen neben „Abel und Joe“ (1994), „Die Eignung“ (2008) und „Fünfzig“ (2013). 2023 erschien sein Roman „Zeit der Kräne“.
DER TAG
Abel erwachte. Hinter seinen geschlossenen Lidern wirbelten die Bilder der Nacht, zerstückelt und falsch montiert; schmale Hände, ein haariger Arsch und Laternen, die stürzten wie Bäume. Ein Rudel Fahrkartenkontrolleure.
Abel blinzelte nach der Zeitanzeige des Videorecorders. Weil er keine seiner Brillen in Reichweite wusste und seine Linschen noch in ihrer Lösung schlummerten, blieb er seufzend liegen. Der Recorder log ohnehin, Abel konnte ihn nicht einstellen, er hatte es nie wirklich versucht. Die Küchenuhr war kaputt, und der Wecker in Joes Zimmer zeigte seit Tagen Viertel nach drei. Draußen war heller Tag; wen kümmerte die Zeit?
Ich fahre zum Engel, dachte Abel plötzlich, vielleicht weiß er was von Joe. Der Einfall stimmte ihn froh. Er konnte etwas tun.
Nach dem Zähneputzen hörte er den Anrufbeantworter ab. Joes beschwipste Ansage, aufgenommen im letzten Winter; alle Anrufer beklagten sich über ihre Länge.
Verehrte Damen …
Es folgte eine lange Stille.
… meine sehr verehrten Herren! Wen von uns hätte nicht eine zu kurz gekommene Großmutter gelehrt, dass Geduld zu den höchsten Tugenden zählt? Sie möchten sprechen? Warum? Glauben Sie sicher zu wissen, was Sie zu sagen haben?
Das folgende Schweigen dauerte so lang, dass viele meinten, sie sollten nun sprechen. Andere legten auf.
Nun, wenn Sie schon mal zuhören: dies ist der Anschluss von Abel und Joe. Und nun aufgepasst! Gleich macht es pieps! Sie haben elf Sekunden!
Später wollte Joe das Band löschen, es war ihm peinlich. Erst Abels Hinweis, die Hürde nähmen nur Eingeweihte, kaum aber ein Fremder, dem man im Überschwang einer Nacht die Nummer zugesteckt hatte, stimmte Joe um; er wollte nicht, dass immer neue Fremde Abel verlangten.
Abel lauschte. Der Signalton. Ein Anrufer, der nicht sprach. Atemzüge, zwei, drei Sekunden. Das Atmen eines Mannes, keine Stimme, kein Gesicht. Es gab so viele Männer in der Stadt; und für jeden, der starb, kamen von den Dörfern zwei neue.
War es Joe, der angerufen hatte, um sicherzugehen, dass er keine leere Wohnung vorfinden würde? Joe hätte etwas gesagt, denn er wusste, dass Abel nicht abnahm, bis er den Anrufer erkannt hatte.
Abel spulte zurück bis hinter Joes Stimme, drückte die Aufnahmetaste und sagte hastig: „Joe! Alle Uhren sind stehen geblieben. Wo bist du? Komm nach Hause! Oder sprich aufs Band! Ich bitte dich sehr …“
Abel nahm die Linschen aus ihrem Schlummerwasser. Seine Augen brannten und tränten. Er setzte sich aufs Klo und fluchte, wie eitel es draußen zuging. Beim Abwischen sah er Blut auf dem Papier. Vielleicht täuschte er sich auch, seine Augen tränten noch immer; wütend zog er an der Spülkette. Kein Bruchstück der Nacht passte in ein Bild, das die Blutspur erklärt hätte.
Abel duschte lange und stellte das Wasser immer heißer; nie war es ihm heiß genug.
Dunkelrot wie der flauschige Vorleger stieg er aus der Wanne. Sein Schwanz wippte straff. Er betrachtete ihn im Spiegel und sagte: „Du siehst sehr schön aus, ich nähme dich gern in den Mund, wäre ich ein anderer. Aber ich bin nur Abel, der Mann an dir dran.“
Einlauf? Unsinn. Rasieren? Morgen vielleicht. Die Jeans von gestern? Eben die und keine Unterhose. Frische Socken, ein sauberes Hemd. Was blieb zu tun? Nichts.
Schritte im Treppenhaus? Abels Herz schlug schneller. Ein Schlüssel, der sich ins Schloss schob? Keine Schritte, kein Schlüssel. Gespinste der Stille. Samstags hinterm Mond. Das Surren des vollgepackten Kühlschranks. Essen? Nicht allein. Trinken? Nicht hier.
Abel riss einen Zettel vom Block, setzte sich an den Küchentisch und schrieb: Ich halte das Warten nicht aus. Ich geh dich suchen.
Er zog seine Jeansjacke an, die klobigen schwarzen Halbschuhe, und dachte plötzlich: Und wenn er hier gewesen ist?
Die Zimmer gaben das Geheimnis nicht preis. Die Wände schwiegen abweisend, und die Haare der billigen Teppiche richteten sich nach jedem Schritt gleich wieder auf. Lag eine feine Staubschicht auf der Türklinke von Joes Zimmer? Zogen sich die Falten von Joes zerwühlter Bettdecke vorgestern nicht anders?
Abel schmiegte sein Gesicht auf das hellblaue Laken, die Landschaft aus Schatten und Flecken, und roch am Bezug der Decke; ein Muster aus blühenden Kamelien.
Kam Joe heimlich her? Hatte ihn Abels Abwesenheit verletzt, war er deshalb ohne Nachricht wieder weggegangen?
Zwischen ihrem Schuhputzzeug fand Abel einen kurzen Wollfaden. Es war wie am Anfang, als jeder meinte, der andere schnüffele ihm nach. Die Fächer, in denen sie alte Briefe verwahrten, Tagebücher und Fotos, waren auch damals nicht verschlossen.
„Du hast mir nie von Marcus erzählt!“
„Muss ich dir alles erzählen? Und wer ist überhaupt Marcus?“
„Tu doch nicht so.“
„Ich kenne keinen Marcus.“
„Wirst du eines Tages über mich auch so schreiben?“
„Bestimmt, wenn du so weitermachst.“
„Miststück!“
„Hure!“
„Küss mich!“
In Gedanken hatten Abel und Joe sich auf solche Gespräche vorbereitet, die Rollen blieben austauschbar wie die Vorwürfe und Namen. Später lachten sie über die Fallen, in die sie nicht gegangen waren, und lasen einander ihre Tagebücher vor. Die Monate zwischen ihrer ersten Begegnung und Joes Umzug nach Berlin. Abel überblätterte ein paar Episoden. Seit sie zusammenlebten, gab es ohnehin kaum noch etwas, das sich verbergen ließ; die Reste hatten sie bitter nötig.
Abel schloss die Wohnung ab, klebte kniehoch den Wollfaden über den Türspalt, mit Spucke, wie Joe es erfunden hatte, und lächelte dabei. Das Lächeln lag noch auf seinem Gesicht, als er langsam die Treppen hinunterstieg, in den Hausflur, zu den rostigen Briefkästen.
Vor der Tür stand die Grausig. Sie war Frührentnerin, einen halben Kopf größer als Abel und knochig wie ein altes Pferd. Sie wohnte unter Abel und Joe.
An ihrer Klingel stand Welz, der Name ihres Mannes, eines früheren Botschaftsrates; noch immer dröhnten zu Weihnachten und Ostern russische Chöre durchs Haus. Er hatte Spaziergänge geliebt, allein und am frühen Morgen; so wollte er seine Tage beginnen. Im Winter vor zwei Jahren war er gestürzt, an der Rampe des Getränkeladens, den die Kinder zur spiegelnden Rutschbahn machten. Nach der Schule schmissen sie ihre Mappen in den Schnee und kreischten böse, wenn der verwachsene Inhaber herauskam und sie wegjagte.
Es hieß, es sei Viertel vor sieben passiert. Der Laden war noch geschlossen. Welz starb im Schnee – lächelnd. Eine Nachbarin hatte gesehen, wie er Schneebälle nach den Laternen schmiss und auf der Rampe schlitterte. War er verrückt geworden – ein Herr mit seiner Vergangenheit? Vor wem hätte er sich schämen sollen – es gingen um diese Stunde kaum Leute vorbei, seit so viele in der Straße ohne Arbeit waren.
Nun trat die Grausig jeden Morgen vors Haus, besorgt, wo der Alte so lange blieb. Bei schönem Wetter ging sie wieder und wieder hinunter, stand auf dem Gehsteig und hielt Ausschau, bis die Turmuhr zwölfmal schlug.
„Grausig“, flüsterte Joe, als sie die Frau beobachteten, drei Tage, einen Monat, ein Jahr.
Mittags räumte sie das unbenutzte Frühstücksgeschirr in den Schrank und schlief eine Stunde.
Sie las Schiller, Simmel und Sakowski und seit jeher lugte aus ihrem Briefkasten das ND. Sie hatte als Lehrerin gearbeitet, bis man sie aus der Schule warf; sie hatte darum gebeten.
„Wissen Sie“, vertraute sie Abel eines Morgens vor der Haustür an, „die neue Behörde und ich – wir wären uns nicht grün geworden. Früher faulte wohl mal eine Frucht, heute ist die ganze Wurzel krank.“
Dabei folgte ihr Blick drei makellos gewachsenen Früchtchen, sie trödelten mit wippenden Rucksäcken rauchend Richtung Schule. „Krank, verstehen Sie?“
Abel nickte höflich.
„Und außerdem“, fügte die Frau hinzu, „wäre ich noch im Joch, müsste mein alter Welz alleene frühstücken. Das kann er nicht leiden …“
Abel und Joe schleppten der Frau die Kohlen in den dritten Stock und gaben ihr einen Wohnungsschlüssel, damit sie mit Joes Kamelien sprach, wenn Abel und Joe verreisten.
Beim ersten Mal hatte Joe den großen schwarzen Gummischwanz, dessen Platz auf einem Wasserrohr über der Badewanne war, hinter den Handtüchern im Schrank versteckt. Beim zweiten Mal vergaß er es, und nach ihrer Rückkehr nahm die Grausig Abel beiseite, wies ins Bad und fragte: „Und damit geht es?“
„Beim ersten Mal, da tut’s noch weh“, sang Abel leise. Natürlich kannte die Grausig das Lied und fiel schmetternd ein. Sie sangen gemeinsam den Refrain, laut und schamlos falsch; dann lachten sie und lachten und wischten sich verstohlen die Tränen ab.
Begriff die Frau wirklich nicht, dass ihr alter Welz nicht mehr kommen konnte? Eines Nachmittags erschien sie mit einem Monteur von der Post. Seltsamerweise duzte sie den Mann. Er legte das Telefon der Welzens, seit jeher der einzige Anschluss im Haus, nach oben zu Abel und Joe. Die Frau hatte alle Formulare ausgefüllt, die Nummer war schon umgemeldet.
„Wissen Sie, manchmal rufen Leute an, die wollen meinen Mann. Es ist mir peinlich, unentwegt erklären zu müssen, er sei noch nicht zu Hause. Nehmen Sie es – Sie brauchen es.“
Joe strahlte und rief seine Mutter an, kaum waren die Frau und der Monteur gegangen. Seitdem dachte Abel: Sie spielt nur die Verwirrte. Sie weiß alles. Das ist ihre Art zu überleben.
„Auch keine Post? “, fragte die Grausig.
„Nee“, sagte Abel. „Bloß die Zeitung.“
„Bei mir auch bloß die Zeitung.“
„Und? Steht was drin?“
„Ach“, sagte die Frau. „Wieder bloß Kummer.“
Abel irritierte, wie aufmerksam, ja besorgt sie ihn musterte. Ein schlaksiger Bursche aus dem besetzten Nachbarhaus schlurfte an ihnen vorbei. Sein verschlafener Blick streifte die Schürze der Grausig, die Matrioschkas und Bären. In der Seitenstraße standen Mannschaftswagen der Polizei.
„Ist irgendwas?“, fragte Abel.
„Die Besetzer machen ein Straßenfest“, sagte die Grausig. „Gegen Olympia, wegen der Solidarität – und überhaupt!“
„Ach so.“
„Gehn wir heute Abend zusammen runter und trinken einen Schnaps! Oder besser zwei?“
„Gute Idee“, sagte Abel. „Das machen wir.“
„Junge“, seufzte die Grausig. Ihre Hand legte sich auf seine Stirn. „Ist alles in Ordnung? Kommst du zurecht?“
„Sicher“, wehrte Abel ab. „Warum nicht?“
Die Grausig wich seinem Blick aus, als schäme sie sich, eine Grenze verletzt zu haben. Abel spürte, dass sie etwas sagen, sich vielleicht sogar entschuldigen wollte; er lief los und winkte ihr lächelnd zu. Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl, ein Teil von ihm wäre bei der Frau zurückgeblieben. Ein Besäufnis auf dem Straßenfest? Keine so gute Idee ohne Joe.
Abel tastete die Taschen seiner Jeansjacke ab; Feuerzeug und Zigaretten, Gummis, Wohnungsschlüssel, Lippenfett – er war komplett.