ein Film von Alain Guiraudie
Frankreich 2024, 103 Minuten, französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
Kinostart: 6. März 2025
FSK: 16
Nach zehn Jahren kehrt Jérémie in seinen Heimatort Saint-Martial im Südosten Frankreichs zurück, um an der Beerdigung des Dorfbäckers Jean-Pierre teilzunehmen. Als Teenager war Jérémie dessen Lehrling – und vielleicht noch mehr. Von Vincent, dem latent gewalttätigen Sohn des Verstorbenen, wird Jérémie mit Argwohn empfangen, aber auch mit unterschwelligem Begehren. Die Bäckerswitwe Martine bietet ihm einen Schlafplatz an und sucht etwas direkter seine körperliche Nähe. Ambivalente sexuelle Spannungen erzeugt der mysteriöse Rückkehrer auch bei Bauer Walter und dem neugierigen Pfarrer Grisolles. Als Vincent spurlos verschwindet, fällt der Verdacht schnell auf Jérémie.
Auch in seinem neuen Film „Misericordia“ spinnt Alain Guiraudie („Der Fremde am See“), der Meister der sinnlich-abgründigen Provinzerzählung, ein subtiles Netz aus gehemmter Lust und erotischen Manipulationen – und entwirrt es wieder mit skurrilen Wendungen und absurdem Humor. Seine mythisch-spirituell aufgeladene Thriller-Komödie ist inspiriert von Hitchcock und Pasolini, interessiert sich nicht für Genregrenzen und folgt ihrer ganz eigenen Moral. Ein Meisterwerk des zeitgenössischen queeren Kinos aus Frankreich, das bereits in Cannes gefeiert wurde und von der Redaktion der Cahiers du Cinéma auf Platz 1 ihrer Jahres-Top-10 gesetzt wurde!
Freitag, 18. April, Samstag, 19. April & Sonntag, 20. April um 22:15 Uhr / Dienstag, 22. April um 18:15 Uhr
20. April um 20:00 Uhr
Lassen Sie uns als erstes über den Titel sprechen. Was bedeutet das Wort „Misericordia“ (Barmherzigkeit) für Sie? Deutet es auf die Prämisse des Films hin?
Der Titel kam mir in den Sinn, als ich gerade das Drehbuch schrieb. Barmherzigkeit geht für mich über die Frage nach Vergebung hinaus. Es hat etwas mit Empathie zu tun, mit Verständnis für andere jenseits moralischer Voreingenommenheit. Es geht darum, dem anderen die Hand zu reichen. Wir benutzen das Wort nicht mehr oft. Es ist altmodisch. Und vielleicht passt es auch deshalb so gut zu dem Film, seiner Zeitlosigkeit und einer der zentralen Figuren, dem Priester.
Diese Idee der „Barmherzigkeit“, des „Verstehens der anderen trotz allem“ zieht sich durch die ganze Geschichte. Während des ersten Teils verstehen wir weder die Beziehungen zwischen den Figuren noch die Absichten des Helden. Nichts wird direkt angesprochen…
Ich habe mich hier mehr noch als in meinen anderen Filmen bemüht, ein Mysterium zu schaffen. Es war mir wichtig, dass Zuschauer:innen die Dinge in Frage stellen und sich aktiv mit der Geschichte auseinandersetzen – das ist meiner Meinung nach die beste Möglichkeit, um Langeweile vorzubeugen und Sehnsüchte fortzuschreiben. In diesen Fragen liegt für mich das große Geheimnis des Lebens. Es wird ziemlich schnell klar, dass der Protagonist im Dorf bleibt, weil er jemanden begehrt. Dabei ist die ganze Situation auch ständig in Bewegung. Andererseits ist er auch selbst das Objekt der Begierde. Ich interessiere mich sehr für die Verwirrung, die dieser Fremde und seine unklaren Absichten auslösen. Ich mag die Tatsache, dass wir nicht wissen, wer hier eigentlich der Bösewicht ist, und deshalb nicht wirklich wissen, auf welcher Seite wir eigentlich stehen.
Sie spielen auch mit der Vorstellungskraft des Publikums und mit dem, was wir von Ihren Filmen erwarten. Das trägt zur Spannung bei…
Ich denke, dass Personen, die meine Filme schauen, heutzutage viel von mir erwarten. Sie sind in der Lage, mehr oder weniger zu erkennen, wo ich hinwill. Dabei bin ich mir bewusst, dass ich fast immer an den gleichen Fragen, den gleichen Motiven arbeite; und ich spiele mit dem, was von mir erwartet wird. Ich will überraschen, mitunter auch mich selbst, und mich erneuern. Vielleicht war es auch an der Zeit, filmisches Begehren nicht in Sex enden zu lassen. Ich weiß nicht, ob das schon mal jemand gesagt hat, aber ich habe den Eindruck, dass man früher Kämpfe inszeniert hat, weil man keinen Sex darstellen wollte. In gewisser Weise gehe ich in die entgegengesetzte Richtung. Auf jeden Fall ist das Begehren auch hier nicht eindeutig, ich suche nicht nach Auflösungen. Es gibt eine Hauptfigur, die sich Dinge einbildet, und das müssen die Zuschauer:innen auch, so wie ich es getan habe.
Während „Viens je t’emmène“ (2022) ein Film über das Jetzt gewesen ist, der sehr nahe an unseren gegenwärtigen Ängsten blieb, blickt „Misericordia“ in die Vergangenheit. Es ist eine mysteriöse Vergangenheit, deren Tragweite wir nur ansatzweise erahnen können.
Sagen wir einfach, es ist etwas passiert. Die Protagonist:innen haben eine gemeinsame Vergangenheit, der Film spielt aber im Hier und Jetzt. Um ehrlich zu sein, hielt ich es nicht für nötig, eine einzige Rückblende zu drehen. Alles, was von dieser Vergangenheit übrigblieb, ist ein Fotoalbum, das Jérémie sich ansieht. Wie viele meiner Filme spielt „Misericordia“ zwischen Gestern und Heute. Das Dorf, in dem wir gedreht haben, wirkt zeitlos. Es ist um eine Kirche und einen Platz herum gebaut, mit einem majestätischen Pfarrhaus, ganz alten Gebäuden und ganz neuen. Die Bäckerei ist geschlossen und die Straßen leer sind. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Dorf einmal ein lebendigerer Ort gewesen ist. Die Beziehung zwischen Jérémie und Vincent selbst ist nicht ganz klar. Man kann sich vorstellen, dass sie als Teenager gute Freunde waren und ihre Geheimnisse miteinander teilten. Sie haben aber den Kontakt verloren, und irgendetwas hat sich verändert. Ihre Beziehung ist nicht mehr dieselbe. Diese Art des Unbehagens interessiert mich. Es erzeugt eine Spannung, die sich nur zu etwas Tragischem aufschaukeln kann.
Hat der Film auch Verbindungen zu Ihrer eigenen Vergangenheit?
Ich blicke auch auf meine Jugend zurück, ja. Vieles aus meiner adoleszenten Gefühlswelt ist in „Misericordia“ eingeflossen. Die Rivalität zwischen Jungen, das unterschwellige Verlangen, die Art und Weise, wie man die Mutter eines Freundes betrachtet – und natürlich seinen Vater. Es ist für mich immer das Gleiche: Das Kino ermöglicht es mir, meine Erfahrungen mit der Film- und der Weltgeschichte zu vermischen. Es gibt mir die Möglichkeit, mein persönliches Erleben zu universalisieren. Dadurch bietet sich mir die Möglichkeit, zu lernen und Neues zu entdecken. Ich zitiere gerne Michel Schneider: „Alle Romane sind Geschichten, in denen wir uns erzählen, wer wir sind, wer wir gerne wären und wer wir womöglich sind, ohne es zu wissen.” Das Gleiche gilt für den Film.
Normalerweise drehen Sie im Sommer oder Frühling. „Misericordia“ ist hingegen ein Herbstfilm. Warum?
Es ist ein Film wie die Dämmerung. Alles beginnt mit einer Beerdigung und endet auf einem Friedhof bei Nacht. Ein Mann kehrt an den Ort seiner Jugend zurück und wird dort nach und nach zu einem Gefangenen. Der Herbst passt zu den Themen des Films. Er ist melancholisch, bietet schönes Licht und Farben. Er bringt aber auch schlechtes Wetter, Nebel und Wind mit sich. Ich war sehr daran interessiert, im November zu drehen. Dieser farbenfrohe Herbst mit roten und gelben Blättern hält aber nicht lange an, drei Wochen, höchstens einen Monat. Bei den Dreharbeiten hofften wir darauf, dass die Blätter an den Bäumen bleiben würden. Stattdessen wurde aus dem Sommer in wenigen Tagen Winter.
Mit „Der Fremde am See“ (2013) haben Sie einen Thriller gedreht. „Misericordia“ hingegen ist ein richtiger Film noir. Gab es Werke, auf die Sie sich besonders beziehen?
Was den Film noir betrifft, sind meine großen Vorbilder Hitchcock und Fritz Lang. Sie sind Teile eines gemeinsamen kulturellen Rahmens, und bei der Arbeit in meinem Hinterkopf immer präsent. Ich werde oft mit Chabrol verglichen, zweifellos aufgrund der Mischung aus Düsternis und Komik, die seine Filme ausmachen. Bei ihm gibt es aber diese oft spöttische, ironische Seite, mit der ich ein Problem habe, weil ich meinen Figuren sehr nahestehe. Ein Teil von mir steckt in jeder von ihnen. Wenn ich einen Filmschaffenden nennen müsste, dann wäre es, merkwürdigerweise, Bergman, dessen Einfluss im Film spürbar wird. Bergman hat nicht viel mit Film noir zu tun, er porträtiert aber ganz offen Barmherzigkeit. In seinen Filmen gibt es diese bedingungslose Liebe für den Menschen. Seine Filme sind gleichzeitig sehr kontrolliert, sehr ruhig und von Dunkelheit durchdrungen. Ich frage mich eigentlich, ob ich wirklich einen Film noir gemacht habe. „Misericordia“ passt nicht ganz in diese Tradition. Mir lag eher was daran, Genres zu mischen. Und im Grunde genommen denke ich, dass dieser Film Euripides mehr zu verdanken hat als Fritz Lang.
Im Mittelpunkt des Film noir steht ja die Frage nach dem Unmoralischen und dem Amoralischen. Ist „Misericordia“ Ihrer Meinung nach ein Film ohne Moral oder, ganz im Gegenteil, ein Film, der sich bewusst gegen Moralisierung auflehnt?
Die Filme, die mich interessieren, versuchen die Dinge aufzurütteln; sie beobachten und zeigen die Welt aus einer einzigartigen Perspektive. Hier habe ich mich dafür entschieden, einige etablierte moralische Regeln in Frage zu stellen oder zu erschüttern, insbesondere in Bezug auf die Frage nach Schuld, Reue, Vergebung und natürlich in Bezug darauf, wie weit die Nächstenliebe gehen kann (oder sollte). Das sind Fragen, von denen wir glauben, dass wir sie ein für alle Mal geklärt hätten. Ich sehe das aber anders. Sollte man Mörder ins Gefängnis stecken? Sind wir wirklich nicht mit schuld an den Katastrophen in der Welt? Diese Fragen werden vom Priester beantwortet. In der Tat übernimmt er meine eigene Auseinandersetzung mit diesen Themen, meine eigenen Gedanken. „Misericordia“ gibt keine wirklichen Antworten. Ich hoffe aber, dass diese Fragen und Probleme auch auf das Publikum wirken.
Wie haben Sie Félix Kysyl als Ihren Hauptdarsteller gefunden?
Stéphane Batut hat uns vor etwa zehn Jahren bekanntgemacht, beim Vorsprechen für einen Film, den ich schlussendlich nicht realisiert habe. Félix war schon damals ein sehr interessanter Schauspieler, und sein Name blieb mir im Gedächtnis. Ich liebe seine instinktive und doch ausgefeilte Art zu spielen. Er hat etwas sehr Zeitgenössisches an sich, aber auch eine klassische Seite. Obwohl er ein junger Mann ist, gibt es in seinem Verhalten, in seiner Art zu sein, etwas Überzeitliches – man fühlt sich an das Kino der Vergangenheit erinnert. Ich kann es nur schlecht erklären. Es hat etwas mit seinem Aussehen zu tun. Er erinnert mich an Schauspieler aus dem Goldenen Zeitalter Hollywoods. Und vor allem ist er sehr vielschichtig. Ich glaube, das hat mich damals an ihm beeindruckt. Er sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben, und doch kann er wie ein Killer auftreten. Er kann sowohl Engel als auch Dämon sein.
Und Jean-Baptiste Durand, den man ja sonst als Regisseur kennt?
Ich habe ihn als jungen Schauspieler aus Montpellier kennengelernt, und wusste gar nicht, dass er Regisseur ist! ich hatte „Junkyard Dog“ damals noch nicht gesehen. Jean-Baptiste ist ein Charakter, eine echte Persönlichkeit. Er ist nicht die Art von Schauspieler, die man oft bei Castings sieht. Ich wusste sofort, dass er einen Platz in meinem Film haben würde, nicht nur wegen seiner Art, sondern auch wegen der Schlichtheit seines Spiels. Tatsächlich wusste er erst sehr spät, dass er die Rolle des Vincent spielen würde. Und trotzdem funktionierten er und Félix als beste Freunde und Erzfeinde so überzeugend.
Ihnen gegenüber steht Catherine Frot – nach Noémie Lvovsky in „Nobody’s Hero“ ein weiteres bekanntes Gesicht des französischen Kinos. Wie kam es dazu? Normalerweise bevorzugen Sie eher neue Gesichter.
Catherine Frot ist wirklich eine sehr populäre Schauspielerin. Im doppelten Sinne des Wortes: Jeder kennt sie, und sie kann sich in gewöhnliche Welten einfinden. Sie hebt sich nicht ab. Ich schreibe nie mit Blick auf Schauspieler:innen; die Schwierigkeiten fangen für mich meist beim Casting an. Dann muss ich den Figuren, die ich in einer sehr vagen Form im Kopf habe, einen Körper und eine Stimme geben. Ich dachte schnell an Catherine Frot für die Rolle der Martine, vor allem wegen ihrer Unbedarftheit, dieser kindlichen Art, die sie an sich hat. Ich habe aber gezögert, sie zu fragen, weil ich immer Angst davor habe, dass das Publikum bei einer so bekannten Schauspielerin, die man schon in so vielen Rollen gesehen hat, eben nur sie und nicht die Figur sieht. Nachdem ich den Schritt dann aber gewagt hatte und Catherine das erste Mal traf, lief alles wie am Schnürchen. Wir haben geprobt, und Catherine passte genau in die Welt des Films. Sie hat Martine sehr glaubwürdig gespielt.
Es wird immer gesagt, dass große Film noirs auch große Romanzen sind. Würdest Du sagen, dass „Misericordia“ ein Film über Liebe ist?
Auf den ersten Blick würde ich sagen: ja. Es gibt eine echte Liebesgeschichte, die dem ganzen Film zugrunde liegt. Aber es gibt auch versteckte Geschichten: Jérémies Liebe zu dem toten Mann und eine weitere, die ich hier nicht verraten werde, weil das den Film verderben würde. In Wirklichkeit geht es aber um Begehren. Unser Held steht im Zentrum dieses Kreislaufs der Begierde, und nach und nach wird er dadurch zum Gefangenen.
ALAIN GUIRAUDIE (Regie), wurde 1964 im französischen Villefranche-de-Rouergue geboren. Schon als Kind interessierte er sich für Popkultur, wie Comicbücher oder Genrefilme. Nach dem Schulabschluss, schrieb er sich an die Universität Montpellier ein und begann, eigene Romane zu schreiben, die jedoch nie veröffentlich wurden. In den Neunzigern drehte er mehrere Kurzfilme und 2001 seinen ersten Langfilm „Du soleil pour les gueux“.
2013 lief „Der Fremde am See“ bei den Filmfestspielen von Cannes. Dort wurde Guiraudie mit dem Regiepreis der Sektion Un certain regard und der Queer Palm ausgezeichnet. Sein nachfolgender Spielfilm „Haltung bewahren!“ (2016) lief im Wettbewerb von Cannes. Bei der Berlinale 2022 erröffnete „Viens je t’emmène“ die Panorama-Sektion. „Misercordia“ feierte wieder in Cannes Weltpremiere und wurde wie zuvor schon „Der Fremde am See“ von der Redaktion der Cahiers du Cinéma auf Platz 1 ihrer Jahres-Top-10 gesetzt.
Filmographie als Regisseur (Auswahl)
1990
„Les héros sont immortels“ (KF)
1994
„Tout droit jusqu’au matin“ (KF)
2001
„Der alte Traum lässt uns nicht los“
2003
„Wer schläft, der stirbt“
2009
„König der Fluchten“
2013
„Der Fremde am See“
2016
„Haltung bewahren!“
2022
„Viens je t’emmène“
2024
„Misericordia“
Regie & Buch
Alain Guiraudie
Künstlerische Leitung
Laurent Lunetta
Kamera
Claire Mathon
Schnitt
Jean-Christoph Hym
Szenenbild
Emmanuelle Duplay
Kostüme
Khadija Zeggaï
Maske
Michel Vautier
Casting
Laetitia Goffi & Julie Allione
Ton
Vasco Pedroso, Jordi Ribas, Jeanne Delplanco & Brank Nesco C.A.S
Musik
Marc Verdaguer
Produktionsleitung
Isabelle Tillou
Regieassistenz
François Labarthe
Koproduzent:innen
Romain Blondeau, Mélanie Biessy
Produzent
Charles Gillibert
Félix Kysyl
Jérémie
Catherine Frot
Martine
Jean-Baptiste Durand
Vincent
Jacques Develay
Pfarrer Grisolles
David Ayala
Walter
Sergie Richard
Jean-Pierre
Eine Koproduktion von CG Cinéma, Scala Films, Arte France Cinéma, Andergaun Films und Rosa Filmes
mit Unterstützung von Arte France, OCS, Les Films de Losange
in Zusammenarbeit mit Cinémage 18 und La Banque Postale Image 17, Cinécap 7, Cineaxe 5
mit Unterstützung von Centre national du cinéma et de l’image animée, Région Occitanie und Département de L‘Aveyron, ICEC – Institut Català de les Empreses Culturals, ICA – Instituto do Cinema e do Audiovisual
im Verleih von Salzgeber