ein Film von Noemi Schory
Israel/Deutschland 2021, 82 Minuten, deutsche Originalfassung
FSK 6
Kinostart: 4. November 2021
Der jüdische Unternehmer Salman Schocken gründet in Zwickau 1904 eine Kaufhauskette mit einer bahnbrechenden Geschäftsidee: Er will den Lebensstil der „kleinen Leute“ mit modernem Design revolutionieren – und verbindet modernes Management mit sozialen Leistungen für seine Angestellten. Erich Mendelsohn baut für ihn Gebäude in Nürnberg, Stuttgart und Chemnitz. Bald gehören 22 Kaufhäuser und 6.000 Mitarbeiter zu Schockens Imperium. Den wirtschaftlichen Erfolg nutzt Schocken, um einer humanistischen Vision zu folgen, die die Kultur in den Mittelpunkt der menschlichen Entwicklung stellt – und jüdischen Menschen eine kulturelle Heimat gibt. Als Autodidakt wird er zum profilierten Literaturkenner und Buchsammler. 1929 gründet er das „Schocken-Institut zur Erforschung der hebräischen Poesie“, 1931 in Berlin den Schocken Verlag, in dem u.a. das Werk Franz Kafkas erscheint. Als Mäzen fördert er zahlreiche jüdische Schriftsteller und Gelehrte. Die Nazis entreissen ihm erst seine Warenhäuser, dann den Verlag. Er entscheidet sich für Eretz Israel, das jüdische Palästina, und kauft die liberale Tageszeitung Haaretz, die heute von seinem Enkel Amos weitergeführt wird.
Unternehmer, Intellektueller, Büchermensch, Verleger, Mäzen, Ästhet – in ihrem Film „Schocken – Ein deutsches Leben“ spürt Noemi Schory dem Leben und Werk einer der visionärsten und kulturell engagiertesten Unternehmer-Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts nach. Exklusive Archivaufnahmen illustrieren eine historische Reise von Zwickau über Chemnitz, Crimmitschau und Berlin bis nach Jerusalem; Zeitzeugen und Schocken-Kenner berichten über die Bedeutung des Entrepreneurs für die jüdische Kulturgeschichte. Ein vielschichtiger Porträtfilm, der eine Brücke von frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart schlägt.
Der Pionier Salman Schocken
von Ralf Balke
Am Anfang war die Provinz. Viele legendäre Warenhausbesitzer-Dynastien haben ihre Wurzeln in wenig glamourösen Klein- und Mittelstädten wie Birnbaum an der Warthe oder dem schlesischen Landeshut. Und ihre Gründer waren oft jüdische Unternehmer wie Oscar Tietz, Heinrich Grünfeld, Georg Wertheim oder Nathan Israel. Ihre Namen kannte vor dem Ersten Weltkrieg jedes Kind. Aus kleinen Läden für Textilien schufen sie Warenhaus-Imperien, die durch ein riesiges Sortiment, spektakuläre Werbekonzepte und nicht zuletzt durch eine hochmoderne Verkaufsarchitektur den Einzelhandel in Deutschland revolutionieren sollten.
Einer der prominentesten unter ihnen war Salman Schocken, der 1877 als jüngstes von zehn Kindern in Margonin in der Provinz Posen geboren wurde. Aus einfachen Verhältnissen stammend – der Vater war Schneider, die Mutter Hausfrau – absolvierte er zuerst eine kaufmännische Lehre, um dann 1904 mit seinem Bruder Simon, der sich in die Familie der Warenhaus-Betreiber Ury eingeheiratet hatte, in Oelsnitz im Erzgebirge das erste Kaufhaus Schocken zu eröffnen. 1906 übernahmen sie das Geschäft der Urys in Zwickau. Bald schon folgten Gründungen in Nürnberg, Meißen oder Stuttgart. Der Firmenzentrale aber befand sich in der Industriestadt Zwickau. Nach dem Unfalltod seines Bruders wurde Salman Schocken 1929 alleiniger Firmenchef. Bis 1930 zählte das Unternehmen 22 Filialen. Damit war Schocken in kurzer Zeit zur viertgrößten Warenhauskette Deutschlands aufgestiegen. 1932 verzeichnete das Unternehmen einen Umsatz von 82,6 Millionen Reichsmark und machte rund 3,5 Millionen Reichsmark Gewinn.
Die Schocken-Kaufhäuser galten in jeder Hinsicht als Avantgarde. Zum einen, weil die Brüder alle neuen betriebswirtschaftlichen Entwicklungen stets auf dem Radar hatten und entsprechend Logistik, Einkauf und ihre Verwaltung immer weiter zu optimieren wussten. Firmeninterne Testlabors und Warenprüfsysteme – auch das damals ein Novum – sorgten mit dafür, dass das Unternehmen im Ruf stand, besonders hochwertige Produkte anzubieten, die sich jeder leisten konnte. Kurzum: Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmte einfach. Aus dieser Zeit stammt auch eine Anekdote über Salman Schocken: So flogen lange Männerunterhosen aus dem Sortiment, weil er diese als ästhetische Zumutung empfand. Die Verbreitung des guten Geschmacks, so seine Worte, betrachtete er ebenfalls als Aufgabe eines Geschäftsmannes.
Zum anderen setzte man schon früh auf eine moderne Architektur, weshalb die Schocken-Brüder nach 1923 den Architekten Erich Mendelsohn mit dem Bau ihrer Filialen in Nürnberg, Stuttgart und Chemnitz beauftragten. Mit ihm sollte Salman Schocken eine lebenslange Freundschaft verbinden. Anders als die Gebäude der Konkurrenz, die weiterhin den opulent verzierten Konsumpalästen den Vorzug gab, griffen die von Mendelsohn gestalteten Warenhäuser die Prinzipien der Neuen Sachlichkeit auf: Es dominierten Fensterbänder und Sichtklinkerfassaden sowie optimal belichtete und großzügige Verkaufsflächen, in denen die Produktpräsentation im Mittelpunkt stand. Auch der Auftritt nach Außen wurde perfektioniert. Ein einheitliches Erscheinungsbild in der Typographie und der Werbung gehörte ebenso zur Corporate Identity wie die visionäre Architektur, bei der neueste Techniken, zum Beispiel die Skelettbauweise aus Stahl und Beton, zum Einsatz kamen. All dies trug mit dazu bei, dass die Schocken-Kaufhäuser bald im Ruf standen, mehr als nur Orte des Konsums zu sein – sie entwickelten sich zu architektonischen Ikonen im urbanen Raum. Einige wenige davon überlebten den 2. Weltkrieg und existieren bis heute, zum Beispiel das Haus in Chemnitz. Andere dagegen, wie jenes in Stuttgart, fielen 1960 der Abrisswut in den Wirtschaftswunderjahren zum Opfer. 2018 wurden nach zahlreichen Umbauten auch die letzten Reste des Schocken-Hauses in Nürnberg, das spektakuläre Treppenhaus, dem Erdboden gleichgemacht.
Aber noch etwas unterschied die Schocken-Kaufhäuser von denen der Konkurrenz: Salman Schocken legte großen Wert auf die Einrichtung von Buchabteilungen. Das Sortiment sollte möglichst anspruchsvoll und dennoch erschwinglich sein. Seit 1920 gab es sogar eigene Bibliotheken für die Mitarbeiter. Der Grund für diese aus unternehmerischer Sicht vielleicht etwas unkonventionelle Entscheidungen: Seit frühester Jugend war Schocken selbst ein begeisterter Leser und Buchliebhaber. Seine eigene Bibliothek war nicht nur umfangreich, sondern enthielt zahlreiche kostbare Erstausgaben deutscher Klassiker. Ein weiteres Steckenpferd sollten die sehr wertvollen Judaika und Hebraika sein, die er ebenfalls leidenschaftlich sammelte.
Salman Schockens Bibliophilie steht in einem direkten Zusammenhang mit seinem Selbstverständnis als Jude. Zwar hatte er sich bereits als Jugendlicher so wie die meisten anderen assimilierten Juden im Kaiserreich von den religiösen Traditionen gelöst. Doch zugleich begann er, sich intellektuell mit den Problemen einer jüdischen Existenz in Deutschland auseinanderzusetzen. Daher rührte auch sein Engagement für den Zionismus, was für Vertreter des jüdischen Bürgertums seiner Zeit eher ungewöhnlich war. Ferner beschäftigte sich Schocken intensiv mit den Quellen des Judentums. Für ihn waren die traditionellen Texte ebenso wie die Werke zeitgenössischer jüdischer Autorinnen und Autoren so etwas wie der Schlüssel zu einer erneuten Annäherung an das Judentum.
„Es wird eine Publikationsgesellschaft gegründet werden müssen, deren Aufgabe es sein wird, die jüdische wissenschaftliche Arbeit anzuregen und zu bezahlen“, forderte er bereits 1917 in einem Beitrag für die „Jüdische Rundschau“. 1931 setzte er seine Forderung mit der Gründung des Schocken-Verlags um. Schon vorher förderte er zahlreiche Schriftsteller wie den späteren israelischen Literaturnobelpreisträger Samuel Joseph Agnon, mit dem er bereits seit 1916 in engem Austausch stand. Im selben Jahr übernahm Schocken auch die von dem Religionsphilosophen Martin Buber gegründete Zeitschrift „Der Jude“. Mit an Bord beim Schocken-Verlag war dann auch der nichtjüdische Verleger Lambert Schneider, der bereits die Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig herausgegeben hatte. Gemeinsam kaufte man Judaika von Personen, die aufgrund der Weltwirtschaftskrise und später durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Schwierigkeiten geraten waren, erwarb die Rechte am Gesamtwerk von Franz Kafka und übernahm 1934 die Publikationen der renommierten Akademie für die Wissenschaft des Judentums.
Das Programm des Schocken-Verlags war äußerst ambitioniert. Ähnlich wie bei seinen Warenhäusern legte Salman Schocken auch hier allerhöchsten Wert auf das Erscheinungsbild. Die Bücher waren nicht nur bibliophil gestaltet. Vor allem sollten sie den Juden in Deutschland nach der Verdrängung aus dem Kulturleben durch die Nationalsozialisten eine Art geistig-moralische Orientierung geben. Dafür stand insbesondere die nach 1933 aufgelegte Schocken-Bücherei mit ihren mehr als 80 Titeln zu religionsphilosophischen oder historischen Themen sowie reichlich Belletristik.
Auf Druck des Regimes musste der Verlag nach den Novemberpogromen von 1938 endgültig seine Arbeit einstellen. Zu diesem Zeitpunkt lebte Salman Schocken bereits seit fünf Jahren in Palästina, wo er ebenfalls einen Verlag unter seinem Namen aufbaute. Dieser übernahm 1937 sogar die Tageszeitung Haaretz und machte das liberale Blatt zu einem Leitmedium der späteren israelischen Presselandschaft. Sohn Gustav, der sich nach der Auswanderung nach Palästina Gershom nannte, wurde 1939 ihr Herausgeber und blieb es bis zu seinem Tod. 1990 ging der Stab dann weiter an Salman Schockens Enkel Amos. Und Salman Schockens Enkelin Racheli Edelman leitet seit 1972 den von Salman Schocken gegründeten Buchverlag in Israel.
Das erste Buch, das Salman Schocken in seinem Verlag aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzen ließ und veröffentlichte, war Goethes „Faust“. Seine Vision war es, das Beste aus der Weltliteratur in die neualte Sprache zu übertragen. Aber auch architektonisch wollte er in Palästina Zeichen setzen: Erich Mendelsohn erhielt von ihm den Auftrag zum Bau einer Villa in Jerusalem sowie für eine Bibliothek, die seine bedeutende Judaika-Sammlung mit 60.000 Bänden sowie 15.000 deutsche Bücher beherbergen sollte. Auch hier kam das Formenvokabular der Neuen Sachlichkeit zum Einsatz, wurde aber an die klimatischen Verhältnisse angepasst. Dabei sollte die jahrelange Freundschaft der beiden auf eine harte Probe gestellt werden: Vor allem Salman Schockens Ehefrau Lili wollte eine familientaugliche, gemütliche Villa wie die in Berlin Zehlendorf, wo man bis 1933 wohnte, Mendelsohn dagegen einen bis ins kleinste Detail der Moderne verpflichteten Bau im Internationalen Stil. Haus und Bibliothek entwickelten sich dennoch zu einem wichtigen Platz für den intellektuellen Austausch. Und neben Schockens Tätigkeit als Verlagsleiter kam eine weitere hinzu: Bereits 1934 wurde er vom Kuratorium der Hebräischen Universität zum Schatzmeister bestimmt, übrigens ohne ihn zuvor zu fragen. Man wollte unbedingt sein Know-how in finanziellen Angelegenheiten.
1940 reiste Schocken auch zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten, um dort weitere Gelder für die stets klamme Hochschule zu mobilisieren. Wenige Monate später fuhr er ein zweites Mal dorthin, kehrte aber erst Oktober 1945 nach Jerusalem zurück, und zwar nur auf Besuch. Seine neue und zugleich letzte Lebensstation sollte New York sein, wo er noch im selben Jahr den Verlag Schocken Books gründete, der heute zu Random House gehört. Auch hier wollte er das jüdische Buch, darunter die Werke Franz Kafkas, einem breiten Publikum zugänglich machen. Zugleich bemühte er sich um die Restitution seines Besitzes in Deutschland. Denn 1938 war der gesamte Schocken-Konzern weit unter Wert verkauft worden, der Name Schocken selbst verschwand und wurde durch Merkur ersetzt. Zudem waren einige Warenhäuser durch Kriegseinwirkungen zerstört oder, wie in der sowjetisch-besetzten Zone, enteignet worden. 1949 erhielt Schocken 51 Prozent der Merkur-Anteile erstattet, aber nur jene, die sich in der amerikanischen Besatzungszone befanden. Einige Objekte, wie das allererste Kaufhaus in Oelsnitz, wurden der Familie erst nach der deutschen Wiedervereinigung übertragen.
Weggefährten aus dieser Zeit wie Kurt Blumenfeld, ein Protagonist des Zionismus in Deutschland, beschreiben Salman Schocken als einen Menschen, mit dem der Umgang nicht immer ganz einfach war. Mit der Hebräischen Universität kam es zum offenen Streit. Zudem litt Schocken darunter, in den USA weniger Einfluss und Anerkennung zu erfahren als in Deutschland oder Palästina. Anfang der 1950er Jahre trennte er sich von seiner Frau Lili. 1959 starb er an den Folgen einer Herzattacke im Schweizerischen Kurort Prontesina, beerdigt wurde er aber in Jerusalem.
Weitere Informationen sowie zahlreiche Bilder zum Leben und Werk Salman Schockens lassen sich auf der hervorragenden Seite der Schocken Foundation finden.
NOEMI SCHORY (Regie & Buch) arbeitet seit 1988 als unabhängige Produzentin mit einem Fokus auf Dokumentarfilm. In ihrer Filmografie finden sich auch zahlreiche internationale Koproduktionen. Zu den ca. 80 Dokumentarfilmen, die sie produziert hat, gehören „A Film Unfinished“ (deutscher Titel: „Geheimsache Ghettofilm“, Regie: Yael Hersonski), „Pinhas‘ Dream“ und „The Settlers“ (Regie: Ruth Valk) sowie „The Inner Tour“ (Regie: Raanan Alexandrowicz). Selbst Regie hat Schory u.a. bei „Haute Cuisine goes Kosher“, „The State of Israel vs. John Ivan Demjanjuk“, „Transport 222“, „Born in Berlin“, 35 Kurzfilme für das New Historic Museum Yad Vashem und 12 Kurzfilme für die Dauerausstellung im Block 27 im Museum Auschwitz-Birkenau. Schory war Mentorin bei verschiedenen Dokumentarfilm-Labs in Goa, Sarajewo, Tiflis, Budapest und Turin. Sie war Mitglied in mehreren Festival-Jurys, u.a. beim Fernsehspiel Jury Baden Baden 2011, beim IFF Haifa (2018), beim Docaviv (2015) und beim Jerusalem Film Festival (2014). Acht Jahre lang war sie zudem Leiterin des Film Departments der Arts Faculty auf dem Beit Berl College.
Regie & Buch
Noemi Schory
Kamera
Uriel Sinai, Itay Vinograd
Schnitt
Michal Oppenheim
Künstlerische Gestaltung
Ada Wardi, Noa Segal
Animation
Yoav Brill
Originalmusik
Boaz Schory
Colorist
Steve Sebban
Sound Design
Itzik Cohen
Mischung
Rei Elbaz
Originalton
Tully Chen, Roman Höfgen
Herstellungsleitung
Amikam Goldman, Susanne Heinz
Produktionsleitung Deutschland
Katharina Weser
Produzent
Liran Atzmor
Koproduzent*innen
Gerd Haag, Ruth Ersfeld
Redaktion
Dagmar Mielke, Rolf Bergmann (RBB)
Kommentar gesprochen von
Anne Kasprik
Weitere Sprecher
Raimund Krone, Irmelin Krause, Tino Kiessling, Peter Thompsen
eine Produktion von Atzmor Productions und TAG/TRAUM Filmproduktion
in Koproduktion mit RBB Rundfunk Berlin-Brandenburg und Kan 11
gefördert von Medienboard Berlin-Brandenburg, Film- und Medienstiftung NRW, Schocken Foundation, Makor Foundation
im Verleih von Salzgeber