ein Film von Derek Jarman
UK 1986, 93 Minuten, englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln
FSK 12
Derek Jarmans Klassiker des europäischen Kinos ist die Verfilmung des wilden Lebens des Renaissance-Malers Caravaggio (Nigel Terry). Berühmt als Schöpfer düsterer und erotischer Werke, die seinen reichen und mächtigen Auftraggebern und Gönnern nicht selten unheimlich waren – beargwöhnt wegen seines Umgangs mit Strichern und Tagelöhnern. Er lebt in einer Dreierbeziehung mit dem schönen Dieb Ranucchio (Sean Bean) und dessen Frau, der Prostituierten Lena (Tilda Swinton), zusammen, die auch für seine berühmtesten Bilder Modell stehen. Die Menage-à-trois endet mit dem tragischen Tod Lenas und Caravaggio muss sein restliches Leben auf der Flucht verbringen.
Derek Jarman (1942-1994) verfilmt kongenial das Leben des Malers und überträgt dessen Bildsprache in ein aufregendes Filmporträt, das mittlerweile zu den großen Klassikern des europäischen Kinos gehört. „Caravaggio“, 1986 auf der Berlinale uraufgeführt und preisgekrönt, ist bis heute ein Meilenstein der schwulen Filmgeschichte und einer der wenigen wirklich adäquaten Filme über Kunst und Malerei.
Der Maler Michelangelo Merisi (Nigel Terry), geboren 1571 in Caravaggio in der Nähe von Mailand, liegt im Sterben. Er befindet sich in einem armseligen Raum im toskanischen Porto Ercole, die einzige Hilfe bekommt er von seinem stummen Gefährten Jerusaleme. Gerade erst ist er vierzig geworden; sein Gesicht ist unrasiert, von Narben und den Spuren eines wilden Lebens übersäht. Er ist seit Jahren auf der Flucht und liegt jetzt fernab seiner Heimat im Sterben. Ein jämmerlicher Tod für einen Künstler seiner Bedeutung. In Fieberträumen und erotischen Fantasien vermischen sich Episoden seines aufregenden Lebens mit den Visionen seines nahenden Todes.
Nachdem er als Junge bei einem Maler in die Lehre gegangen ist, zieht es den jungen Michele Caravaggio (Dexter Fletcher) nach Rom, wo er seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht damit verdient, eigene Bilder auf der Straße zu verkaufen. Obwohl er fast verhungert, portraitiert er sich selbst als Bacchus. Im Krankenhaus erhält er Besuch vom Kardinal Del Monte (Michael Gough), einem Kunstliebhaber, der Gefallen an seinen Werken gefunden hat. Caravaggio arbeitet daraufhin für den Kardinal und erhält als Gegenleistung ein Zimmer und ein Atelier in dessen Palast. Unter Del Montes Patronat kann er etwas Schulbildung nachholen und erhält als Künstler einen ersten öffentlichen Auftrag für die Kirche San Luigi dei Francesi in Rom: Er soll Die Berufung des Heiligen Matthäus und das Martyrium der Heiligen Processus und Martinianus malen.
Es fehlt ihm die rechte Inspiration für diesen Auftrag. Er betrinkt sich in einem Wirtshaus und entdeckt dort den jungen Spieler und Tagelöhner Ranuccio Thomasonio (Sean Bean). Caravaggio macht aus dem schönen und ungebildeten Ranuccio ein Modell für den gemarterten Heiligen. Ranuccio wiederum genießt die Aufmerksamkeit und das Geld des Künstlers, der eine ganze Gruppe mittelloser ‚Modelle’ in seinem Palast wohnen lässt. Das Auftragswerk nimmt Formen an und die Atelieratmosphäre erotisiert sich, zumal Caravaggio auch Ranuccios Frau, die schöne Prostituierte Lena (Tilda Swinton) malt. Aus einer Wette und dem erotischen Spiel wird Ernst und ein mit Messern ausgetragener Kampf zwischen Caravaggio und Ranuccio endet mit einer Verletzung Caravaggios. Die entstehende Dreiecksbeziehung zwischen Lena und den beiden Männern vertieft sich dadurch umso mehr.
Der Marquese Vincenzo Giustiniani (Nigel Davenport), ein einflussreicher Bankier, der Caravaggio vor dem Aufschrei der Offiziellen schützt, die sich von den Gemälden schockiert zeigen, indem er sie kurzerhand selbst kauft, wählt Caravaggio dazu aus, den Triumphierenden Eros (Amor als Sieger) zu malen. Caravaggio lädt aus diesem Anlass sowohl Ranuccio als auch Lena zu einer von Giustinianis beliebten freizügigen Gesellschaften ein. Lena wird inmitten des dekadenten Trubels dem beeindruckten Kardinal Scipione Borghese (Robbie Coltrane) vorgestellt, der ein Neffe des Papstes und einer der mächtigsten politischen Figuren Roms ist. Am Rand der Gesellschaft verbreitet Baglione (Jonathon Hyde), ein rivalisierender Maler, Gerüchte über Caravaggios angebliche moralische Verdorbenheit.
Eine Tragödie zeichnet sich ab, als Caravaggio Lena zum Modell seiner Maria-Magdalena-Darstellung macht. Sie nutzt das Portrait, um Borghese zu verführen. Als sie schwanger wird, lässt sie offen, von wem das Kind ist. Sie verlässt Ranuccio und Caravaggio, weil sie sich in der Dreierbeziehung überflüssig fühlt und zieht zu Borghese. Wenig später findet man ihre Leiche im Tiber. Ranuccio, der verhaftet und des Mordes angeklagt wird, beteuert seine Unschuld und macht Borghese für die Tat verantwortlich. Caravaggio glaubt ihm, verbreitet das Gerücht, übergibt dem Papst (dem Onkel Borgheses) eine Petition und erwirkt schließlich, indem er ein Gemälde für den Papst anfertigt, Ranuccios Freilassung. Das Bild ist ein Porträt der toten Lena, mit dem sich Caravaggio wie besessen beschäftigt und das er schließlich „Der Tod Mariens“ nennt.
Als der freigelassene Ranuccio beim betrunkenen Maler auftaucht, enthüllt er ihm seine Schuld am Tod Lenas – er hat sie geopfert, um mit ihm allein zu sein. Bestürzt über diese Nachricht tötet Caravaggio seinen Liebhaber und er begibt sich gemeinsam mit seinem treuen Begleiter Jerusaleme, den er als Kind einer armen Familie abgekauft hat, auf die Flucht, die nach vier Jahren in Porto Ercole endet.
Michelangelo Merisi da Caravaggio, als Sohn eines Maurers 1571 geboren, wird heute als letzter großer Maler der Italienischen Renaissance bezeichnet. Er wurde von dem noch minderjährigen Mailänder Maler Peterzano unterrichtet, bevor er mit 19 Jahren nach Rom ging. Dort arbeitete er als Assistent des Künstlers Cavaliere Cesare d’Arpino. Sein erster Förder wurde der Kardinal Del Monte, der bei ihm Genrebilder wie den „Lautenspieler“ bestellte und ihm später zu wichtigen öffentlichen, von der katholischen Kirche ausgeschriebenen Aufträgen verhalf.
Als Pionier eines Stils, der als clair-obscur bekannt geworden ist und sich durch eine charakteristische theatralische Lichtgestaltung auszeichnet, beeinflusste er so unterschiedliche Maler wie Rubens, Rembrandt und Velasquez.
1606 tötete er einen Freund in einer Messerstecherei und floh daraufhin zunächst nach Neapel, dann nach Malta. Nachdem er sich schließlich in Neapel niedergelassen hatte, erwirkten einflussreiche Freunde Amnestie für seine Tat und bereiteten seine Rückkehr nach Rom vor. Das Boot fuhr jedoch ohne ihn ab, da er aufgrund einer Verwechslung mit einem Raubtäter vorher verhaftet wurde. Mittellos und verzweifelt versuchte er, seine Habseligkeiten wiederzubekommen, die allerdings zwischenzeitlich nach Neapel transportiert worden waren. Nach einem Zusammenbruch starb Caravaggio im Alter von nur 40 Jahren an Fieber, vom Hunger und der Hitze ausgelöst.
In mancher Hinsicht geht es in Jarmans „Caravaggio“ genauso um den Künstler Derek Jarman wie um den Maler des siebzehnten Jahrhunderts. Beide haben zu Lebzeiten mit ihrem künstlerischen Werk sowohl großen Einfluss ausgeübt als auch für Aufregung gesorgt. Nicht wenige Zeitgenossen nahmen an der kontroversen Ausstrahlung ihrer Werke wie auch an der ständigen Provokation der moralischen Sitten der Entstehungszeit Anstoß.
In der Zusammenarbeit mit dem befreundeten Kunsthändler Nicholas Ward-Jackson, dessen Idee das Filmprojekt ursprünglich war, begann Jarman immer mehr, sein eigenes Leben mit der Figur des Renaissancemalers zu verzahnen. Außerdem entwickelte sich in dieser Zeit Jarmans eigentliches Interesse für das Filmemachen, und sowohl das wilde Leben als auch der revolutionäre Gebrauch der hellen und dunklen Farben machten aus Caravaggios Stil und Person eine interessante Film-Vorlage. In der Tat kann der Maler als eigentlicher Erfinder der filmischen Beleuchtung angesehen werden. Es war das erste Mal, dass die Helligkeit von Farben eine dramatische Funktion erhielt – heute ist das eine der Fähigkeiten, durch die sich im Wesentlichen Kameramänner und –frauen auszeichnen.
Von der Gesellschaft, in der er lebte, marginalisiert, gewann die Geschichte des Künstlers, der erst im Laufe der letzten zwanzig bis dreißig Jahre „rehabilitiert“ wurde (durch die Möglichkeit, heutzutage offen über seine offensichtliche Homosexualität sprechen zu können), für Jarman eine immer größere Bedeutung. Allein auf der Grundlage einer Analyse seiner Gemälde würden heute die meisten Kritiker und Kunsthistoriker übereinstimmen, dass Caravaggios Homosexualität und das sie damals begleitende Bewusstsein von Schuld und Isolation für sein Leben und Werk eine zentrale Bedeutung hatte. Seine Biographie weist mehr Parallelen zu Genet oder Pasolini auf als etwa zu Cellini, dem Abenteurer unter den Renaissancemalern.
Caravaggio war ein Künstler der Unterwelt. Wo sich in der Entwicklung seines Werks ein immer tiefergehendes religiöses Bewusstsein widerspiegelt, war sein Privatleben geprägt von Schlägereien, Duellen, Verhaftungen und einem Verleumdungsfall, der 1606 in einem Mord gipfelte. Dieser Zwiespalt spiegelte sich auch in seiner künstlerischen Arbeit wider, in der er Prostituierte, Zuhältern und Straßenjungs als Modelle engagierte, um mit ihnen religiöse Szenen darzustellen. Mehrere von der Kirche in Auftrag gegebene Altarbilder wurden als unschicklich wahrgenommen und abgewiesen. Zu einer Zeit, in der man religiöse Darstellungen möglichst idealisiert und abstrahiert sehen wollte, war Caravaggios „dynamischer Realismus“ skandalös, obwohl gerade die mächtigsten Gönner seiner Zeit sich diese Bilder gierig unter den Nagel rissen. Einmal in ihrer Welt akzeptiert, erfuhr er Schutz und Unterstützung durch die einflussreichsten Personen der italienischen Gesellschaft, selbst als er eines Mordes für schuldig befunden wurde.
„Ein Film über einen Homosexuellen, einen Künstler, über einen Mörder, nicht über ein Opfer. Ein eher unangenehmer Mensch.“
(Derek Jarman)
„Caravaggio“ entstand in verlassenen Lagerhäusern entlang der Themse in London mit einem $ 715.000-Budget vom britischen Filminstitut. Aus seinen eher spärlichen Möglichkeiten entwickelte Jarman ein wegweisendes Konzept. Bewusst versuchte er keine illusionistische Nachbildung des 17. Jahrhunderts, sondern macht die Kulissen als solche deutlich, um den Realitätsanspruch von der Ausstattung auf das Thema zu verlagern. Die größte Sorgfalt ließ er dabei, streng in der Tradition Caravaggios, dem Licht zukommen, das die künstlichen Arrangements immer wieder verdichtet und lebendig macht. Der V-Effekt der sichtbaren Kulissenhaftigkeit wird verstärkt durch Details aus der Entstehungszeit des Films: elektrische Barbeleuchtung, ein Taschenrechner, Zuggeräusche und eine Schreibmaschine machen deutlich, dass die Perspektive auf die Figuren einem heutigen Interesse an ihnen entspringt. Auch darin konnte sich Jarman auf Caravaggio berufen: dessen biblische Figuren verpasste der Maler die Kleidung des 17. Jahrhunderts.
Als Lars von Trier in seiner ‚„Amerika-Trilogie“ (beginnend mit „Dogville“ [2003]) Geschichten aus einem Amerika der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts erzählte, die er in einer Lagerhalle mit nur wenigen oder auf den Boden gezeichneten Requisiten inszenierte, haben nur wenige Filmkritiker darauf hingewiesen, dass das Konzept dieser anti-illusionistischen Filmarbeit von Derek Jarman stammt, der es in „Edward II“ (1991) und „Wittgenstein“ (1992) schon konsequent weiterentwickelt hatte.
DEREK JARMAN (Regie), wahrscheinlich Großbritanniens visionärster Filmemacher seit Michael Powell, hat sich im Laufe seiner Karriere mehrfach neu erfunden. Ob in seinen intimen, scheu-subversiven Kostümdramen oder in seinen experimentellen Kinogedichten: Jarmans Werk war immer ein Gegen-Entwurf zur englischen Tradition der Meisterwerkverfilmungen und, von einem der wichtigsten schwulen Filmemacher seiner Zeit, eine Inspiration für seine Generation.
1942 geboren, studierte Jarman Malerei an der Slade School in London. Sein Interesse an Kostüm- und Bühnenbilddesign brachte ihn zunächst zum Royal Ballet, danach zum Coliseum, wo er 1968 an einer Don-Giovanni-Inszenierung beteiligt war. Seine erste Filmarbeit wurde das Produktionsdesign von Ken Russells „The Devils“ (1970).
Derek Jarmans erster eigener Film „Sebastiane“ konnte 1975 fertiggestellt werden, sein nächster, „Jubilee“, wurde 1977 auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes gezeigt. Darauf folgte „The Tempest“, eine eigenwillige Adaption von Shakespeares „Der Sturm“, der 1979 auf der Berlinale lief. Anfang der 80er drehte Jarman mehrere Kurzfilme, u.a. ein Musikvideo für Marianne Faithful. 1984 veranstaltete das Londoner Institute of Contemporary Arts eine Retrospektive mit Jarmans Bildern, im gleichen Jahr entstand der durch eine Reise in die Sowjetunion angeregte Kurzfilm „Imagining October“. Außerdem stellte er Entwürfe für ein Ballett von Micha Bergese fertig und veröffentlichte sein erstes Buch, das autobiografische „Dancing Ledge“.
1986 feierte „Caravaggio“ auf der Berlinale seine Uraufführung und gewinnt einen Silbernen Bären für seine künstlerische Gestaltung. Die Vorbereitung und Realisierung dieses Projekts kostete Jarman sieben Jahre, brachte ihm aber auch erstmals internationale Beachtung, vor allem in den USA, wo er danach als wichtigster innovativer Filmemacher gehandelt wurde. Im gleichen Jahr erfuhr Jarman von seiner HIV-Infektion. Auf den berüchtigten Clause 28 der Thatcher-Regierung (Verbot der Förderung von Homosexualität in öffentlichen Kontexten) reagierte er mit einer gesteigerten Behandlung des Themas in seinen Filmen. Im folgenden Jahr entstand „The Last Of England“ (gleichzeitig als Buch und als Film). Der Film gewann den L.A. Critics Award. 1988 inszenierte Jarman „War Requiem“ nach dem Werk Bejamin Brittens; der Film enthält den letzten Leinwandauftritt von Laurence Olivier.
1989 entwarf Jarman die Bühnenshow der Pet Shop Boys-Tour. Es folgte die Produktion von „The Garden“, die auch Thema seiner gesammelten Tagebücher ist, die unter dem Titel „Modern Nature“ im selben Jahr veröffentlicht wurden und auch verstärkt Jarmans Kampf gegen die Auswirkungen seiner Infektion behandelten. Sein filmisches Werk wurde davon allerdings wenig beeinträchtigt: in den nächsten drei Jahren schaffte er es, in einem einzigartigen Energieausbruch drei Filme fertig zu stellen: „Edward II“ (1991), „Wittgenstein“ (1992) und „Blue“ (1993). Der letzte entstand trotz einer fortschreitenden Aids-bedingten Erblindung als eine Art ‚Hörfilm’ – die Leinwand bleibt 70 Minuten lang einfach blau. Bei der Uraufführung während des New York Film Festivals im November 1993 erhielt Jarman eine minutenlange stehende Ovation.
Am 19. Februar 1994 starb Derek Jarman an den Folgen von Aids.
Regie
Derek Jarman
Kamera
Gabriel Beristain
Produktionsdesign
Christopher Hobbs
Montage
George Akers
Kostümdesign
Sandy Powell
Musik
Simon Fisher-Turner
Produzentin
Sarah Radclyffe
Caravaggio
Nigel Terry
Ranuccio
Sean Bean
Lena
Tilda Swinton
Jerusaleme
Spencer Leigh
eine Produktion von British Film Institute Production
mit Channel 4 Television Corporation
im Verleih von Salzgeber