Orlando, meine politische Biografie
ORLANDO, MEINE POLITISCHE BIOGRAFIE
Orlando, meine politische Biografie
Als DVD

Orlando, meine politische Biografie

ein Film von Paul B. Preciado

Frankreich 2023, 98 Minuten, französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

FSK 12

Kinostart: 14. September 2023

Zur Filmbesprechung in der Sissy

Zur DVD im Salzgeber.Shop

Orlando, meine politische Biografie

In „Orlando“ (1928) erzählt Virginia Woolf die Geschichte eines jungen Mannes, der am Ende eine Frau ist. Knapp 100 Jahre nach dem Erscheinen des Romans, der heute als queerer Schlüsseltext gilt, schreibt Philosoph und trans Aktivist Paul B. Preciado einen filmischen Brief an Woolf und ruft ihr zu: Deine Figur ist wahr geworden, die Welt ist heute voller Orlandos! In seinem Film zeichnet er seine eigene Verwandlung nach und lässt 25 andere trans und nicht-binäre Menschen im Alter zwischen 8 und 70 Jahren zu Wort kommen. Sie alle schlüpfen in die Rolle Orlandos.

„Woolfs fiktionale Figur hat es mir erlaubt, mir mein eigenes Leben vorzustellen, Veränderung zu begehren und zum Ausdruck zu bringen“, sagt Preciado. Sein Film ist deswegen auch eine „politische Biografie“, geschrieben entlang der eigenen und der kollektiven Geschichte aller anderen Orlandos – eine Geschichte, die noch immer eine des Kampfs für Anerkennung und Sichtbarkeit innerhalb eines heteronormativen Regimes ist. Transsein versteht Preciado dabei als eine poetische Reise, in der eine neue Sprache erfunden wird, mit der man sich selbst und die Welt bezeichnen kann. Die Vorstellung von einer Welt, die im stetigen Wandel ist, gewinnt so ihre Form.

Für seinen widerständigen, intimen, poetischen, durch und durch queeren Film wurde Preciado auf der Berlinale gefeiert und mit dem Spezialpreis der Encounters-Jury (ex aequo), dem Teddy für den Besten Dokumentarfilm und dem Preis der Tagesspiegel-Leserjury ausgezeichnet.

Orlando, meine politische Biografie
ORLANDO, MEINE POLITISCHE BIOGRAFIE

Trailer

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Interview
Im Gespräch mit Paul B. Preciado

Wann haben Sie „Orlando“ von Virginia Woolf zum ersten Mal gelesen, und wann entstand der Wunsch, das Buch zu verfilmen oder es vielmehr als Ausgangspunkt für eine mögliche Biographie zu nehmen?

Ich habe Woolfs Buch als Teenager in Spanien gelesen. Es war das erste Mal, dass ich davon hörte oder las, dass eine Hauptfigur in der Mitte der Geschichte ihr Geschlecht ändert. Es war ein Schock. Dennoch kam mir nicht sofort der Gedanke, trans zu werden. Die Existenz von trans Personen war Mitte der 80er-Jahre selbst im politischen Diskurs noch nicht angekommen. Und doch hat die Geschichte wahrscheinlich diese Verwandlung, zumindest in meiner Vorstellung, möglich gemacht. Deshalb ist das Buch so wichtig für mich: Meine Zukunft wurde zu einer Möglichkeit, nicht in der Realität, sondern in der Fiktion und durch die Fiktion.

Orlando, dieses „Gründungsnarrativ“, wie Sie es nennen, begleitet Sie also schon seit Ihrer Jugend?

Nein, so lange noch nicht. Ich habe das Buch danach jahrelang nicht in die Hand genommen. Erst mit Sally Potters Verfilmung wurde es mir wieder gegenwärtig. Wobei Sally Potters Film für trans und nicht-binäre Personen wie mich eine Enttäuschung war. Er ist sehr stark im Transvestitismus verankert, in einer binären Vorstellung, und in einer schwulen Ästhetik, die faszinierend ist, wenn man sich für das London der 80er- und 90er-Jahre interessiert. Doch paradoxerweise hat sie dazu beigetragen, die trans und nicht-binäre Kultur unsichtbar zu machen. Ich liebe Tilda Swinton, aber leider gelang es ihr nicht, Orlando zu spielen, ohne dabei die Gendertransition auszuradieren. Potters Film hat mich also eher von dem Buch entfernt.
Vielleicht wurde es auch wieder bedeutsam für mich, als mir klar wurde, wie stark es von den traditionellen Narrativen abweicht. Damit meine ich jene Erzählungen, die bezüglich der Konstruktion von Transsexualität als Krankheit im 20. Jahrhundert quasi das literarische Rückgrat bilden: die trans Person als asoziale oder kriminelle Figur oder als eine Gefahr für die „natürliche Weiblichkeit“. Aber 1928, zu einer Zeit nämlich, als diese stark pathologisierenden, medizinischen und medialen Narrative über Geschlechtswechsel allmählich Gestalt annahmen, scherte Virginia Woolf aus und regte eine poetische, beinahe metaphysische Version der Gendertransition an.

„Orlando“ reicht über die gesellschaftliche Fantasie hinaus…

Ja. Hitchcocks Film „Psycho“, einer der ersten Mainstream-Hits der Filmgeschichte, war in seiner angsterzeugenden Darstellung einer trans Person gewissermaßen wegweisend, denn hier tritt eine trans Person als psychisch kranker Serienkiller in Erscheinung. Fast könnte man darüber lachen, würde diese Fantasie nicht im Diskurs des Anti-Trans-Feminismus, wo es notwendig ist, sich gegen Männer in Kleidern, die Frauen auf Toiletten attackieren, zu verteidigen, fortbestehen. Wann ist so etwas in der Geschichte jemals vorgekommen, außer in Horrorfilmen? Von „Psycho“ über Brian de Palmas „Dressed to Kill“ oder „Das Schweigen der Lämmer“ bis hin zu Julia Ducournaus „Titane“, der 2021 die Goldene Palme in Cannes gewann, ist diese nekropolitische Repräsentation von trans Menschen, trotz zunehmender Sichtbarkeit und rechtlicher Anerkennung, bis heute in der Filmkunst vorherrschend. Es ist oft die Rede von der Hegemonie des „männlichen Blicks“, aber wir sollten auch über den in der Filmgeschichte weitverbreiteten „binären Blick“ sprechen.

Wann kam Ihnen, als Philosoph, die Idee, „Orlando“ neu zu bearbeiten, und noch dazu als Film?

Mit den Jahren wurde „Orlando“ zu einer Art Talisman für mich, was dazu führte, dass ich das Buch auf viele meiner Reisen mitnahm. Und selbst wenn ich es nicht dabeihatte, wenn ich zu viel unterwegs war, kam es vor, dass ich im Hotel ankam und entdeckte, dass das Buch dort auf dem Tisch auslag oder Gästen in der Hotelbibliothek zur Verfügung stand. Als würde es schon auf mich warten. Ich begann allmählich, „Orlando“ als Kontra-Trans-Geschichte oder dissidente Heterotopie zu lesen, in der es möglich war, sich vorzustellen, dem Regime der sexuellen Unterschiede zu entfliehen. Doch bis daraus allerdings ein Film wurde… Den Anstoß dazu gab ARTE, dort arbeitete man gerade an einer queeren Programmgestaltung. Nach ausgiebigen Gesprächen kam der Wunsch auf, einen Film über mich zu machen. Mein erster Gedanke war: „Das muss ich sofort klären!“ Ich ging also zu ihnen, um ihren in gutgemeinter Absicht gemachten Vorschlag höflich abzulehnen. Nach weiteren ausgiebigen Gesprächen schlug ich eine Alternative vor: Macht doch einen Film über Monique Witting, das ist weitaus dringlicher! Oder über das Commando Saucisson aus den 1970ern oder die Gazolines (Teil der Front Homosexuel d’Action Révolutionnaire, einer 1970 gegründeten autonomen Bewegung in Paris, die aus dem Zusammenschluss lesbischer Feministinnen und schwuler Aktivisten entstanden war) aus derselben Epoche! Es folgte Stille: Damit konnten sie nichts anfangen, die Namen sagten ihnen nichts. In einem letzten verzweifelten Versuch schlug ich ihnen vor: Wenn ihr einen Film über meine Gendertransition machen wollt, dann macht einen Film über Virginia Woolfs „Orlando“.

Das erklärt den Eingangssatz Ihres Films: „Meine Biografie existiert, sie wurde von der verfluchten Virginia Woolf geschrieben, im Jahr 1928 …“?

Zumindest darauf konnte sich der Sender einlassen. Jeder kannte das Werk und mochte die Idee eines wechselseitigen Dialogs zwischen mir und Virginia Woolf. „Was wäre, wenn Virginia Woolfs Orlando heute noch leben würde? Was, wenn ich es wäre? Und wie wäre es, wenn es neben mir noch weitere gäbe? Wenn wir uns nach anderen, heutigen Orlandos umschauen und so die Lücke zwischen dem literarischen Orlando und mir schließen würden?“ Irgendwann hieß es dann: „Wenn jemand bei diesem Film Regie führt, dann du.“ Ich hatte keine Ahnung, wie man als Regisseur einen Film macht, aber die Gelegenheit, als Philosoph einen Film zu machen, fand ich sofort spannend: einen Film über meine Transition mit Hilfe eines Buchs, das 1928 geschrieben wurde und dessen Handlung sich über 500 Jahre erstreckt. Das war mal eine verrückte Idee – eine philosophische Idee.

Von den Umständen mal abgesehen, wollten Sie überhaupt jemals Filme machen?

Ich habe zehn Jahre lang mit einer Vielzahl von Künstler:innen zusammengearbeitet, mit Leuten, die mir sehr am Herzen liegen: Virginie Despentes, Shu Lea Cheang, Dominique Gonzalez-Foester, Banu Cenetoglou, Roee Rosen, PostOp, Annie Sprinkle und Beth Stephens… Ich habe gesehen, wie sie Filme machen. Ich habe manchmal Exposés für sie geschrieben, die Drehbüchern glichen, darunter ein Projekt über die Fettleibigkeit des Marquis de Sade oder die Beziehung zwischen der Philosophie der Freiheit und BDSM im Werk Michel Foucaults für Shu Lea Cheang anlässlich der Biennale in Venedig 2019. Ebenso hat mich die Arbeit mit Liz Rosenfeld, die de Sade gespielt hat, oder mit Felix Marituad, den wir als Foucault besetzt hatten, fasziniert. Ich hatte viele Gespräche mit Dominique Gonzalez-Foester über die Möglichkeit, eins meiner Bücher als filmische Oper zu adaptieren. Daher kommt zweifellos mein Wunsch, Filme zu machen: zu beobachten, wie das geschriebene Wort in eine filmische Form übergeht, die durch Körper ihren Ausdruck findet. Und das ist keine Übersetzung, sondern vielmehr eine Transformation, eine filmische Transition, eine Gendertransition, wenn man so will.

Wie sind Sie zu der jetzigen Form des Films gelangt, die sich gleich einer vielblättrigen Blume als großartige erzählerische Kollektivarbeit entfaltet?

Ich begann damit, alles, was ich über Virginia Woolf besaß, noch einmal zu lesen. Dann kam der Lockdown, und ich konnte mich so richtig in das Material vertiefen. So intensiv, dass ich mitunter das Gefühl hatte, die Einsamkeit meiner Pariser Wohnung mit Virginia Woolf zu teilen. Sobald es wieder möglich war, fuhr ich nach New York und besuchte ihr Archiv. In meiner Pariser Wohnung hatte ich aber bereits fünf Notizbücher mit Aufzeichnungen nur über sie und ihr Werk gefüllt. Das war sozusagen die Vorarbeit. Ich konnte dieses Projekt unmöglich beginnen, ohne Woolf studiert und ihre Bücher noch einmal gründlich gelesen zu haben, angefangen mit „Orlando“. Das Buch wird oft als abseitige Arbeit betrachtet, unbedeutend und exzentrisch, verglichen mit ihrem Hauptwerk „Die Wellen“ oder „Mrs. Dalloway“. Ich empfinde das Gegenteil: Das Buch, wenn ich es heute lese, wirft ein neues Licht auf ihr Œuvre. Es bildet nicht die Schwachstelle sondern die nicht sichtbare Infrastruktur. Daraus ist die Form des Films entstanden, der ein Brief an Virginia Woolf werden sollte. Woolf nahm sich 1941 das Leben, mit 59 Jahren, doch Orlando lebt weiter und ist lebendiger, als sie es sich je vorzustellen vermochte.

Trotz des Titels „Orlando, meine politische Biografie“ handelt der Film nicht von Orlando. Auch ist es keine Biografie über Paul B. Preciado. Sondern es ist eine Arbeit über die politische Dimension eines Narrativs, das Sie ernst genommen haben, als einen Mythos der sexuellen Indifferenz. Ist „Orlando“ nach dem neuerlichen Lesen für Sie weiterhin Fiktion? Oder ist es bereits gänzlich dokumentarisch?

Ich würde es nicht sexuelle Indifferenz nennen. Vielmehr wird hier ein nicht-binäres Paradigma eingeführt. Darauf lege ich großen Wert. Dasselbe gilt für die Unterteilung in Fiktion und Dokumentation. Ich wollte nicht zwischen zwei Genres wählen. Um es noch einmal zu betonen, ich wollte einen nicht-binären Film machen. Im Lauf der Geschichte ist „Orlando“ auf unterschiedliche und datierbare Weise gelesen worden. 1928 galt das Buch als Farce, als Zukunftsroman ähnlich Mary Shelleys „Frankenstein“ oder gar als Schelmenroman. In den 60er-Jahren wurde es als feministisch neuinterpretiert, als Kritik an der patriarchischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Dann, in den 80ern, wurde „Orlando“ als lesbische Erzählung gelesen, als autobiografische Schilderung der Liebesbeziehung zwischen Vita und Virginia. Heutzutage wird das Buch zunehmend in Hinblick auf trans Politik verstanden. Ich wollte eine nicht-binäre Lesart von „Orlando“ vermitteln, denn in meinen Augen ist Virginia Woolf in der Tat eine nicht-binäre Schriftstellerin. Würde sie heute leben, würde sie wahrscheinlich geschlechtsneutrale Pronomen für sich beanspruchen. Dies gibt auch Aufschluss über die jahrzehntelange Debatte, warum Virginia Woolf es generell ablehnte, sich dem naturalistischen Feminismus ihrer Zeit zu verpflichten. Ich persönlich glaube, es lag einfach daran, dass sie sich nie nur als Frau gefühlt hat. Sie passte auch in keine Ehe. Sie sah sich nie einfach als heterosexuelle Frau. Und dadurch, aus dieser exzentrischen Position heraus, ist es ihr gelungen, das damalige Spiel um Männlichkeit und Weiblichkeit so scharfsinnig offenzulegen.

Der Film webt eine Geschichte von trans Körpern, die Ende des 20. Jahrhunderts beginnt, die 50er und 70/80er durchläuft und sich dann in die zeitgenössische Geschichte einfügt…

Mit dem Film wollte ich der Versuchung widerstehen, die Gender-Transition als medizinisches, mediales oder pornographisches Spektakel zu inszenieren – man beginnt mit einem Jungen und endet mit einem Mädchen oder einer Frau. Für mich sind alle Orlandos nicht-binär. Sie sind alles gleichzeitig, sowohl Junge als auch Mädchen, und nichts von beidem. Wir mussten aufpassen, dass wir Virginia Woolf nicht binärisieren, etwa indem wir sie reflexartig in der Frauenliteratur verorten oder wie zwanghaft die Geschlechtsanpassung zeigen. Ich möchte mit dem Film eine Momentaufnahme einer Welt im erkenntnistheoretischen Wandel zeigen, den Übergang von einer binären patriarchalischen Epistemologie zu einer anderen Denkart bezüglich Subjektivität, Körper und Liebe.

Haben Sie sich als Filmemacher zunächst mit der Frage der Repräsentation beschäftigt?

Für eine trans Person ist die Frage der Repräsentation eine Frage von Leben und Tod. Die Möglichkeit, als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu gelten, als politisches Subjekt, und nicht einfach als psychisch kranke Person oder pathologischer Fall hängt stark von der Repräsentation des Körpers ab und von Subjektivität. Deshalb wird zur selben Zeit das Kino immer wichtiger, sowohl auf politischer als auch philosophischer Ebene. Orlando zu machen gab mir die Möglichkeit, mit dem normativen trans Narrativ zu brechen. Die furchterregende Deutungshoheit, die der medizinische, psychiatrische und psychoanalytische Diskurs in Sachen Körper und Sexualität für sich beansprucht hat, rührt nicht nur an das Thema trans Menschen, sondern geht uns alle etwas an. Und ich spreche hier von jüngerer Geschichte. Vor dem 19. Jahrhundert war das Narrativ um Sexualität zumindest im Westen theologisch besetzt. Der Begriff der Sexualität existierte noch nicht einmal. Man redete vom „Fleischlichen“, ein Wort, das an Versuchung und Sünde geknüpft war. Der Körper galt lediglich als Behältnis für die Seele. Doch dann betrat Ende des 18. Jahrhundert de Sade die Bühne und die Sexualität bekam ihren eigenen Platz und mit ihr das Begehren. Es war die Zeit der Freigeister, des Boudoirs, es war der große Moment der Literatur, des Wunsches nach einem Narrativ, für die Beziehung zwischen Schreiben und Verlangen. Doch es war auch der Moment der Herausbildung einer heteronormativen und kolonialen Kultur. Der Raum wurde recht schnell vom medizinischen und psychiatrischen Diskurs und von normativer Pornografie vereinnahmt. „Orlando“ interessierte mich, weil es mir die Möglichkeit eröffnete, in die Zeit vor dieser Vereinnahmung durch den medizinischen, aber auch filmischen Diskurs zurückzukehren.

Das erste Bild im Film zeigt Sie als Aktivisten…

Ja… aber ich hänge Gedichte auf! (lacht) In der Öffentlichkeit, okay. Aber mittlerweile bin ich 50 und habe mich 35 Jahre lang auf unterschiedliche Weise politisch engagiert. Vor etwa zehn Jahren habe ich die Arbeit im Kollektiv für mich beendet und bin nun in anderen u. a. musealen Bereichen aktiv. Aber ich wollte wieder einmal nicht-institutionalisierte Körper zusammenbringen. Nicht unbedingt die Körper von Künstler:innen, sondern solche, die versucht haben, ihre Geschichte zu erzählen. Hier hat sich der Film gegenüber meinen eigenen Ideen durchgesetzt. Der Film forderte die Hinwendung zum Kollektiv. Es war nicht mein erster Gedanke, sondern das Kino verlangte danach. Ich wollte nicht die einzige Person sein, die Orlando verkörpert. Ich bin nicht Orlando. Orlando ist ein politischer Horizont, eine kollektive Utopie. Ich bin im Film präsent, hauptsächlich als Voice-over. Aber die Stimme ist zugleich der Körper, entgegen den traditionellen Regeln des Kinos, wo das Bild über dem Ton steht.

Orlando sind Sie und sogleich und vor allem nicht NUR Sie…

Und deshalb habe ich nach weiteren Körpern gesucht. Und dass obwohl ich bereits Strukturen aus dem Buch übernommen und Szenen in die erste Person umgeschrieben hatte. Der wirkliche Eingriff, den der Film vornimmt, ist die Transition von der in Woolfs Text angelegten dritten Person in die erste Person, und in diesem Prozess stellte sich mir die Frage, wer welche Passage in der ersten Person sprechen könnte. Also haben wir vor zwei Jahren ein Casting abgehalten.

Ein Casting, bei dem Sie die ungewöhnliche Frage „Was ist Ihr Lieblingssatz aus Orlando?“ gestellt haben.

Ja, ich wollte eine Verbindung zwischen den Castingbewerber:innen und dem Buch. Insofern als sie ja potenzielle heutige Orlandos allen Alters waren. 100 Orlandos haben vorgesprochen. Und 27 Orlandos zwischen 8 und 70 sind schließlich im Film gelandet. Diese Vorgehensweise erlaubte es mir, zu sehen, was ihre jeweilige Beziehung zu Orlando ausmachte. Gewissermaßen begann sich der Film schon während der Sichtung der Clips selber zu schreiben. Indem die Bewerber:innen sich vorstellten und über das Buch sprachen, entwickelte er sich in eine andere, intime und zugleich politische Richtung. Ein Zusammenspiel zwischen dem, was das Buch mitbringt, seiner Umschreibung in die erste Person, und dem, was von ihnen kam.

Wie war Ihre Arbeitsweise?

Wir haben „Orlando“ gemeinsam gelesen. Und dann passierte das Unglaubliche, etwas, das mitunter in politischen Gruppen passiert: Wir haben angefangen, über uns selbst zu sprechen, über unsere Erlebnisse, aber in der Sprache Virginia Woolfs. Daraufhin hatten wir die Idee, die Gruppenarbeit als politischen Prozess zu filmen, doch sie wurde schnell verworfen: die Verletzlichkeit, die dabei zum Vorschein kam, wollte ich im Film nicht zeigen. Ich muss da an die Worte der feministischen Theoretikerin Lucy Lippard denken: „Zeige nicht den Prozess der Unterdrückung, sondern mache die Prozesse der politischen Subjektivierung (Subjektbildung) sichtbar.“ Und das ist ein großer Unterschied. Es verpflichtet dich dazu, auf jedes gezeigte Detail zu achten. Wir haben uns dann gesagt: Mit „Orlando“ werden wir gemeinsam einen Prozess der kritischen Subjektwerdung anstoßen. Und diesen werden wir filmen und sehen, was daraus entsteht. Wir mussten das Buch also abseits der Kamera lesen, in einer Lesegruppe, um uns über das Buch näher kennenzulernen. Es gab jeder einzelnen Person die Möglichkeit, den Text zu begreifen und ihn zu verinnerlichen, und zwar soweit, dass in bestimmten Momenten des Films nicht mehr klar ist, wer da eigentlich spricht: Virginia Woolf, Paul B oder eine andere trans oder nicht-binäre Person auf der Leinwand. Ich finde, wenn Ruben, einer der jüngeren trans Menschen im Film, aus „Orlando“ vorliest, oder wenn Jenny Bel’Air, eine Ikone aus der trans Bewegung in Frankreich, Orlandos Worte in der ersten Person wiederholt, erfährt das Buch tatsächlich eine Wandlung.

Wie sind Sie an die Inszinierung herangegangen? Es kommt permanent zu Umbrüchen: auf Bilder aus der Natur folgen Einstellungen, die die Tricks der Inszenierung preisgeben. Dann folgt ein weiterer Wechsel hin zu einer klassischeren dokumentarischen Machart, und schließlich endet der Film mit einer Tour de Force, der Szene auf dem Operationstisch.

Ja, am Ende hat sich dadurch auch die Art zu inszenieren verändert. Die Szenen hinter den Kulissen, die der Dekonstruktion der Repräsentation dienen, beziehen sich nicht allein auf das Kino. Die Dekonstruktion von Kino haben wir schon öfters gesehen. Sie dienen auch dazu, Gender zu dekonstruieren. Eine Montage von Körpern. Gender ist ein Montageeffekt. Ab dem 20. Jahrhundert ist Subjektivität strukturell filmisch. Die andere Sache ist, dass ich nicht auf Schönheit verzichten wollte, weil die vorherrschende Repräsentation der Gendertransition uns stets zu Monstern macht. Ich habe eine Abneigung oder sogar Wut gegenüber Filmen über trans Menschen, bei denen sich die Macher:innen berufen fühlten, Gewalt, Grusel oder Porno-gore zu zeigen und somit dem objektivierenden Blick, irgendwo zwischen Überwachung und pornografischer Exotik, Vorschub leisten. Aber es geht dabei nicht nur um Abscheu. Es ist ein nekropolitischer Blick, ein Blick, der tötet. Das geht schon seit Jahrzenten so. Das Ziel ist, trans Menschen durch Bilder zu zerstören. Eine visuelle Kultur, die einen vernichten will. Ich wollte also einen Film, der Schönheit und Punk verbindet. Ich wollte eine Schönheit, die non-binär und trans ist. Und sie musste poetisch sein. Hierbei spielte das Auge meines Kameramanns Victor Zébo eine entscheidende Rolle. Er hat es verstanden, Dinge zu zeigen, ohne sie zu objektifizieren. Er hat versucht, eine Visibilität jenseits des kolonialen und binären Blicks zu erzielen, den Körper auf die Kamera zukommen zu lassen, eine Lücke zu lassen, Freiräume zu schaffen zwischen den Blicken der Nicht-Schauspieler*innen und dem Blick der Kamera. So treten wir durch das Tor der Poesie in den Film ein, durch sinnliche Bilder, durch Licht. Denn trans Menschen sind lebendig.

Trotzdem versteckt sich der Film nicht hinter Schönheit, Poesie oder einer Utopie in Aktion. Im Zentrum des historischen Teils des Films werden auch Probleme, besonders rechtlicher Art, angesprochen – dort, wo im Archivmaterial von einem langen Kampf die Rede ist.

Um den Film zu realisieren, begann ich die filmische und mediale Repräsentation von trans Menschen zu recherchieren. Für meine Bücher hatte ich dies schon auf theoretischer Ebene erforscht. Für den Film habe ich mit einem Archivar die Archive verschiedener Fernsehsender durchforstet. Allerdings birgt die Verwendung von historischem Material das Risiko, dass es am Ende den gesamten Film verschlingt. Die Archivaufnahmen zu montieren und zu entscheiden, wo ich sie einsetze und wie viel Raum ich ihnen gebe, hat mir ermöglicht, die historische Repräsentation von trans Menschen mit dem heutigen trans Leben in Beziehung zu setzen und zu verweben.
Auch die Finanzierung war ein Thema. Ich wollte einen philosophischen Film machen, der zudem die Geschichte meiner Transition, die Geschichte der trans Community und den Roman von Virginia Woolf in sich vereint. Aber mit welchen Mitteln? Philosophie ist etwas, was man selber macht. Zeit und die eigene Intelligenz, mehr braucht man nicht, um sie zu praktizieren. Sie bietet einem ein enormes Maß an Freiheit. Filme zu machen, ist eine ganz andere Sache. Die Idee, einen Orlando zu drehen, der weder Fiktion noch reiner Dokumentarfilm ist, mit 25 Schauspieler:innen und Nicht-Schauspieler:innen, die die Titelfigur verkörpern, hat uns angesichts des schmalen Budgets vor enorme Herausforderungen gestellt. Ich habe eine riesige Maschinerie in Gang gesetzt, mit Les Films du Poisson und 24 Images, meinen Produzentinnen Annie Ohayon-Dekel und Yaël Fogiel, und dem Centre Pompidou, um mir mehr Spielraum zu verschaffen, etwa durch eine bessere Kamera, ein Studio oder mehr Zeit im Schneideraum. Ich begann, Szenen mit nur zwei Orlandos zu drehen, um zu sehen, ob es mir gelingt, einen Film unter der Prämisse zu machen, eine persönliche und kollektive Geschichte mit den Worten und Bildern von Virginia Woolf zu erzählen. Der Satz, der mir im Laufe der Filmarbeiten am häufigsten zu Ohren kam, war: „So macht man das nicht.“ Aber ich wollte es ja gerade anders machen, einen Film so drehen, wie man eine Demonstration organisiert oder ein Fanzine gestaltet. Ich habe das Feedback aus Dreh und Montage jeweils miteingearbeitet. Ich habe mich sofort für die Montage als philosophische Übung begeistert, als Mittel, die Geschichte der „Gewalt durch Bilder“ sich nicht wiederholen zu lassen, um mit Walter Benjamin zu sprechen. Der Cutter Yotam Ben David hat sehr dazu beigetragen, die Sprache und den Rhythmus des Films zu finden. Wir sind beide in der queeren Bildkultur zu Hause und wussten, was wir nicht wollten. Auch wenn wir dabei riskierten, uns von den Gesetzen der Filmerzählung zu entfernen, haben wir versucht, die vorherrschende Erzählung über Geschlechtsangleichung zu vermeiden.

Ihr Film erinnert daran, dass Christine Jorgensen (US-Amerikanerin und weltweit erste Person, von der man weiß, dass sie Anfang der 50er-Jahre in Dänemark eine geschlechtsangleichende Operation vornehmen ließ) als Cutterin gearbeitet hat.

Die trans Forscherin Susan Stryker hat mir davon erzählt. Jorgensen, die Cutterin war, hat eine Filmtheorie zur trans Subjektivität entworfen: „Trans zu sein“, sagte sie, „bedeutet zu montieren, das Recht zu haben, das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen zusammenzusetzen.“ Die heutige Subjektivität wird filmisch erzeugt. Wir sind das Resultat eines Montageprozesses. Doch dieser Effekt bezieht sich nicht nur auf die trans Identität: Subjektivität in der heutigen Zeit ist im Ganzen ein Produkt von Montage. Die Frage ist nur: Wer filmt, wer hat Zugang zu den Schneideräumen und wer entscheidet über die endgültige Fassung?

Das Interview führte Philippe Azoury am 23. Januar 2023 in Paris.

Biografie

Der Autor, Kurator und Philosoph PAUL B. PRECIADO (Regie & Buch) wurde 1970 in Spanien geboren und lebt heute in Paris. Er gilt als einer der führenden Denker im Bereich der Gender Studies und Body Politics. Unter anderem war er Kurator bei der documenta 14 und des taiwanesischen Pavillons bei der Biennale in Venedig 2019 und war Forschungsleiter des Museums für zeitgenössische Kunst in Barcelona. Seine Bücher – unter ihnen „Kontrasexuelles Manifest“ (Orig. 2000), „Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie“ (2008) und „Ein Apartment auf dem Uranus. Chroniken eines Übergangs“ (2019) – zählen zu den zentralen zeitgenössischen Texten zu queerer Theorie und Kunst und trans/nicht-binärem Aktivismus.

Credits

Crew

Regie & Buch

Paul B. Preciado

Kamera

Victor Zebo

Schnitt

Yotam Ben David

Ton

Arno Ledoux

Tonschnitt und -mix

Olivier Goinard

Musik

Clara Deshayes

Kostüme

Thomas Goudou, Caroline Spieth

Maske

Elsa Gendre, Océane Lathuillière

Casting

Naëlle Dariya

Regieassistenz

Julie Gouet, Anaïs Couette, Ugo Moulet, Anna Cohen-Yanai

Produktionsleitung

Annie Ohayon-Dekel

Produzent:innen

Yaël Fogiel, Laetitia Gonzalez, Annie Ohayon-Dekel, Farid Rezkhallah

Cast

Orlando

Oscar Miller, Janis Sahraoui, Liz Christin, Elios Levy, Victor Marzouk, Paul B. Preciado, Koriangelis Brawns, Vanasay Khamphommala, Ruben Rizza, Julia Postollec, Amir Baylly, Naëlle Dariya, Jenny Bel’Air, Emma Avena, Lillie, Arthur, Eleonore, La Bourette, Noam Iroual, Iris Crosnier, Clara Deshayes

Sasha

Castiel Emery

Psychiater

Fréderic Pierrot

Waffenverkäufer

Nathan Callot

Ärzte

Pierre et Gilles

Göttin der Hormone

Tristana Gray Martyr

Göttin des Genderfucks

Le Filip

Göttin des Aufruhrs

Miss Drinks

Rezeptionist

Tom Dekel

Richterin

Virginie Despentes

Orlandos Hunde

Rilke & Pompom

Produziert von Les Films du Poisson
koproduziert von 24images, ARTE France
unterstützt von Centre National du Cinéma et de l’Audiovisuel Région Normandie, EPROCIREP / ANGOA, Gucci, Colosé Producciones & Marrowbone
im Verleih von Salzgeber