ein Film von Tilman Urbach
Deutschland 2023, 106 Minuten, deutsche Originalfassung
Kinostart: 9. November 2023
FSK 6
Er ist einer der Urväter des europäischen Free Jazz: Seit Jahrzehnten geht Alexander von Schlippenbach seinen eigenen Weg, spielt Klavier, komponiert, leitet Bands. „Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“ zeichnet nun ein sehr persönliches Porträt, zeigt biografische Brüche, aber auch Aufbrüche. Er rekonstruiert Schlippenbachs Weg ins Musikerkollektiv der heute legendären „Free Music Production“ (FMP), für die der Free Jazz Emanzipation bedeutete – nicht nur vom musikalischen, sondern auch vom politischen Establishment. Free Jazz, so macht der Film deutlich, galt für viele als musikalische Umsetzung der 68er-Bewegung. Ein klingendes Demokratiemodell, in der alle Stimmen gleichberechtigt nebeneinanderstehen – ein Prinzip, das Schlippenbach mit seinem Globe Unity Orchestra auf die Spitze trieb, auch wenn er sich stets als Musiker und keineswegs als politischen Aktivisten gesehen hat.
Im Film trifft der Pianist alte Weggefährten wie den Trompeter Manfred Schoof. In Dresden jammt Schlippenbach mit dem Perkussionisten Günter „Baby“ Sommer und spricht mit ihm über die gemeinsamen Konzerte in der DDR, wo die Free-Jazz-Musiker:innen wie Popstars gefeiert wurden. Die Kamera begleitet Alexander von Schlippenbach auch nach Hause, wo er mit seiner Frau, der Jazzpianistin Aki Takase, eine außergewöhnliche Lebens- und Arbeitspartnerschaft lebt. Ein Einblick, der einmal mehr zeigt, dass Free Jazz vor allem eins ist: ein unbedingter Ausdruck von Radikalität, Individualität und Freiheit. Aus diesem Geist heraus bleibt Musik für Schlippenbach Haltung und Statement – und zwar bis heute.
Sein Klavier klingt so, wie ein expressionistischer Holzschnitt aussieht: Kantig und rau, ausdrucksstark, dabei von unbedingter Kompromisslosigkeit. Alexander von Schlippenbach ist einer der Urväter des europäischen Free Jazz. Seit Jahrzehnten geht er seinen ganz eigenen musikalischen Weg. Spielt Klavier, komponiert, leitet Bands. Und wird heute vor allem von jüngeren Jazzmusikern verehrt. Nicht nur in Berlin, sondern international. Dass es heute ausgerechnet in Berlin eine der virulentesten und freien Jazz-Szenen Europas gibt, ist wesentlich seinem Vorbild zu verdanken.
Dabei war Musik Schlippenbach keineswegs in die Wiege gelegt. Er entstammt einem alten gräflichen Adelsgeschlecht. Seine Vorfahren waren vor allem preußische Beamte und hohe Militärs. Als Flüchtlingskind wächst er in Bayern auf, lauscht nachts dem amerikanischen Soldatensender, entdeckt den Jazz, wird rebellisch, fliegt vom Internat. Vor der Kamera spricht Schlippenbach vom schwierigen Verhältnis zu seinem Vater, der als Wirtschaftsredakteur für „Die Welt“ arbeitete. Aber da hatte Alexander von Schlippenbach bereits die Musik für sich entdeckt.
Tilman Urbach Dokumentarfilm „Tastenarbeiter“ fragt nach solchen frühen Prägungen, legt Schlippenbachs familiäre Emanzipation frei. Er zeigt seinen Weg ins Musikerkollektiv der heute legendären Free Music Production (FMP), für die der Free Jazz nie nur klangliche Geste war, sondern Entgrenzung bedeutete – nicht nur vom musikalischen, sondern auch vom politischen Establishment. Mit den über Jahrzehnte jährlich stattfindenden „Workshops Freie Musik“ und dem „Total Music Meeting“ schrieb FMP (unter wesentlicher Mitwirkung von Schlippenbach) nicht nur Musikgeschichte, sondern auch Berliner Stadtgeschichte.
Free Jazz, so macht der Film schließlich klar, galt für viele als klangliche Umsetzung der 68er Bewegung. Ein klingendes Demokratiemodell, in der alle Stimmen gleichberechtigt gesetzt sind. Ein Prinzip, dass Schlippenbach über Jahrzehnte mit seinem Globe Unity Orchestra umgesetzt hat (auch wenn er sich stets als Musiker und keineswegs als politischen Aktivisten gesehen hat). Im Film trifft Alexander von Schlippenbach auf alte Weggefährten. Er reist nach Köln und trifft Trompeter Manfred Schoof im Studio. Sie erinnern sich an die 60er Jahre, als der Jazz frei von jeder Unterhaltungsattitude Ausdruck einer radikalen Gesellschaftsutopie war. Und sie spielen miteinander. In Dresden trifft Schlippenbach den Perkussionisten Günter „Baby“ Sommer und spricht mit ihm über die zahlreichen gemeinsamen Konzerte, die die Free-Jazzer in der DDR hatten, wo sie gefeiert wurden wie Popstars. Dort begriffen tausende von Fans den Free Jazz als unmittelbaren Ausdruck der Freiheit. In Borken zeigt der Labelchef Jost Gebers sein FMP-Archiv und entdeckt Fotos und Bandaufnahmen aus Schlippenbachs früher Zeit.
Die Kamera beobachtet Alexander von Schlippenbach nicht nur Zuhause, wo er in Moabit mit seiner Frau, der Jazzpianistin Aki Takase lebt, sondern auch auf Tour. Dennoch versteht sich der Film „Tastenarbeiter“ keineswegs als reiner Musikfilm oder als Konzertfilm, sondern konzentriert sich auf die biografischen Brüche, Enttäuschungen, aber auch auf die Aufbrüche, die es im Leben von Schlippenbach gegeben hat – und gibt! Schließlich macht der Dokumentarfilm deutlich, dass Free Jazz stets mehr war als blindes Drauflos-Spielen und macht gleichzeitig ein gesellschaftliches Panorama auf, das das freie Spiel zeitlich einordnet. Aus diesem Geist heraus ist Musik für Schlippenbach bis heute Haltung und Statement.
Fasziniert hat mich die Radikalität in der Musik von Alex von Schlippenbach schon immer. Mit der Zeit wollte ich wissen: Wer ist dieser Mensch? Was treibt ihn an? Wie kann man als Musiker so konsequent ohne Wenn und Aber an seiner ganz persönlichen musikalischen Vision, die eine gehörige Portion Freiheit transportiert, arbeiten? Und davon leben? Über Jahrzehnte? Immerhin macht Alex keine Musik, die sich einschmeichelt oder dem Hörer nach dem Ohr redet!
2005 besuchte ich ihn zum ersten Mal in seiner Moabiter Altbauwohnung, die beinahe vollständig von Musik besetzt ist. Da ist das enge, mit Schaumstoff austapezierte Übungszimmer, in der der große Flügel steht. Und in dem man sich kaum bewegen kann. Da ist die Bücher- und Plattensammlung, die den ganzen Flur besetzt hält. Da ist der große Esstisch im dunklen Berliner Zimmer samt Kachelofen. Davor der Plattenspieler. Und ich begriff nicht erst im Gespräch, dass Alex ebenso kompromisslos tickt wie seine Musik klingt. Das kommt bisweilen knorrig rüber. Vielleicht ein wenig kauzig, ist aber keineswegs humorfrei.
Im Film sollte es um ihn gehen, nicht nur als Musiker, sondern vor allem um seine Person. Er entstammt einem alten Adelsgeschlecht und fegt diese Information gleich wieder vom Tisch. Unwichtig! Aber von Anfang an hatte er Probleme mit seinem Vater, der sich für seinen Sohn weiß Gott einen anderen Beruf als den des Musikers gewünscht hatte. Eines Jazzmusikers – das schon gar nicht! Alex gibt schon früh den Bad Boy, verliebt sich in den Jazz, hockt verbotenerweise nächtelang vor dem Radio. Horcht den amerikanischen Soldatensender, fliegt vom Internat. Kann sich nicht eingliedern. Gerät in die Zeit der Studentenunruhen, ist Gründungsmitglied des Label-Kollektivs FMP. Lebt und spielt die neue Freiheit. Scheitert schließlich an den individuellen Ziehkräften seiner Mitstreiter. Und bleibt sich in seiner Musik doch treu. Frei nach dem Motto: Love it or leave it! Und das bis heute!
AKI TAKASE gehört zu den profiliertesten Jazzpianist:innen weltweit. Sie ist seit über 40 Jahren mit Alexander von Schlippenbach verheiratet; seitdem bilden sie nicht nur eine Lebens- sondern auch eine Arbeitsgemeinschaft. Sie treten zusammen als vierhändiges Duo an einem Flügel auf. Und sie haben neben ihren Soloprojekten einige musikalische Projekte zusammen gestemmt: Sie traten mit der Bigband des HR auf, um mit „Echoes of Ellington“ dem schwarzen Hero des Jazzpianos Tribut zu zollen. Mit „Slow Pieces for Aki“ ist ein Soloalbum von Schlippenbach erschienen. Es geht auf Anregung von Aki Takase zurück, die ihren Mann aufforderte, einmal ganz leise und atmend langsam zu spielen. Herausgekommen ist nichts weniger als eine klingende Liebeserklärung.
GÜNTER „BABY“ SOMMER wurde als freier Perkussionist zur Legende. In der DDR war er eine der Gallionsfiguren der von der Stasi stets misstrauisch beäugten Jazz-Szene. Zu Tausenden strömten die Fans zu den Konzerten und fassten die energiegeladene Musik als Protest gegen den allmächtigen Staat und als klingendes Synonym der gesellschaftlichen Freiheit auf. Im Film erinnert sich „Baby“ gemeinsam mit Schlippenbach an die gemeinsame Zeit in der DDR, wo sich die beiden auch außerhalb der Konzertbühne anfreundeten.
MANFRED SCHOOF hat ein langes Musikerleben hinter sich, in dem er sowohl als international anerkannter Jazz-Trompeter arbeitete, als auch Musik für die „Sendung mit der Maus“ und für die Kinder-Serie „Der Spatz vom Wallrafplatz“ schrieb. Schlippenbach lernte Schoof in den 1960ern in Köln kennen, wo die beiden an der Kölner Musikhochschule bei dem Avantgardekomponisten Bernd Alois Zimmermann studierten. Beide haben an der Uraufführung dessen epochalen Oper „Die Soldaten“ mitgewirkt. Schoof gilt wie Schlippenbach als einer der Väter der westdeutschen Jazzszene. Im Film treffen sich die beiden in Köln und jammen nach langer Zeit wieder zusammen.
DAGMAR GEBERS und JOST GEBERS arbeiteten zusammen für das unabhängige Jazzlabel FMP (Free Music Production), das 1969 von Schlippenbach, Brötzmann, Kowald und Gebers in Westberlin gegründet wurde, um die eigenen Produktionsmittel kontrollieren zu können. Jost Gebers, der zunächst als Bassist zur Free-Jazz-Szene gehörte, übernahm schon bald die Bookings, organsierte ganze Konzertreihen (u.a. das lange jährlich parallel zur den Berliner Jazztagen stattfindende „Total Music Meeting“) und machte sich um die DDR-Jazzszene verdient, die er mit amerikanischen und westdeutschen Musiker:innen auf Tourneen in Ostdeutschland zusammenführte und auf Tonträgern dokumentierte. Dagmar Gebers hat mit ihren Musikerfotos so ziemlich die gesamte optische FMP-Anmutung mitgestaltet. Beide haben die Verwerfungen um FMP, die Mitte der 1970er schließlich zur Auflösung des Musikerkollektivs führten, miterlebt und erzählen im Film davon.
VINCENT VON SCHLIPPENBACH (alias DJ ILLVIBE) ist der Sohn von Alexander von Schlippenbach und arbeitet als Musiker sowohl im Hip-Hop- als auch im Experimental-elektronischen Bereich. Einige Projekte haben ihn bereits mit Aki Takase und Alexander von Schlippenbach musikalisch zusammen gebracht (z.B. „Lok 03 + 1“). Im Film gehen die Drei ins Studio. Vincent von Schlippenbach erinnert sich an seine Kindheit und erzählt, wie die Musikalität des Vaters seine Kindheit geprägt hat.
TILMAN URBACH (Regie & Buch), Jahrgang 1961, arbeitet seit 1995 als Filmemacher für das Bayerische Fernsehen, Arte und 3Sat. Seitdem entstanden zahlreiche Dokumentationen über Kulturthemen. 2010 gründete er zudem seine eigene Filmfirma Modofilm und produzierte seinen ersten Autorenfilm „Verloren“, der von der FBW das „Prädikat wertvoll“ erhielt. Der zweite Kurzspielfilm „Border-Line“ hatte 2013 auf den Hofer Filmtagen Deutschlandpremiere. Sein Dokumentarfilm über den Maler Gotthard Graubner wurde ein Jahr später auf den 48. Hofer Filmtagen gezeigt und kam in die deutschen Kinos. 2017 feierte der Dokumentarfilm „Josef Urbach – Lost Art“ als sein dritter Film auf den Hofer Filmtagen Uraufführung. Er kam im Herbst 2018 ins Kino.
Filmografie (Auswahl):
2010
„Verloren“ (KF)
2013
„Border-Line“ (KF)
2014
„Gotthard Graubner – Farb-Raum-Körper“
2017
„Josef Urbach – Lost Art“
2023
„Tastenarbeiter – Alexander von Schlippenbach“
Regie & Buch
Tilman Urbach
Kamera
Marcus Schwemin, Justin Urbach
Schnitt
Gaspard Gillery
Musik & Komposition
Alexander von Schlippenbach
Tonaufnahme, Sounddesign & Mischung
Rainer Lux
Digitale Postproduktion & Color Grading
isar film Produktion GmbH
Postproduktions-Supervisor
Simon Janik
Producerin
Nele Urbach
Eine Produktion von Modofilm, Tilman Urbach,
in Koproduktion mir isar film Produktion GmbH, Simon Janik,
im Verleih von Salzgeber